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Neue Literatur zur Misere und Erneuerung einer gebeutelten Partei SPD wohin?

Nach ihrem Desaster bei der Bundestagswahl 2017 hält in der SPD die Ratlosigkeit an, wie sie einen weiteren Abstieg in der Gunst der Wählerschaft verhindern und mit einer grundlegenden Neuaufstellung und Kursausrichtung wieder Fuß fassen kann. Da kommen drei aktuelle Bücher gerade recht, die auf diese Fragen Antworten liefern.

Der Parteienforschung zugeordnet ist das Buch von Timo Grunden, Maximilian Janetzki und Julian Salandi Die SPD. Anamnese einer Partei von 2017, entsprechend sind die Ausführungen nicht immer leicht leserlich.

Wer hofft, dass es so schlimm mit der SPD nicht kommen werde, sollte das Buch unbedingt zur Hand nehmen. Gegen die verbreiteten Krisen- und linearen Abstiegsszenarien setzt nämlich der SPD-Experte Timo Grunden in seinem Einführungsbeitrag auf ein evolutionstheoretisch-dialektisches Entwicklungsmodell. In den über 150 Jahren ihres Bestehens habe die Partei »Konjunkturzyklen« mit Hochs und Tiefs durchgemacht. Dabei habe sie sich durch organisatorische und programmatische Innovationen immer wieder als an gesellschaftliche Wandlungen und neue Konfliktstrukturen »anschlussfähig« gezeigt. Für Grunden ist es der Verdienst der zur Volkspartei gewandelten SPD, im Nachkriegsdeutschland die Klassengesellschaft in eine Mittelschichtgesellschaft umgewandelt zu haben. Diese Erfolgsbilanz erscheint mir aus soziologischer Sicht doch ein Stück zu verengt, weil die immer noch nicht überwundenen sozialen Ungleichheiten ebenso ausgeklammert werden wie die Fortexistenz einer Arbeiterschaft, deren soziale Lage bedroht wird.

In ihrer Grundstruktur bildet die SPD eine in Berufspolitiker und Parteibasis aufgespaltene oligarchische Partei. Organisatorisch, so stellt Grunden überzeugend dar, machte die SPD einen Modernisierungsprozess in Gestalt der »Personalisierung, Mediatisierung und Entideologisierung« durch, der sie an neue Wählerschichten heranführte. Auf der Partei laste aber organisationsstrukturell ein prägender Fragmentierungsdruck, welcher sich in einem »horizontalen ideologisch-programmatischen« Flügelschlag und vertikal in einer »stets drohenden Entfremdung von Führungseliten und Parteibasis« ausdrücke. Gründe für das zerrüttete organisatorische Vertrauensverhältnis sind laut Grunden in den mit der Schröder-Ära einsetzenden politischen Eigenmächtigkeiten des Regierungsflügels der Partei und ihres Top-down-Gehabes zu suchen.

Wie Julian Salandi bei seiner Binnenschau ausführt, bestimmt auch für ihn die Zwittergestalt der Partei, mit einem halbstaatlichen Politikerkopf oben und einer eigenwilligen Mitgliederorganisation unten, nachhaltig das spannungsgeladene Binnenleben der Partei. Die bereits in den 50er Jahren vollzogene »Parlamentarisierung« habe die Transformation der alten solidargemeinschaftlichen SPD hin zur an Wählerstimmen orientierten Berufspolitikerpartei und deren Ausrichtung auf die Mediendemokratie ermöglicht. Die Entfremdungstendenzen zwischen der Berufspolitikerpartei oben und der Mitgliederpartei unten sind hier aufzufinden. An der Agenda-2010-Politik arbeitet Salandi exemplarisch heraus, wie am »Putsch von oben« (Max Reinhardt) die Identität der Partei zerbrach und sich Entfremdung und Misstrauen in die SPD-Mitgliedschaft einnistete.

Maximilian Janetzki wendet sich dem dynamischen Wählerumfeld der SPD zu und untersucht, wie sich die Partei durch Anpassung und machtstrategisch erfolgreiche Wähleransprache neue Wählerpotenziale zu erschließen vermochte. Leider enden die dafür vorgestellten Wählerstrukturdaten bei der Bundestagswahl 2009. Bis dahin zeigte sich aber bereits der nach der Agenda-Reform einsetzende Wählerschwund unter Arbeitern und dass sich die Verluste nicht durch Zugewinne bei Angestellten bzw. Angehörigen der »Neuen Mitte« kompensieren ließen. Verantwortlich für die Verluste macht Janetzki den »Dritten Weg« und die Agenda-Politik, die die Traditionswählerschaft der Partei »verprellte«. Es ist fraglich, ob sich der Abstieg der SPD, wie Janetzki vermutet, wirklich auf den Aufstieg einer »postindustriellen Mittelklasse« und den Wegfall des Konfliktes zwischen Kapital und Arbeit zurückführen lässt. Insgesamt liefert das Buch eine informative und problemorientierte Gesamtschau zum Profil, der Binnenorganisation und der Wählerverankerung der SPD, die leider das Desaster der Partei bei der letzten Bundestagswahl nicht mehr einbezieht. Wie die SPD bei ihrer inneren Zerrissenheit und ihrem anhaltenden Wählerschwund »evolutionär« wieder auf Aufstiegskurs gebracht werden könnte, bleibt unbeantwortet.

Zwei weitere Neuerscheinungen – von Peer Steinbrück und Andrea Ypsilanti – sind nach dem Wahldesaster der SPD 2017 verfasst, sodass in den Streitschriften weiterführende, kontroverse Schlussfolgerungen hinsichtlich ihrer strategischen und programmatischen Neuausrichtung zu finden sind.

Mit seinem Buch Das Elend der Sozialdemokratie. Anmerkungen eines Genossen von 2018 formuliert Steinbrück seine Sorge, dass, wie schon 2009 und 2013, »die tieferen, programmatischen, strukturellen und organisatorischen Ursachen für den Abstieg der SPD« erneut verdrängt würden. