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© picture alliance/Christophe Petit Tesson/MAXPPP/dpa

Zwischen Widerstand und Anpassung, Konfrontation und Kooperation Soziale Protestbewegungen

Für den argentinischen Philosophen und Populismusforscher Ernesto Laclau kann eine Bewegung nur zur Hegemonie gelangen, wenn es ihr gelingt, unterschiedliche Forderungen diverser Akteure zu bündeln und auf einen Generalnenner zu bringen. Dieser »leere Signifikant« (z. B. »mehr Gerechtigkeit«) ist offen für Interpretationen und gerade deswegen das Vehikel, mit dem sich eine heterogene Masse als »das Volk« konstituiert. Der normative Haken bei Laclau ist allerdings, dass sich eine Führungsperson herausschälen muss, die als Verkörperung dieses konfliktüberwölbenden Projekts auftritt und mit ihrem Prestige oder ihrem Charisma die Einheit in Vielfalt garantiert. Ohne Führungsperson keine Hegemonie. Es zeigt sich indessen, dass, angefangen bei den Occupy-Wallstreet-Protesten von 2011, neuere Bewegungen eher führerlos auftreten und allenfalls Sprachrohre unterschiedlicher Fraktionen und Richtungen kennen.

Revolte der Geringverdienenden in Frankreich

Springen wir ohne weitere Vorrede hinein ins volle Leben der Protestbewegungen und nehmen wir die französischen Gelbwesten, eine auf Facebook initiierte Bewegung, von der noch unklar ist, ob man sie eher links oder rechts verorten kann. Steht sie in der Tradition der Jacqueries, der spontanen Bauernaufstände im 14. Jahrhundert, oder eher in der Tradition der Sansculotten während der Französischen Revolution von 1789? Kann sie mit den Unruhen in den Pariser Banlieues von 2005 verglichen werden, als sich die »Volkswut« mit brennenden Autos und eingeschlagenen Schaufensterscheiben manifestierte? Der damalige Präsident Nicolas Sarkozy rief den Ausnahmezustand aus und versprach medienwirksam den Einsatz eines Hochdruckreinigers der Marke »Kärcher«, um dem Spuk ein Ende zu bereiten. Oder handelt es sich um eine Wiederkehr des Poujadismus aus den 50er Jahren, einer Protestbewegung von »kleinen Leuten« (Ladeninhabern und Handwerkern) in Südwestfrankreich, die für kurze Zeit nationale Bedeutung erlangte?

Bei den Gelbwesten kann bisher nur als sicher gelten, dass diese Menschen die Nase voll haben, und das schon seit Langem. Sie haben keine politischen Ansprechpartner, keine Repräsentanten für ihre materiellen Sorgen und finden weder Anerkennung noch Respekt. Im Sommer 2018 bedurfte es nur einer kleinen Initialzündung, der Onlinepetition der jungen Einzelunternehmerin Priscilla Ludosky gegen die Erhöhung der Dieselsteuer, um eine Protestbewegung gegen die Politik von Präsident Emmanuel Macron zu initiieren, die sich wie ein Lauffeuer landesweit und sogar in den Überseeterritorien verbreitete.

Macron sorgte sich um die Ökologie, aber sorgte er sich auch um die Menschen, die er mit beispielloser Arroganz verhöhnte oder lächerlich machte? Jobs zu finden sei doch in Frankreich kein Problem. Man müsse nur die Straße überqueren und finde in den Cafés umgehend Arbeit als Tellerwäscher, die ja bekanntlich der erste Schritt auf dem Weg zum Millionär ist. Aber manche Leute seien einfach ein Nichts, zu dumm, zu ungebildet, ohne Initiative, ein lästiges, stets nur forderndes Pack. Nach einigen Tagen der Überlegung, ob er draufschlagen oder nachgeben solle, folgte das Mea culpa. Ja, er habe manch einen mit seinen forschen Tönen »verletzt« und leiste Abbitte. Einige Zugeständnisse wurden gemacht, aber von der Wiedereinführung der »Reichensteuer«, der Impôts de la solidarité sur la fortune (ISF), also der Solidaritätssteuer für Großverdiener war nicht die Rede, obwohl bekannt ist, dass die Reichen trotz Steuersenkungen keineswegs, wie erhofft, in die französische Wirtschaft investieren.

Seither wird gerätselt, wer denn diese Gelbwesten sind und was sie wollen. In der bisher noch führerlosen Bewegung gibt es keine offiziellen Sprecher. Der LKW-Fahrer Eric Drouet, einer der Initiatoren der Bewegung, gilt als medialer Favorit. Andere bekannte Gelbwesten sind Gabelstaplerfahrer, Krankenschwestern, Hausmeister, Schmiede, Hausfrauen, pendeln zwischen Minijobs und Arbeitslosigkeit oder produzieren in Kleinstfirmen Apfelsaft für den lokalen Markt. Im November 2018 wurde die erste sozialwissenschaftliche Untersuchung auf der Basis von 166 Fragebögen veröffentlicht, die an die Besetzer von Straßenrondells oder Mautstationen verteilt worden waren. Sie kam zu dem Ergebnis, es handele sich um eine Revolte der Geringverdiener, darunter fast die Hälfte Frauen, mit niedrigen oder mittleren Bildungsabschlüssen (Le Monde, 12.12.2018). Nur zwei der 166 Befragten nannten die Immigration als Problem. Auch eine an der Universität Toulouse durchgeführte Untersuchung der Beiträge von Gelbwesten auf Facebook und Twitter fand keine Belege für Rassismus, wohl aber eine Diskrepanz zwischen dem realen Auftreten der Gelbwesten und ihrer Darstellung in den führenden Medien. Nachdem etliche Meinungsmacher schnell bei der Hand waren, die Gelbwesten als rechtsextrem zu stigmatisieren, muss dies wohl differenzierter gesehen werden. Wie bei allen transversalen sozialen Bewegungen versuchen aber linke wie rechte Kräfte, die Bewegung für sich zu vereinnahmen.

Wenn Elan und Engagement nach inzwischen mehrmonatigen Straßenbesetzungen und Demonstrationen nicht einfach verebben sollen, muss die Frage beantwortet werden, wie es weitergehen kann. Drei Handlungsszenarien stehen im Raum: Erstens, materielle und psychologische Zugeständnisse des Präsidenten und Symbolpolitik wie die »nationale Debatte«, um die Bewegung zu entschärfen, bis sie sich totläuft. Zweitens, die Vereinnahmung des Wählerpotenzials der Gelbwesten durch die Linke oder, eher noch, durch die extreme Rechte, die unter dem Vorsitz von Marine Le Pen seit Langem die »soziale Frage« entdeckt hat. Drittens, die Transformation der Bewegung in eine eigene Partei »jenseits von rechts und links«. Erste Schritte in diese Richtung gingen von der Krankenpflegerin Ingrid Levavasseur aus. Zu den nächsten EU-Wahlen wollte sie mit der proeuropäischen Partei RIC (Ralliement dʼinitiative citoyenne, Sammlung der Bürgerinitiativen) antreten. Obwohl sich RIC noch im Embryonalzustand befand und Levavasseur inzwischen aufgegeben hat, war unter anderen Gelbwesten schon von Opportunismus, von Verrat und eigenmächtigem Vorpreschen die Rede; Levavasseurs Initiative sei nicht repräsentativ für die Bewegung. Aber wer kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt für sich beanspruchen, die Gesamtheit der Gelbwesten zu repräsentieren?

Spagat zwischen Unnachgiebigkeit und Pragmatismus

Andere, nicht mehr ganz so junge politische Protestbewegungen haben sich zwar als Partei konstituiert, befinden sich aber dennoch in einer Formierungs- und Gärungsphase. Wenn sie nicht von vornherein eine Ein-Punkt-Initiative bleiben wollen, müssen sie zu einem Spagat ansetzen, der halsbrecherisch enden kann. Mit einem Bein müssen sie sich institutionalisieren, die Spielregeln des parlamentarischen Systems akzeptieren und Kompromisse eingehen, mit dem anderen müssen sie in den außerparlamentarischen Bewegungen verankert bleiben, um über den Druck »der Straße« ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Institutionalisierung gilt den einen als notwendige Bedingung für längerfristige Stabilität und Machterhalt, den anderen gilt sie als Verrat an den Maximalzielen.

Dazu zwei Beispiele: die als rechtspopulistisch geltende deutsche AfD und die als linkspopulistisch etikettierte spanische Podemos. Nach dem Austritt der Co-Vorsitzenden Frauke Petry, die auf rasche Beteiligung an der Macht gedrängt hatte, ist der sogenannte »Flügel« um den thüringischen Politiker Björn Höcke zur dominanten Parteiströmung in der AfD aufgestiegen. 2015 als informeller Zusammenschluss der Rechtsnationalen entstanden, ist der »Flügel« eng mit der Bewegung Pegida und dem Institut für Staatspolitik um den Publizisten und Verleger Götz Kubitschek verbunden. Kontakte der AfD-Jugendorganisation (Junge Alternative, JA) zu den rechtsextremen Identitären haben inzwischen auch den Verfassungsschutz auf den Plan gerufen. Höcke, der in seinen Reden gern als Sprachrohr des intellektuellen Stichwortgebers Kubitschek und des AfD-Hausphilosophen Marc Jongen auftritt, prangert immer wieder »die Halben« an, denen es an Unnachgiebigkeit mangele, die nicht das Endziel – den Systemwechsel – vor Augen hätten, sondern sich mit einem Linsengericht zufrieden gäben: mit der Beteiligung an der Parlamentsarbeit um den Preis von Kompromissen, Anpassung und »Verbürgerlichung«.

Die spanische Podemos steht ideologisch in diametralem Gegensatz zur AfD. Strukturell durchläuft sie aber den gleichen Konflikt zwischen Partei und Bewegung, Intransigenz und Pragmatismus. Artikuliert sich dieser Konflikt bei der AfD zwischen Rechtsnationalen und Liberalkonservativen, so bei Podemos zwischen den Anhängern einer »Klassenlinie«, vertreten durch den Parteivorsitzenden Pablo Iglesias, und einer »populistischen Linie«, vertreten von Íñigo Errejón. Wegen eines bündnispolitischen Konflikts in der Region Madrid legte dieser sein Parlamentsmandat für Podemos nieder, blieb aber Mitglied der Partei, auch wenn Iglesias erklärte, mit seiner Option habe sich Errejón selbst aus der Partei ausgeschlossen. Beeinflusst von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe hatte Errejón für einen linken Populismus auf der Basis eines breiten Volksbündnisses plädiert. Worum geht es dabei? Auf der einen Seite um eine Klassenkampfstrategie (Iglesias) unter Einschluss antikapitalistischer Gruppierungen, auf der anderen um einen klassenübergreifenden (interklassistischen) Weg zu einer patriotischen Volkspartei (Errejón), also letztlich um Sozialdemokratisierung. Nach den fulminanten Erfolgen von Podemos 2014 wähnte sich der »Klassenflügel«, getragen von der Bewegung der »Empörten« (Indignados), im Aufwind der Geschichte und machte sich Hoffnungen, die kriselnde sozialdemokratische Partei PSOE (Partido Socialista Obrero Español) zu überrunden. Der Wind der Geschichte blies aber zunehmend in eine andere Richtung, auf die Podemos nicht vorbereitet war: Mit Gründung der rechtsliberalen Partei Ciudadanos und dem Erfolg der rechtsextremen Partei Vox in Andalusien, wo sie die jahrzehntelange Vorherrschaft der Sozialdemokraten brechen konnte, nicht zuletzt auch mit den katalanischen Autonomiebestrebungen und der Regeneration der PSOE geriet Podemos in schweres Fahrwasser. Iglesias reagierte mit Parteiausschlüssen, Säuberungen der Parteikader und der Zerschlagung von Seilschaften. Die politische Zukunft Errejóns und seiner Strategie eines vereinten Volkes im Unterschied zur vereinigten Linken ist dagegen offen.

Populismusforscher wie Philip Manow, die südeuropäische Länder als Hort des Linkspopulismus analysieren, geraten in Erklärungsnöte, warum ausgerechnet in Spanien, das doch immun gegen den Rechtspopulismus zu sein schien, mit Vox auch die dortige extreme Rechte erfolgreich ist. Und warum in Italien weit und breit kein Linkspopulismus in Sicht ist, dafür aber eine rechte Koalition zwischen der Lega und der vorschnell linkspopulistisch genannten Fünf-Sterne-Bewegung die Regierung bildet. Oder warum die linke griechische Syriza ausgerechnet mit der rechtspopulistischen Kleinpartei »Unabhängige Griechen« (Anel) koaliert.

Nach nur fünf Jahren liegt Podemos zwar nicht in Scherben, ist aber angeschlagen und von internen Querelen und persönlichen Animositäten geschwächt. Ebenfalls nach nur fünf Jahren schickt sich die AfD an, nicht mehr nur auf Immigration, Islamophobie und EU-Kritik zu setzen, sondern sich auch der »sozialen Frage« anzunehmen. Ob dabei mehr herauskommt als eine »soziale Heimatpartei« nach Art der FPÖ, die unter der Hand kräftig am Sozialabbau mitwirkt, bleibt abzuwarten. Rechts wie links gilt: Im Kampf zwischen den Unnachgiebigen und den »Halben« (Höcke) geht es nicht nur um Strategien des Machterwerbs, sondern um die Identität als Herausforderer des »Systems«. Nicht zuletzt geht es aber auch um Karrierechancen, Postenschacher und den verlockenden Duft der Fleischtöpfe der Macht. Oder um den Rückfall in die Marginalität und politische Bedeutungslosigkeit.

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