Menü

Plädoyer für einen arbeitnehmerorientierten Politikentwurf Soziale Gerechtigkeit ist Trumpf

Die Sozialdemokratie fährt Achterbahn. Anfang des Jahres sorgte der neue Kanzlerkandidat und Vorsitzende Martin Schulz noch für gute Laune. Er stritt mit großem Erfolg für mehr soziale Gerechtigkeit und Demokratie. Zwischenzeitlich wollte in bundesweiten Umfragen fast jeder Dritte SPD wählen. Damit schien das Rennen um das Kanzleramt wieder offen. Anschließend verlor die SPD drei Landtagswahlen – darunter die in der sozialdemokratischen Herzkammer Nordrhein-Westfalen. Seitdem ist ein Teil der Anfangseuphorie wieder verflogen.

Die jüngsten Wahlschlappen sind aber nicht einer falschen inhaltlichen Ausrichtung der Bundespartei – Schwerpunkt soziale Gerechtigkeit – geschuldet. Im Gegenteil: Die soziale Frage ist brandaktuell. Armutslöhne, unsichere Arbeitsverträge, steigende Mieten und eine schlechte Absicherung der großen Lebensrisiken verschlechterten die Arbeits- und Lebensverhältnisse von Millionen Menschen. Gleichzeitig fürchtet sich die gesellschaftliche Mitte vor dem sozialen Absturz. Folglich entscheiden Gerechtigkeitsfragen wieder Wahlen.

Die SPD hatte lange Zeit das Problem, dass sie nicht mehr als natürlicher Anwalt der sozial Benachteiligten und abhängig Beschäftigten galt. Nicht einmal jeder Dritte traute den »roten Strolchen«, wie die Sozialdemokraten in einem Comic zur Wahl 1994 satirisch bezeichnet wurden, in Gerechtigkeitsfragen noch etwas zu. Die Mehrheit der Arbeitnehmer wählte nicht mehr sozialdemokratisch. Dieser dramatische Vertrauensverlust begann bekanntlich mit der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der Regierung von Gerhard Schröder. Die damalige Entwertung und Entgrenzung menschlicher Arbeit hinterließ tiefe Spuren im kollektiven Gedächtnis sozialdemokratischer Arbeitnehmermilieus. Die politische Förderung schlecht entlohnter und unsicherer Arbeit, Hartz IV und die Rentenkürzungen verletzten das Gerechtigkeitsempfinden vieler ehemaliger Stammwähler. »Für viele alte SPD-Wähler und viele SPD-Sympathisanten war die Agenda eine Austrittserklärung: eine Austrittserklärung der SPD aus ihrer eigenen Geschichte als Partei der kleinen Leute«, so Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung.

Weder die inhaltliche Neuaufstellung der Sozialdemokratie bei den Bundestagswahlen 2013 noch ihre soziale Handschrift in der großen Koalition – Stichworte: Mindestlohn, Rente mit 63, Bekämpfung des Missbrauchs von Leiharbeit und Werkverträgen – konnten das verlorene Vertrauen zurückgewinnen. Kein Wunder! Zerstörtes Vertrauen wieder aufzubauen braucht Zeit. Zudem war und ist die Re-Sozialdemokratisierung der SPD ein schwieriger Hindernislauf. Zwar setzte die SPD in jüngster Zeit auf die richtigen sozialen Themen, da die Partei aber seit 1998 bis auf eine Legislaturperiode in Regierungsverantwortung war, hatte sie viele soziale Problemlagen, die sie skandalisierte, selbst zu verantworten.

Darüber nicht zu reden war keine Lösung. Nicht alle Wähler hatten ein politisches Kurzzeitgedächtnis. Zudem sorgte die politische Konkurrenz dafür, dass die Vogel-Strauß-Strategie nicht aufging. So zu tun, als hätten die Folgen des eigenen Handelns nicht vorhergesehen werden können, funktionierte ebenfalls nicht. Schließlich warnten die außer- und innerparteilichen Kritiker der sogenannten Reformen schon sehr früh vor den sozialen Gefahren und Risiken. Fatal war und ist der Versuch, die sozialen Verwerfungen vermeintlich naturgesetzlichen Gewalten wie der Globalisierung, dem demografischem Wandel oder der Digitalisierung in die Schuhe zu schieben. Wenn Politik nicht mehr gestalten kann, ist sie überflüssig. Glaubwürdig war nur ein klares Eingeständnis politischer Fehlentscheidungen. Martin Schulz tat genau das, indem er die kurze Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I kritisierte und die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung forderte. Fehler zu machen sei nicht ehrenrührig. Wenn jedoch Fehler erkannt würden, müssten sie korrigiert werden, so der neue sozialdemokratische Hoffnungsträger.

Korrektur oder Abkehr von der Agenda 2010?

Wie stark Schröders Arbeitsmarkt- und Sozialreformen korrigiert werden müssen, ist jedoch umstritten. Während die einen sich mit kosmetischen Eingriffen zufriedengeben, fordern andere eine völlige Neuorientierung. Die veröffentlichte Meinung schreibt der Agenda-Politik noch immer segensreiche wirtschaftliche Wirkungen zu. Dieser neoliberalen Lesart folgend, bereiteten die »Reformen« den Boden für den heutigen Aufschwung.

Die Erzählung von den wirtschaftlich notwendigen und sozial schmerzhaften Reformen besteht aber keinen Praxistest. Die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze schufen kein Wachstums- und Jobwunder. Die deutsche Konjunktur nahm zwar 2006 wieder Fahrt auf, dieser Wachstumsschub hatte aber nichts mit entfesselten Arbeitsmärkten zu tun. Der Aufschwung stützte sich vielmehr auf eine sehr hohe Auslandsnachfrage. Zwischen 2002 und 2008 verdoppelten sich die weltweiten Investitionen. Davon profitierte besonders die deutsche Industrie.

Der vermeintliche Beschäftigungsboom sprengte nie den Rahmen einer gewöhnlichen Konjunkturerholung. Nach den »Reformen« stieg die Beschäftigung – unter Beachtung der ungleichen Dauer der Aufschwünge – nicht stärker als vor den »Reformen«. Die Jobrekorde sind maßgeblich darauf zurückzuführen, dass vorhandene Arbeit zu prekären Bedingungen umverteilt wurde. Wenn Unternehmen Vollzeitstellen in Teilzeit- oder Minijobs umwandeln, freuen sich die Statistiker der Nürnberger Bundesagentur für Arbeit. Die Erwerbstätigkeit stieg von 39 (2005) auf 43,5 Millionen (2016). Das aktuelle Arbeitsvolumen – die Zahl der bezahlten Arbeitsstunden – ist hingegen nicht rekordverdächtig. Von Rostock bis München wird heute nicht mehr gearbeitet als vor 25 Jahren. Zwischen Agenda-Politik und Jobwachstum respektive sinkender Arbeitslosigkeit gab es einen zeitlichen aber keinen kausalen Zusammenhang.

Der Streit um die ökonomischen Wirkungen der Arbeitsmarkt- und Sozialreformen ist für die SPD keine nutzlose Vergangenheitsbewältigung. Es geht vielmehr um ein sozialdemokratisches Grundverständnis wirtschaftlicher Zusammenhänge. Im Mittelpunkt steht der Arbeitsmarkt. Die Agenda-Politik beruhte auf einer betriebswirtschaftlichen Sicht der Wirtschaft. Die volkswirtschaftliche Logik wurde ausgeblendet.

Der Arbeitsmarkt funktioniert aber nicht wie ein Kartoffelmarkt, wo der Preis – sprich der Lohn – das Angebot und die Nachfrage bestimmt. Die betriebliche Nachfrage nach Arbeitskräften hängt nicht, wie von neoklassischen Ökonomen unterstellt, von der Höhe des Reallohns ab. Die Unternehmen investieren, wenn es ihre Auftragslage erfordert. Der Güter- und nicht der Arbeitsmarkt entscheidet darüber, wie sich die Beschäftigung entwickelt. Aus volkswirtschaftlicher Sicht schaffen sinkende Löhne und Lohnnebenkosten keine neuen Jobs. Lohnkürzungen drosseln nur die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und lassen die Arbeitslosigkeit steigen. Diese negativen wirtschaftlichen Folgen konnten hierzulande nur zu Lasten des Auslands abgewendet werden. Die hohen deutschen Export- und Leistungsbilanzüberschüsse legen davon Zeugnis ab.

Doch damit nicht genug. Auf dem Arbeitsmarkt begegnen sich Beschäftigte und Arbeitgeber nie auf Augenhöhe. In kapitalistischen Volkswirtschaften führt der Erwerbsarbeitszwang dazu, dass sich die Arbeitnehmer per e in einer schlechteren Verhandlungsposition befinden. Wenn die Löhne sinken, können die Beschäftigten nicht einfach weniger arbeiten und warten bis die Löhne wieder steigen. Ein Job- und Wohnortwechsel ist aufgrund beruflicher Spezialisierung, familiärer Bindungen, sozialer Netze und Wohneigentum nur für Wenige eine Alternative. Folglich müssen die Beschäftigten länger arbeiten oder zusätzliche Tätigkeiten ausüben, um ihr Einkommen zu sichern. Das Überangebot an Arbeitskraft drückt auf die Löhne.

Dieses Machtungleichgewicht kann durch gewerkschaftliche Organisierung, durch Tarif- und Arbeitsrecht sowie Sozialtransfers ausgeglichen werden. Nur so lässt sich verhindern, dass die Gewinne den Löhnen nicht davonlaufen, die Ungleichheit wächst und die gesamtwirtschaftliche Nachfrage nicht vom Fleck kommt. Das erfordert aber eine arbeitnehmerorientierte und gesamtwirtschaftliche Sicht auf die Ökonomie. Ein solcher Bruch mit dem neoliberalen Mainstream geht über eine Detailkritik an einzelnen Arbeitsmarktreformen hinaus. Er ist sogleich notwendige Voraussetzung für eine fortschrittliche Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.

Eine Neuordnung des Arbeitsmarktes ist weiterhin dringend geboten. Der gesetzliche Mindestlohn war ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Das reicht aber nicht aus. Jetzt müssen die Tarifverträge gestärkt werden. Heute kommt das, was Gewerkschaften aushandeln, nur noch bei drei von fünf Beschäftigten an. Die Tarifbindung erodiert. Während Arbeitgeberverbände und konservativ-liberale Politiker das deutsche Tarifsystem in Sonntagsreden über den grünen Klee loben, werden sie schmallippig, wenn es konkret wird. Hier sollte die SPD Vorschläge machen, wie die Verhandlungsposition der Beschäftigten gesetzlich gestärkt werden kann.

Sozialdemokratische Arbeitsmarktpolitik sollte reguläre Beschäftigung fördern und unsichere, schlecht entlohnte Jobs stärker diskriminieren. Minijobs sollten voll sozialversicherungspflichtig, Leiharbeit gleich bezahlt und sachgrundlose Befristungen verboten werden. Eine Abschaffung der Zumutbarkeit würde verhindern, dass Arbeitslose weiterhin gering bezahlte Jobs annehmen müssen. Zudem könnten Tarifverträge verbindlicher gemacht werden. Dafür müssten auslaufende Verträge so lange nachwirken, bis sie durch neue Kontrakte abgelöst werden. Des Weiteren könnten die Tarifvertragsparteien rechtlich privilegiert werden. Darüber hinaus sollte die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen weiter erleichtert werden, sodass Tarifverträge auch für nicht verbandsgebundene Unternehmen gelten. Ferner dürften der Staat und seine öffentlichen Unternehmen nur noch Tarifverträge abschließen.

