Der Ausbau der Kindertagesbetreuung in Deutschland zählt zu den erstaunlichen sozialstaatlichen Reformen der letzten Jahre. In breitem gesellschaftlichen Konsens entstanden in Westdeutschland innerhalb von 15 Jahren eine halbe Million neue Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren; selbst in Ostdeutschland stiegen – trotz der langen Tradition der Krippenbetreuung zu DDR-Zeiten – die Betreuungsquoten seit der Jahrtausendwende wieder an. Inzwischen ist der Kita-Besuch für Zweijährige in Deutschland zur Normalität geworden. Im Westen besucht mehr als die Hälfte der Kinder dieses Alters eine Kindertageseinrichtung oder geht zu einer Tagesmutter; im Osten sind es sogar über 85 %.
Die Dynamik dieser Entwicklung, so die These dieses Beitrags, ist auch eine Folgeerscheinung der deutschen Wiedervereinigung. Anders ausgedrückt: Wäre die Mauer im Jahr 1989 nicht gefallen, gäbe es vermutlich im Westen der Republik noch heute einen größeren Mangel an Kita-Plätzen. Oder allgemeiner formuliert: Die alte Frage, was vom sogenannten »Realsozialismus« bleibt, findet bei diesem Thema eine erstaunliche Antwort: Ja, die ehemalige DDR wirkt in manchen Politikfeldern unerwartet nach. Mag sein, dass dazu auch eine größere Sympathie für autoritäre Strukturen und die AfD gehören; daneben aber ergab sich nach der Wiedervereinigung ein sozialstaatlicher Entwicklungsschub, der in den Folgejahren den westdeutschen Kita-Sektor – zumindest quantitativ – erfasst hat.
Diese These soll im Folgenden in drei Schritten entfaltet werden: Am Anfang steht ein Gedankenspiel, das sich dank verschiedener, eher zufällig im rechten Moment erfolgter politischer Entwicklungen plausibel darstellen lässt; dabei sollen einige unerwartete Nebenwirkungen der Wiedervereinigung erkennbar werden. Dem folgt als Kontrast ein diskursgeschichtlicher Blick auf die (Nicht-)Wahrnehmung der DDR-Familienpolitik in der Zeit nach der Wiedervereinigung. Der Beitrag endet mit einem Versuch, diese beiden – auf den ersten Blick widersprüchlichen – Entwicklungen zusammenzufügen.
Die Wiedervereinigung als Chancenproduzent
Zunächst also das Gedankenspiel: Wie hätte sich die Kindertagesbetreuung – also Kindergärten und Kinderkrippen, kurz: Kitas – in einem Deutschland ohne Wiedervereinigung entwickelt? Spekulative Fragen wie diese lassen sich normalerweise nur auf Basis von allerlei Annahmen beantworten, die man dann mit wissenschaftlichem Ernst diskutieren oder gleich zu einem utopischen Roman verarbeiten kann. Bei unserem Thema hingegen erlaubt die Historie zumindest für den Kindergarten (also die Einrichtung für die Altersgruppe der 3‑ bis 6‑Jährigen) eine einigermaßen genaue Abschätzung. Der für unser Gedankenexperiment wichtige Ausgangspunkt liegt in dem Zeitraum zwischen August 1988 und November 1989. Damals brachten westdeutsche Bundes- und Landespolitiker eine seit Jahrzehnten geplante Reform des Jugendhilferechts auf den Weg. Der Referentenentwurf für das neue Gesetz, entwickelt im Sommer 1988 in der Amtszeit von Bundesfamilienministerin Rita Süßmuth (CDU), enthielt einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ab dem dritten Geburtstag eines Kindes.
Diese Regelung, wenn sie denn verabschiedet worden wäre, wäre durchaus mutig gewesen. Denn in vielen westdeutschen Kommunen lag der Bedarf der Eltern an Kindergartenplätzen weit über dem damaligen Angebot. Wie groß der Ansturm der Familien nach Einführung eines Rechtsanspruchs gewesen wäre, ließ sich damals zwar nicht schätzen; Städte und Gemeinden wussten allerdings, dass wegen des dann notwendigen Kindergarten-Ausbaus erhebliche Kosten auf sie zukommen würden. Außerdem passte der geplante Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz schlecht zum Weltbild zahlreicher konservativer Unionspolitiker. Ernst Albrecht, damals niedersächsischer Ministerpräsident, intervenierte im Bundesfamilienministerium und drohte mit Gesetzesblockade im Bundesrat. Albrecht war übrigens der Vater der späteren Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen, die im Jahr 2007 den jüngsten Kita-Ausbau durchsetzte.
Nach kurzen, heftigen Diskussionen im Frühjahr 1989 hatte sich Albrecht gemeinsam mit zahlreichen überwiegend männlichen Gegnern einer höheren weiblichen Erwerbstätigkeit durchgesetzt: Der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz wurde aus dem Gesetzentwurf gestrichen; es blieb bei einer allgemeinen Hilfeverpflichtung des Staates. Der Kindergarten war aus dieser westdeutschen Sicht – das Gesetz passierte am 27. September 1989 das Bundeskabinett, wenige Wochen vor dem Fall der Mauer – immer noch »Nothilfe« und kein sozialstaatlicher Anspruch, den man sämtlichen Kindern und Eltern gewähren wollte.
Nun sind politische Weichenstellungen wie diese normalerweise auf etliche Jahre hinaus wirksam: Ein einmal beschrittener Pfad wird so schnell nicht verlassen. In diesem Fall war das anders. Schon zwei Jahre nach der Wiedervereinigung konnten west- und ostdeutsche Frauen- und Familienpolitikerinnen das Thema erneut auf der Agenda des nunmehr gesamtdeutschen Bundestags platzieren, allerdings – hier wird schon ein erster Zusammenhang mit der Wiedervereinigung erkennbar – im Kontext der Reform des § 218: Diese Reform war notwendig, weil die Regelungen im Abtreibungsrecht Ost und Abtreibungsrecht West weit auseinanderlagen; gesucht wurde ein Kompromiss zwischen Fristenlösung und Strafverfolgung, welcher »den Schutz ungeborenen Lebens besser gewährleistet, als dies in beiden Teilen Deutschlands derzeit der Fall ist«, so die damalige Formulierung im Einigungsvertrag.
Gestützt auf diese Legitimation und auf das Argument, dass Kindergärten junge Mütter unterstützen und deshalb wohl auch zum Schutz ungeborenen Lebens beitragen, beförderten Politikerinnen mehrerer Parteien den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz erneut in den Gesetzentwurf. Und diesmal war das Vorhaben erfolgreich. Eher nebenbei und im turbulenten Verfahren zum § 218 kaum bemerkt, wurde der Kindergarten-Rechtsanspruch 1992 verabschiedet, wobei die ostdeutschen Abgeordneten des Bundestags zum Abstimmungserfolg einiges beitrugen, in dem sie bei der namentlichen Abstimmung im Bundestag der Neuregelung weit überwiegend zustimmten.
Der Rechtsanspruch trat 1996 in Kraft, zunächst noch mit Übergangsfristen, ab 1999 dann ausnahmslos im ganzen Land. Man kann dies als Ergebnis einer Kausalkette betrachten: ohne Wiedervereinigung keine Reform des § 218; ohne Reform des § 218 kein Kindergarten-Rechtsanspruch, ohne Rechtsanspruch kein massiver Ausbau der Kindergartenkapazitäten im Westen. Das Gedankenspiel legt somit nahe, dass die Wiedervereinigung einen deutlichen Anteil daran hatte, das Kita-Thema wieder auf die Agenda zu holen.
Mit ein wenig politischer Fantasie kann man auch behaupten, dass diese Reform der 90er Jahre eine notwendige Voraussetzung für den späteren Ausbau der Betreuungseinrichtungen für Ein- und Zweijährige war, wie er in den Jahren 2004 und 2008 bundesgesetzlich verankert wurde: In einem Land ohne Kindergarten-Rechtsanspruch braucht man über einen Ausbau der Krippen für Kleinkinder gar nicht erst nachzudenken. Ein Blick in die – wohlfahrtsstaatlich durchaus ähnlichen – Nachbarländer Österreich und Schweiz deutet ebenfalls in diese Richtung: Beide Staaten hatten in den 80er Jahren ähnlich schmal ausgebaute Systeme der frühkindlichen Betreuung wie die alte Bundesrepublik. Doch nur in Westdeutschland erfolgte der Ausbau schnell und umfassend; Österreich und die Schweiz sind noch heute bei diesem Thema viel zurückhaltender.
Die Abgrenzung zur DDR
Dennoch, diese Zusammenhänge kann man lediglich im Nachhinein konstatieren; sie zählten nicht zu den damaligen zeitgenössischen Wahrnehmungen. Im Gegenteil: In deutschen familien- und kindheitspolitischen Debatten der 90er und Nullerjahre ging es gerade nicht darum, ob der Westen etwas vom Osten lernen könne. Die Signale standen nicht auf wohlwollender Wahrnehmung der DDR-Sozialgeschichte, sondern auf maximaler Abgrenzung. Gut beobachten lässt sich das beim Elterngeld, einer Lohnersatzleistung in den ersten 12 bis 14 Lebensmonaten eines Kindes, die im Jahr 2006 von einer schwarz-roten Bundesregierung eingeführt wurde. Vergessen war, dass knapp zwei Jahrzehnte zuvor die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung ebenjene Leistung der DDR, die dort als »Babyjahr« firmierte, per Einigungsvertrag abgeschafft hatte.
Im Nachhinein staunt man, dass dies in den familienpolitischen Debatten der Nullerjahre nicht aufgegriffen wurde: Das DDR-Babyjahr gelangte nicht in die öffentliche Wahrnehmung, zumindest nicht im Westen. Eine autobiografische Anekdote mag das illustrieren: Als ich 2005, damals westdeutscher Tageszeitungsjournalist, bei einem Verantwortlichen im Bundesfamilienministerium anfragte, ob das geplante Elterngeld möglicherweise einen Vorläufer im Babyjahr der DDR habe, ließ der Ministerialbeamte recherchieren und faxte bald eine Antwort: »In der DDR gab es seit 1976 ein bezahltes Babyjahr. Schweden hat bereits 1974 einen Elternurlaub auf Versicherungsbasis eingeführt.« Man kann sich ausmalen, wie sich der Mann im Ministerium den Schweiß von der Stirn wischte und zu seiner Kollegin sagte: »Puh, Schweden, nicht DDR. Nochmal gutgegangen.« Skandinavien konnte auch hier wie in einigen anderen Bereichen als Blaupause für die deutsche Familienpolitik dienen – die DDR jedoch keinesfalls.
In der Zusammenschau entsteht also ein seltsames Bild. Einerseits spricht vieles für die hier entwickelte These, die Wiedervereinigung sei eine notwendige (wenngleich gewiss nicht hinreichende) Voraussetzung für den beschleunigten Ausbau der Kindertagesbetreuung in Deutschland gewesen. Aber die beliebte Metapher vom »Katalysator« hat auch ihre Berechtigung, denn die betreffenden Lebensverhältnisse und Leitbilder hatten sich in der alten Bundesrepublik über Jahrzehnte hinweg tiefgreifend geändert. Insbesondere jüngere und höher gebildete Mütter formulierten ein stetig steigendes Interesse an eigener Erwerbstätigkeit, was sich mit dem wachsenden Arbeitskräftebedarf der Unternehmen deckte. Der Mauerfall hatte darauf gewiss keinen direkten Einfluss – und dennoch ebnete er familienpolitischen Reformen den Weg, die andernfalls wohl deutlich langsamer erfolgt wären. Der Kita-Ausbau, so kann man bilanzieren, hätte in einem Westdeutschland ohne den »Katalysator Wiedervereinigung« wahrscheinlich erheblich später und weniger engagiert begonnen.
Andererseits irritiert die anhaltende Nicht-Wahrnehmung der jeweiligen Vorgeschichten. Dass sich die Familienpolitik in der Bundesrepublik mit ihrer »Skandinavisierung« in Form von Elterngeld, rasantem Kita-Ausbau und wachsender Müttererwerbstätigkeit auf einen Pfad begeben hat, den zuvor auch die DDR beschritten hatte, bleibt unbeachtet und unerwähnt. Wahrscheinlich sind das stille Zusammenhänge, die auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung eher ungern wahrgenommen werden: Die DDR, das ist – zumindest im Westen – immer noch auf pauschale Weise ein toxischer Begriff.
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