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Sozialpolitik – die Achillesferse der AfD

Für die AfD hat Sozialpolitik einen geringen Stellenwert. Nicht zufällig rangiert das entsprechende Kapitel im jüngsten AfD-Bundestagswahlprogramm nur auf Platz elf (von insgesamt 15), gefolgt nur noch von den Abschnitten zur Gesundheitspolitik, zur Energiepolitik, zur Verkehrs-, Bau- und Infrastrukturpolitik sowie zur Umwelt- und Agrarpolitik. Sozialpolitik bildet die Achillesferse der AfD: Hier wird deutlicher als auf jedem anderen Politikfeld, dass sie keineswegs die »Partei der kleinen Leute« ist, wie ihr Ehren- und Fraktionsvorsitzender Alexander Gauland behauptet. Ebenso wie ihre Forderung nach Abschaffung der Vermögen- und Erbschaftsteuer sowie der Komplettabschaffung des Solidaritätszuschlags weisen ihre dunklen Finanzquellen sie als Partei des großen Geldes aus.

Solidarität beschränkt sich in der AfD-Programmatik auf die Mitglieder der eigenen »Volksgemeinschaft«, Nation, »Rasse« oder Religion. Wirklich human kann eine Position zum Wohlfahrtsstaat allerdings nur genannt werden, wenn sie allen Menschen unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft, Hautfarbe und religiösen Überzeugung prinzipiell die gleichen sozialen Rechte zugesteht. Wer in diesem Zusammenhang von »exklusiver Solidarität« spricht, verkennt außerdem, dass die AfD den (Flucht-)Migranten die ihnen eigentlich zustehenden Sozialleistungen nicht etwa verweigern will, um mehr Finanzmittel für deutsche Bedürftige zu reservieren und den Wohlfahrtsstaat in deren Interesse auszubauen. Vielmehr richten sich ihre Ressentiments sowohl gegen die »Asylschmarotzer« aus der sogenannten »Dritten« oder »Vierten Welt« wie auch gegen die »Sozialschmarotzer« der einheimischen Unterschicht.

Statt sich für die sozial Benachteiligten und Bedürftigen einzusetzen, tragen AfD-Politiker zu ihrer Stigmatisierung bei. So sprach der niedersächsische Bundestagsabgeordnete Thomas Ehrhorn am 13. Juni 2018 von »regelrechten Hartz-IV-Dynastien«, die schon in der zweiten oder dritten Generation von Sozialtransfers lebten und auch gar nichts anderes wollten, sondern es vielmehr ganz normal fänden, sich vom Staat haushalten zu lassen. Da war es auch nicht weiter verwunderlich, dass sich Ehrhorn in der Nacht vom 4. auf den 5. April 2019 an gleicher Stelle gegen eine pauschale Rehabilitierung von KZ-Häftlingen aussprach, die das NS-Regime als » Asoziale« eingestuft hatte. Sozialpolitische Maßnahmen wie eine Kindergrundsicherung setzt Ehrhorn mit »Umverteilung von den Produktiven zu den Unproduktiven« gleich, und den Sozialstaat betrachtet er als Vorhof zum Sozialismus, geschaffen für alle, die »den schönen Traum vom leistungslosen Wohlstand« träumten.

Armut – bloß ein »Ausländerproblem« und »Importprodukt«?

Am 19. April 2018 hielt der Nürnberger AfD-Bundestagsabgeordnete Martin Sichert eine Grundsatzrede zum Armutsproblem, in der er dieses als Resultat der europäischen Integration einerseits sowie der Arbeits- und Fluchtmigration andererseits darstellte. Sichert knüpfte hieran die Forderung nach einer Rückbesinnung auf »deutsche Interessen« und Wiederherstellung der nationalen Souveränität. Hauptverursacherin der zunehmenden Armut in Deutschland sei laut Sichert die EU. Deutschland brauche demnach ein Ende der EZB-Nullzinspolitik, damit die Menschen wieder für ihr Alter vorsorgen könnten, ein Ende des Euro, weil dieser ihren Wohlstand vernichte, sowie ein Ende der angeblichen Arbeitnehmerfreizügigkeit, dank derer »Scheinarbeitnehmer aus Osteuropa ins deutsche Sozialsystem einwandern« könnten.

Auf den Skandal, dass Südosteuropäer wie Bulgaren und Rumänen als Leih- bzw. Werkvertragsarbeiter etwa in Schlachthöfen unter sklavenähnlichen Bedingungen und zu Hungerlöhnen tätig waren, ging Sichert nicht ein. Er tat so, als sei die aufgrund der Wohnungsnot und explodierender Mieten zur Mitte der Gesellschaft vordringende Armut kein hausgemachtes, vielmehr ein aus Osteuropa und unterentwickelten Ländern der sogenannten »Dritten« oder »Vierten Welt« eingeschlepptes Problem.

Die in Deutschland bestehende Verteilungsschieflage geriet aus dem Blickfeld, weil Flüchtlinge – das Feindbild der Rechtspopulisten schlechthin – einmal mehr zu Sündenböcken gemacht wurden. Durch die Kulturalisierung und Ethnisierung sozialer Probleme lenkt die AfD von der sozialen Polarisierung unseres Landes ab, in der Armut ein strukturelles und kein bloß individuelles oder »Ausländerproblem« ist. Denn sie trifft Menschen unterschiedlicher Staatsangehörigkeit, ethnischer Herkunft und Religion.

Bei der AfD tritt an die Stelle der erforderlichen Solidarität mit den Armen und sozial Ausgegrenzten die geradezu mystifizierte Souveränität des »eigenen« Nationalstaates. Anstatt eine die Armut bekämpfende und den Lebensstandard von Mittelschichtangehörigen sichernde Sozialpolitik zu verfolgen, handelt die AfD unsozial, wenn sie ausgerechnet dort für »Einsparungen« plädiert, wo Arbeitnehmer, Erwerbslose und Rentner von Leistungskürzungen getroffen werden. Dabei ist es für die AfD ein wahrer Spagat, denjenigen Angehörigen der gehobenen Schichten, die sich als übermäßig zur Kasse gebetene Steuerzahler empfinden, ihre Entschlossenheit zu einem radikalen »Um-« beziehungsweise Abbau des Sozialstaates zu signalisieren und sich zugleich als glaubwürdige Interessenvertreterin der Arbeitslosen, Armen und sozial Ausgegrenzten zu profilieren.

Obwohl sich die AfD als politisches Sprachrohr der abhängig Beschäftigten und als Schutzmacht der Unterprivilegierten inszeniert, widerstrebt ihr die finanzielle Unterstützung von sozial Benachteiligten und Bedürftigen. In der ersten Haushaltsdebatte, die sie als Vorsitzende der größten Oppositionsfraktion traditionsgemäß eröffnete, erklärte Alice Weidel am 16. Mai 2018 im Bundestag: »Während die Infrastruktur dieses Landes zerfällt, der Staat seine Bürger nicht mehr schützen kann, fließen Abermilliarden in die Aufnahme und Alimentierung illegaler Einwanderer und in die Sozialsysteme.« Hatte sie eben noch kritisiert, dass zu viel Steuergeld in die Sozialsysteme fließe – mit Abstand am meisten davon übrigens in die Gesetzliche Rentenversicherung –, beklagte Weidel unmittelbar im Anschluss daran, dass in spätestens 20 Jahren jeder fünfte Rentner auf die Grundsicherung im Alter angewiesen sein werde. Offenbar ignorierte Weidel, die über das Rentensystem in der Volksrepublik China promoviert, aber die Funktionsweise der hiesigen Rentenversicherung offenbar nicht begriffen hat, den Kausalzusammenhang zwischen einer guten finanziellen Ausstattung des Sozialstaates und einer wirksamen Armutsbekämpfung.

Häufig schürt die AfD den Sozialneid nach unten, indem sie unterprivilegierte Gruppen wie Geringverdiener und Transferleistungsbezieher gegeneinander ausspielt. Uwe Witt, arbeits- und sozialpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion, sagte am 16. Mai 2019 in der Debatte über einen Antrag seiner Partei zur Senkung der Sozialabgaben für Durchschnitts- und Geringverdiener: »Teilweise geht es Bürgern, die von Sozialleistungen leben, besser als der arbeitenden Bevölkerung im Niedriglohnbereich.«

Arbeitnehmerrechte wie den Kündigungsschutz, gesetzliche Mindestlöhne und Mitbestimmungsregelungen betrachtet die AfD als »Wettbewerbsnachteile« für die deutsche Wirtschaft. Auch eine Ausbildungsplatzabgabe lehnte Martin Sichert am 26. September 2019 als »weitere Gängelung von Unternehmen« ab. Bedenken hat die AfD sogar gegenüber der Mietpreisbremse, die ihr bayerischer Bundestagsabgeordneter Peter Boehringer in einer Haushaltsdebatte am 14. September 2018 zweimal als »durch und durch sozialistisches Konzept« bezeichnete.

Noch stärker opponierte die AfD gegen den von SPD, der Partei DIE LINKE und Bündnis 90/Die Grünen am 30. Januar 2020 im Berliner Abgeordnetenhaus beschlossenen Mietendeckel. Für die AfD ist der Wohnungsmarkt »ein Markt wie jeder andere«, wie sich ihr nordrhein-westfälischer Bundestagsabgeordneter Udo Hemmelgarn am 10. April 2019 ausdrückte. Dort sei die Nachfrage zuletzt gestiegen, ohne dass die Bundesregierung etwas für die Angebotsseite getan habe: »Im Gegenteil: Die unsinnigen Vorgaben der Energieeinsparverordnung haben das Bauen teuer und für Investoren unattraktiv gemacht.« Für die AfD bilden »Flüchtlingsströme« und »illegale Masseneinwanderung« seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts das Schlüsselthema, mit dem sie alle übrigen Themenkomplexe in Verbindung zu bringen sucht. Hemmelgarn machte denn auch die Zuwanderung von Geflüchteten für die Misere auf dem Wohnungsmarkt verantwortlich und rief der Bundeskanzlerin zu: »Frau Merkel, nehmen Sie den Migrationsdruck von den Wohnungsmärkten und sichern Sie endlich die Grenzen!«

Immobilienkonzerne verteidigt die AfD gegen Pläne, die Spekulation mit Wohnraum und eine weitere Mietenexplosion durch Maßnahmen der Vergesellschaftung nach Art. 15 GG einzudämmen versuchen. So erklärte Martin Sichert am 10. April 2019 im Bundestag unter dem Beifall seiner Fraktion, die Partei werde alles tun, um Enteignungen zu verhindern: »Abgesehen davon, dass Enteignung ein massiver Eingriff in die Grundrechte ist, verschärft Enteignung das Problem der Wohnungsnot. Wenn die Investoren befürchten, enteignet zu werden, dann investieren sie folglich ihr Geld lieber an anderer Stelle.«

Auch nachdem sich die AfD gehäutet, radikalisiert und zwei Parteivorsitzende – Bernd Lucke und Frauke Petry – vergrämt hat, besteht sie aus zwei Gruppierungen mit unterschiedlicher Ausrichtung, zwischen denen ihr nationalkonservatives Zentrum um Alexander Gauland vermittelt. Während die Neoliberalen um den Parteisprecher Jörg Meuthen und die Fraktionsvorsitzende Alice Weidel den »Wirtschaftsstandort D« stärken und alle Gesellschaftsbereiche der Markt-, Konkurrenz- bzw. Standortlogik unterwerfen wollen, spricht der völkisch-nationalistische »Flügel« um den thüringischen Landes- und Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke mit »sozialpatriotischen« Positionen verstärkt jene Angehörigen der (unteren) Mittelschicht an, die Angst vor dem sozialen Abstieg haben. Dabei stützt er sich gleichfalls auf die Irrlehren neoliberaler Ökonomen, die den Sozialstaat zurechtstutzen möchten. So behauptete Höcke in einem Interview der Thüringischen Landeszeitung (21.7.2014): »Wir haben in den vergangenen Jahren unseren Sozialstaat zu sehr aufgebläht. Auf Dauer werden wir – vor allem vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung – Abstriche am Sozialstaat in der bisherigen Form machen müssen.«

Auf einer Kundgebung in Schweinfurt sprach der thüringische AfD-Politiker am 28. April 2016 von einer »neuen sozialen Frage«, die zum Schlüsselthema der Zukunft werde: »Die soziale Frage der Gegenwart ist nicht primär die Verteilung des Volksvermögens von oben nach unten, unten nach oben, Jung zu Alt oder Alt zu Jung. Die neue deutsche soziale Frage des 21. Jahrhunderts ist die Frage der Verteilung des Volksvermögens von innen nach außen.« Statt den Oben-unten-Gegensatz zu thematisieren, konstruiert Höcke einen Innen-außen-Gegensatz. Die sich gerade in Deutschland seit geraumer Zeit vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich ignoriert er und hält Umverteilung daher für verzichtbar.

Weil sich die AfD in erster Linie bemüht Stimmung gegen die »Altparteien« zu machen, bleiben ihre eigenen Positionen vage und verschwommen. Im siebten Jahr ihres Bestehens hat die AfD immer noch kein Rentenkonzept. Auf ein solches müssen sich ihre Delegierten auf einem Sozialparteitag im April 2020 erst noch verständigen. Während der wirtschaftsliberale Flügel die gesetzliche Rentenversicherung abwickeln und die Altersvorsorge privatisieren möchte, hält der völkisch-nationalistische Flügel am bestehenden Rentensystem fest, möchte es allerdings durch eine steuerfinanzierte, nur Deutschen gezahlte Staatsbürgerrente ergänzen. Das nationalkonservative Parteizentrum wiederum vertritt ein familialistisches Rentenkonzept, das Kinderlose benachteiligen und sie zur finanzmarktabhängigen Altersvorsorge zwingen würde. Überzeugen kann keiner der genannten Ansätze.

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