Einen Kurswechsel brauchen wir auch in der Sozialpolitik. Das gilt besonders für die Rentenpolitik. Die SPD hat die Zukunft der Altersvorsorge zum Wahlkampfthema gemacht. Das ist gut so. Die drohende Rückkehr der Altersarmut ist aber nicht nur Spiegelbild eines entfesselten Arbeitsmarktes, sondern auch Folge der Rentenpolitik des letzten Jahrzehnts. Die sogenannten Rentenreformen der letzten Bundesregierungen führten zu massiven Leistungskürzungen. Durch die Absenkung des Rentenniveaus auf 43 % bis zum Jahr 2030 droht künftig Millionen Menschen ein würdeloses Altern. Wer monatlich 2.500 Euro brutto hat, muss heute mehr als 36 Jahre in die Rentenkasse einzahlen, um später nicht auf dem Sozialamt zu landen. Bei einem Rentenniveau von 43 % müsste derselbe Arbeitnehmer bereits 40 Jahre arbeiten, um später nicht auf Grundsicherung angewiesen zu sein. Da jeder zweite sozialversicherte Beschäftigte weniger als 2.500 Euro bezieht, droht künftig Millionen Rentnern der Gang zum Sozialamt. Soll die gesetzliche Rente künftig wieder vor Armut schützen und den Lebensstandard sichern, so muss das gesetzliche Sicherungsniveau angehoben werden. Dafür muss die Rentenformel korrigiert werden. Ein höheres Rentenniveau allein reicht aber nicht aus, um Altersarmut zu verhindern. Zeiten der Arbeitslosigkeit, Kindererziehung, Aus- und Weiterbildung, Pflege sowie gering entlohnte Erwerbsphasen sollten rentenrechtlich aufgewertet werden. So werden Menschen mit gebrochenen Erwerbsbiografien besser vor Altersarmut geschützt.

Armutsfeste und lebensstandardsichernde Renten sind auch in Zeiten des demografischen Wandels finanzierbar. Zwar müssen in Zukunft weniger Beschäftigte mehr Rentner versorgen. Wenn aber weniger Beschäftigte künftig mehr Waren und Dienstleistungen erzeugen, können wir dank der steigenden Arbeitsproduktivität auch einen höheren Wohlstand im Alter genießen. Höhere Renten erfordern natürlich auch höhere Beiträge. Letztere gefährden aber weder Wachstum noch Jobs.

Politik- und Machtwechsel

Die SPD steht im Vorfeld der Bundestagswahlen 2017 vor großen Herausforderungen. Sie muss auf die zunehmende soziale Spaltung der Gesellschaft überzeugende Antworten geben. Wer einen Gerechtigkeitswahlkampf führen will, muss sich im Klaren darüber sein, dass Wirtschaft und Sozialstaat keine Gegensätze sind. Wer hingegen glaubt, dass ein »verkrusteter Arbeitsmarkt«, hohe Steuern und Sozialabgaben der Wirtschaft schaden, der kann sich und andere nicht für eine umfassende Re-Regulierung des Arbeitsmarktes, einen Ausbau des Sozialstaates oder Reichensteuern begeistern.

Die SPD braucht in diesen ökonomischen Fragen eine klare Haltung. Die kritische Auseinandersetzung mit der Agenda-Politik war ein guter Anfang. Jetzt sollte die Abkehr von neoliberalen Argumentations- und Deutungsmustern folgen. Die Partei des sozialen Fortschritts benötigt eine Renaissance gesamtwirtschaftlichen – sprich: keynesianischen – Denkens. Sonst droht im Wahlkampf ein Zickzackkurs, der zu Lasten der politischen Glaubwürdigkeit geht. Realpolitische Kompromisse mit Koalitionspartnern und dem Arbeitgeberlager wird es später noch genug geben. Ein arbeitnehmerorientierter Politikentwurf wird natürlich heftigen Widerstand aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Medien hervorrufen. Wer jedoch die Arbeits- und Lebensbedingungen einer breiten Bevölkerungsmehrheit verbessern will, braucht diesen Gegenwind nicht zu fürchten.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben