Demokratie am Arbeitsplatz ist konstitutiv für die soziale Marktwirtschaft in Deutschland und in der Europäischen Union (EU). In allen Mitgliedstaaten der EU haben sich in den jeweiligen historisch-politischen Kontexten unterschiedliche Formen demokratischer Beteiligung der Arbeitnehmer*innen am Arbeitsplatz aus dem Zusammenspiel von kollektivem Arbeitsrecht und tarifvertraglichen Regelungen entwickelt. Darüber hinaus sind die sozialen Grundrechte wie das Recht auf Kollektivverhandlungen und auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer*innen in der EU-Grundrechtecharta (seit 2009 rechtsverbindlicher Bestandteil der EU-Verträge) verankert.
»Umkämpftes Terrain zwischen Arbeit und Kapital.«
Stets waren die sozialen Grundrechte ein umkämpftes Terrain zwischen Arbeit und Kapital. Im Kern geht es um die demokratischen Beteiligungsrechte der Beschäftigten zur Gestaltung humaner Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten, gute Ausbildung, faire Löhne und damit um die Einschränkung der Verfügungsmacht von Arbeitgebern und Kapitaleignern zugunsten der abhängig Beschäftigten. Demokratie am Arbeitsplatz ergänzt unsere politische Demokratie, mit der gemeinhin freie Wahlen, Koalitionsrecht, Versammlungs- und Pressefreiheit sowie freie Meinungsäußerung assoziiert werden. Als Gestaltungsprinzip der sozialen Marktwirtschaft machen Mitbestimmungs- und Partizipationsrechte »Arbeitnehmer*innen zu Bürger*innen im Betrieb«.
Gerade in Zeiten der wohl tiefgreifendsten Transformation der Wirtschaft seit der ersten industriellen Revolution, die zu weitreichenden Veränderungen in der Arbeitswelt führen wird, kommt der demokratischen Beteiligung der Beschäftigen in den Betrieben und Unternehmen eine große Bedeutung zu. Sie macht Unternehmen resilienter und stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wer am Arbeitsplatz mitentscheiden kann, wer seine Interessen berücksichtigt findet und damit Selbstwirksamkeit erfährt, der hat auch eine positivere Einstellung zur politischen Demokratie und ist weniger anfällig für autoritäre und populistische Positionen. Somit gilt: Die Gestaltung der ökologischen Transformation, der europäische Green Deal – mit dem selbstgesetzten Anspruch »nobody should left behind« – braucht eine Stärkung und den Ausbau demokratischer Beteiligungs- und Mitbestimmungsrechte.
Komplementär zu den nationalen Arbeitnehmerrechten wurden seit Mitte der 80er Jahre in der EU rund 40 Gesetze (Richtlinien) verabschiedet, die einen robusten Arbeitsrechtsrahmen für die Unterrichtung, Anhörung und Mitwirkung der Arbeitnehmer*innen festlegen und für die Beschäftigten in vielen Mitgliedstaaten deutliche Verbesserungen gebracht haben. Die meisten davon sind in der Öffentlichkeit wenig bekannt, haben aber für die Demokratie am Arbeitsplatz Bedeutung. Dazu gehören zahlreiche Richtlinien im Bereich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, mit denen Sicherheitsstandards und Arbeitsbedingungen deutlich verbessert wurden. Des Weiteren ist die Richtlinie zu Massenentlassungen zu erwähnen, die den Betriebsräten verbindliche Mitwirkungsmöglichkeiten einräumt.
»Während Unternehmen grenzüberschreitend operieren, machten die Beteiligungsrechte an nationalen Grenzen halt.«
Die Richtlinie zur Einrichtung Europäischer Betriebsräte (EBR) ist dafür ein besonderes Beispiel. Während viele Unternehmen seit Jahrzehnten grenzüberschreitend operieren, machten die Beteiligungsrechte der Beschäftigten an den nationalen Grenzen halt. Seit 1996 haben die nationalen Betriebsräte in etwa 1.200 multinationalen Konzernen die Möglichkeit zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, um Interessen ihrer Belegschaften europäisch zu vertreten. Das bedeutet zwar noch keine transnationale Mitbestimmung in der EU, war aber ein erster wichtiger Schritt zur Demokratisierung der Unternehmen.
Ein zweiter Schritt wurde 2001 mit der EU-Richtlinie zur Europäischen Aktiengesellschaft (SE) erzielt. Mitbestimmung auf Unternehmensebene ist keine deutsche Besonderheit, wie vielfach von den Arbeitgebern behauptet. Sie existiert, wenn auch in unterschiedlichen Formen, in der Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten. Die Verankerung und Absicherung nationaler Regeln zur Unternehmensmitbestimmung im europäischen Gesellschaftsrecht, das heißt bei der Umwandlung von Unternehmen in eine europäische Rechtsform, war über zwei Jahrzehnte umkämpftes Terrain.
Impulse für die Stärkung der Demokratie am Arbeitsplatz
Die rasanten Veränderungen in der Arbeitswelt durch Digitalisierung und Dekarbonisierung machen ein Update sozialer Grundrechte der Beschäftigten zur Sicherung und Weiterentwicklung der Demokratie am Arbeitsplatz dringend erforderlich. Nach einem weitgehenden Stillstand beim Ausbau der Arbeitnehmerrechte auf europäischer Ebene seit Beginn der Nullerjahre wurde mit der Verabschiedung der »Säule sozialer Rechte« 2017 eine beachtliche Reformdynamik in Gang gesetzt. Darin werden 20 Grundsätze für ein soziales Regelwerk für Europa umrissen, zu deren Umsetzung die EU-Kommission 2021 einen Aktionsplan verabschiedet hat.
Dazu gehört auch die 2022 verabschiedete Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der EU, die bis Herbst 2024 in nationales Recht umgesetzt werden muss. Darin werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, die Tarifbindung schrittweise auf mindestens 80 Prozent zu erhöhen. Bei einer Tarifbindung in Deutschland von zurzeit nur noch 52 Prozent wäre das ein enormer Fortschritt. Vor dem Hintergrund der Wechselwirkung mit verbrieften Mitbestimmungsrechten bedeutet eine Stärkung der Tarifbindung zugleich eine Stärkung der Demokratie am Arbeitsplatz.
Es geht im Kern darum, die sozialökologische Transformation gerecht zu gestalten.
Das Europäisches Parlament (EP) und der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA, Beratungsorgan der Zivilgesellschaft in der EU) haben mehrfach die Stärkung der Demokratie am Arbeitsplatz gefordert. So beispielsweise im Bericht des EP über »Demokratie am Arbeitsplatz: europäischer Rahmen für Mitbestimmungsrechte von Arbeitnehmer und Überarbeitung der Richtlinie über Europäische Betriebsräte« (2021) und die EP-Entschließung zur Überarbeitung eben dieser (2023). Auch der EWSA hat sich wiederholt für die Stärkung der demokratischen Beteiligung am Arbeitsplatz ausgesprochen. Zuletzt in der Stellungnahme »Demokratie am Arbeitsplatz« für die spanische EU-Ratspräsidentschaft im April 2023. Spanien hatte das Thema ganz oben auf die Agenda ihrer EU-Präsidentschaft gesetzt. Dabei ging es im Kern um die Frage, wie der europäische Arbeitsrechtsrahmen weiterzuentwickeln sei, um die sozialökologische Transformation gerecht zu gestalten.
Mit großer Mehrheit spricht sich neben dem EP auch der EWSA für eine Reform der EBR-Richtlinie aus, mit dem Ziel, die Rechte der Arbeitnehmervertreter und Gewerkschaften vor allem bei Umstrukturierungsprozessen im Rahmen der sozialökologischen Transformation zu stärken. Die Forderung an die Europäische Kommission, zeitnah einen Reformvorschlag zu unterbreiten, um eine effektive Durchsetzung europäischer Arbeitnehmerrechte voranzutreiben, war nicht folgenlos. Ende Januar hat sie unter Federführung des Luxemburger Sozialkommissars Nicolas Schmit (Europäischer Spitzenkandidat der Sozialdemokratischen Partei Europas; SPE) einen Vorschlag mit Substanz präsentiert.
Mitbestimmungsverweigerung bekämpfen
Mit Blick auf die Mitbestimmung in europäischen Gesellschaftsformen hat die Mitbestimmungsvermeidung seit den Nullerjahren nach Untersuchungen der Hans-Böckler-Stiftung dramatisch zugenommen. Daher fordert der EWSA sicherzustellen, dass nationale Mitbestimmungsrechte abgesichert werden und nicht durch europäische Gesellschaftsformen ausgehöhlt werden.
Die Ampelkoalition ist mit dem Anspruch angetreten, mehr Fortschritt zu wagen. Im Koalitionsvertrag heißt es: »Die sozialökologische Transformation und die Digitalisierung kann nur mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wirksam gestaltet werden.« Um die gleichberechtigte Teilhabe der Beschäftigten sicherzustellen soll die Tarifbindung gestärkt, die Behinderung von Mitbestimmung erschwert und die missbräuchliche Umgehung der Unternehmensmitbestimmung durch das europäische Gesellschaftsrecht verhindert werden. Das sind wichtige Verabredungen, die rasch umgesetzt werden müssen. Der DGB und seine Gewerkschaften haben vor langer Zeit konkrete Vorschläge auf den Tisch gelegt. Dazu gehört ein beachtlicher Entwurf für ein modernes Betriebsverfassungsgesetz. Es war Olaf Scholz, der 2018 zur Geschichte des Betriebsverfassungsrechts treffend vermerkte, dass jeder Schritt zu mehr Mitbestimmung auch einen Schritt zur Stärkung der Demokratie darstellt.
Demokratischer Fortschritt ist auch auf europäischer Ebene möglich und nötig. Eine zügige Reform der Europäischen Betriebsräterichtlinie – bei der es um Verbesserungen der Mitwirkungsrechte und größere Rechtsklarheit geht – wäre ein solches Signal und sollte von der Bundesregierung unterstützt werden. Die Belgier haben eine solche Reform für ihre EU-Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2024 auf die Agenda gesetzt. Die Chance sollte genutzt werden.
Zwischen fairen und demokratieförderlichen Arbeitsbedingungen und der politischen Demokratie gibt es ein klares Ergänzungsverhältnis (Axel Honneth). Partizipation am Arbeitsplatz macht unsere Demokratie widerstandsfähiger und stärkt die Resilienz der Unternehmen in Krisenzeiten. Lasst uns mehr Demokratie am Arbeitsplatz wagen, für eine gerechte Gestaltung der sozialökologischen Transformation und Stärkung der sozialen Demokratie in Europa.
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