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Ein sozialdemokratisches Geheimnis SPD, was nun?

Klar scheint jetzt nur Eines: Was die SPD nicht braucht, um wieder aufzustehen, ist die endlose Wiederholung der oft gehörten Analysen und guten Ratschläge zu wahlweise mehr rechts oder mehr links – seit anderthalb Jahrzehnten in der Endlosschleife. Verbraucht und entwertet ist auch die großmäulige Floskel: »Erneuerung an Haupt und Gliedern«. Sie erschien zuletzt fast wie eine Selbstsuggestion, in der Hoffnung, die Zeit selber werde die Wunden schon irgendwie heilen. Das hat die Enttäuschung nur weiter vergrößert und das Vertrauen verringert, die Partei könne sich tatsächlich alsbald erholen. Der Lächerlichkeit preisgeben würde sie sich allerdings durch immer lauteres Pfeifen im Walde nach der Melodie: »Wir stellen den nächsten Kanzler«. Das wirkt nur noch wie realitätsblinder Hochmut. Dafür ist der Abgrund zu nahe. Wahr ist aber trotz alledem, dass unter günstigen Umständen eine mitreißende Führung die gestrauchelte sozialdemokratische Partei wieder aufrichten und zu bedeutenden Wahlerfolgen führen kann. Die Niederländer, vor allem ihr solider und zugleich leidenschaftlicher, begeisternder Frans Timmermans haben es soeben eindrucksvoll gezeigt.

Was am ehesten helfen könnte, wäre eine gewisse Demut und die Rückkehr zu den wahren Quellen sozialdemokratischen Selbstvertrauens. Ein brauchbarer Rat für den Umgang mit tiefen Lebenskrisen findet sich bei Gottfried Benn: »Rechne mit Deinen Defekten. Gehe von Deinen Beständen aus, nicht von Deinen Parolen«. Nun denn: Die »Defekte« der Sozialdemokratie liegen auf der Hand. Einer der auffälligsten ließ sich in jüngster Vergangenheit ausgiebig besichtigen: Der Unwille der Führung (oder war es Unfähigkeit), eine durchaus respektable Tagespolitik mit längerfristigen Orientierungen in den zentralen Fragen mitreißend (oder wenigstens anregend) zu verbinden – beharrlich und glaubwürdig.

Was aber sind die »Bestände« der Sozialdemokratie, die jetzt weiterhelfen? Kein Zweifel, die Partei darf daran erinnern, dass es die gut ausgebaute soziale Demokratie und das friedenspolitische Ansehen Deutschlands in der Welt ohne ihre beharrlichen Kämpfe gegen viele, immer sprungbereite Widersacher so nicht gäbe – und künftig auch eher nicht mehr geben dürfte. Spannend und zukunftsweisend wird es erst bei der Frage nach den Ursachen der historischen Erfolge. Dabei wird offenbar, dass es im Kern eine ganz bestimmte Grundhaltung der Sozialdemokratie war, die sie unter wechselnden gesellschaftlichen Bedingungen immer wieder stark gemacht hat. Diese wurde zwar gerne von intellektuellen Einzelstimmen und politischen Minigruppen verspottet, selbst innerhalb der Partei, hat aber in Wahrheit die größten Erfolge bewirkt und der Partei den Ruf der Solidität und (zuletzt allerdings mit schmerzhaften Abstrichen) der verlässlichsten Anwältin für eine gerechte Gesellschaft verschafft.

Entscheidend für den Erfolg war immer das magische Wörtchen »und«, glaubwürdig gehandhabt und verlässlich realisiert: der Wille und die Fähigkeit zur Synthese und zum Brückenbau, zum ausgleichenden Zusammenführen widerstreitender sozialer Interessen und kultureller Werte gegen die Verteidiger von Privilegien und Ungleichheit, zum vernünftigen, mehrheitsfähigen, also zum sozialdemokratischen Kompromiss. Das vor allem ist das bleibende Alleinstellungsmerkmal der SPD. Gleich zu Beginn, bei August Bebel und Ferdinand Lassalle, war es die Verbindung von Sozialismus und Demokratie. Sie hat, das war auch die Absicht, beide auf sehr bekömmliche Weise verwandelt und dabei ihren Kern in der Sozialen Demokratie zur Geltung gebracht. Daraus ergab sich das bis heute nachwirkende Klassenbündnis zwischen Arbeitern und aufgeklärtem Bürgertum. Diese beiden »und« haben in Deutschland und dem größeren Teil Europas die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts heilsam geprägt. Die teilweise Demontage wichtiger Errungenschaften dieser goldenen Ära der Sozialdemokratie am Ende des Jahrhunderts, als der sozialdemokratische Kompromiss unter den Beschuss des neoliberalen Sperrfeuers und der offenen Globalisierung geriet, bekräftigten nur die Erkenntnis des Godesberger Programms von 1959: der demokratische Sozialismus ist »eine dauernde Aufgabe« der Erkämpfung, der beständigen Pflege, der Stützung und der Weiterentwicklung durch eine starke und wache Sozialdemokratie. Diesen Kern-Bestand der Sozialdemokratie gegen die zeitweilige Anfälligkeit der Partei für neoliberale Versuchungen muss die Partei jetzt wieder glaubhaft in Besitz nehmen und offensiv vermitteln. Andrea Nahles ist mit ihrer neuen Sozialpolitik dabei schon ein gutes Stück vorangegangen.

Als ein neuer epochaler Konflikt in den 80er Jahren zu dem ersten, gerade halbwegs domestizierten Widerspruch hinzutrat und die Neuen Sozialen Bewegungen mit ihrem ökologischen Kern Deutschland und die Sozialdemokratie aufwühlten, begann Willy Brandt schon 1984 an einem neuen Brückenschlag zu arbeiten. Die neue gesellschaftsweite Konfliktlinie verlief diesmal zwischen dem industriellen Interesse an unbedingtem Wachstum und der Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen der menschlichen Zivilisation. Mit dem Berliner Programm von 1989 gelang der SPD begrifflich und in der Sache eine Synthese zwischen der generativen Idee der Arbeiterbewegung – Wirtschaftsdemokratie und soziale Gerechtigkeit – und den Impulsen der Neue Sozialen Bewegungen: Geschlechtergleichheit, Abrüstung, Technikgestaltung und ökologische Nachhaltigkeit. Der Text beschränkt sich dabei keineswegs nur auf das Große und Ganze einer nachhaltigen Wirtschafts- und Technikpolitik, sondern bietet eine Fülle exemplarischer Anleitungen für die Praxis. Er ist noch immer auf der Höhe der Zeit – nur nicht im Bewusstsein dieser vergesslichen Partei. Willy Brandt und Hans-Jochen Vogel haben dafür gesorgt, dass dem ersten historischen »und« einer sozialen und demokratischen Marktwirtschaft das zweite historische »und« einer ökologischen und sozialen Wirtschaftsweise hinzugefügt wurde. Dieser Brückenschlag hat immerhin die politische Atmosphäre geschaffen, die 1998 zur Wahl Gerhard Schröders zum Bundeskanzler führte und ein rot-grünes Reformprojekt möglich erscheinen ließ. Auch durch das magische »und« in der Erfolgsparole seines Wahlkampfes: Innovation und Gerechtigkeit.

Und nun, während ein neuer großer Konflikt die Gesellschaft und die Sozialdemokratie zu zerreißen droht, wird abermals ein großes »und« fällig, das – so viel ist sicher – nur die Sozialdemokratie formulieren und realisieren kann. Auf der einen Seite steht heute die durch die unbeherrschte Globalisierung abgehängte Neue Arbeiterklasse der Niedriglöhner mit ihren vernachlässigten Bedürfnissen nach gesichertem Einkommen, sozialem Schutz und kultureller Anerkennung. Ähnliches gilt für den verunsicherten Teil der Alten Mittelklasse (auch Facharbeiter). Auf der Gegenseite bewegen sich die bestens ausgebildeten und kulturell wendigen Gutverdiener der Neuen Mittelklasse mit wachsenden Einkommen und großer kultureller Beweglichkeit. Sie profitieren auf ganzer Linie vom raschen Wandel und der umfassenden Entgrenzung. Die Kampfzone erstreckt sich nun über die Verteilung der materiellen Ressourcen hinaus auf die Anerkennung kultureller Lebensformen und den Umgang mit Grenzen. Dabei spielen die sozioökonomischen Konflikte ebenso wie die ökologischen weiterhin eine zentrale Rolle. Aber der kulturelle Faktor neigt zur Verselbstständigung, besonders wo er dauerhaft eine wirtschaftliche und soziale Misere der Verunsicherten zu kompensieren scheint.

Viele der Kontrahenten in dem neuen Konflikt zwischen den »Beweglichen« und den »Sesshaften« geben, solange die Position der SPD ungeklärt bleibt, einstweilen den Grünen oder den Rechten ihre Stimmen, oder enthalten sich. Das kann sich auch durch ein überzeugendes sozialdemokratisches »und« rasch ändern. Die Brücke heißt diesmal »republikanischer Kosmopolitismus« (Immanuel Kant, Julian Nida-Rümelin). Dieser verbindet Kontrolle, nämlich die sozialverträgliche Regulierung von Migration und Integration, mit Offenheit und Humanität. Und er gestaltet auf dieser Basis die transnationale politische Kooperation in Europa und der Welt mit. Die Grundlage für diesen Brückenschlag ist eine Politik, welche die unvermeidliche ökonomische Globalisierung mit der Überwindung von Niedriglöhnen und sozial prekärer Beschäftigung verbindet. Der harten Rechten, die den neuen Konflikt ideologisch missbraucht, geht dabei der Sauerstoff aus. Viele Bausteine für diese neue Brücke liegen in Form von Beschlüssen und Konzepten der SPD bereit. Wenn sie nun rasch zusammengefügt und mit überzeugenden Symbolen verbunden werden, könnte das sozialdemokratische »und« abermals Wunder wirken.

Willy Brandts Erfolgsformel »die Sozialdemokratie ist die Partei des donnernden Sowohl als auch« war kein Scherz (denn das fundamentalistische »Entweder-oder« ist ihr wesensfremd). Aber die Formel funktioniert nicht ohne »Donnern«: Leidenschaft und Symbolik müssen dabei sein. Brückenbauen für die ganze Gesellschaft, das vor allem qualifiziert die SPD als Volkspartei, solange sie das will – und kann.

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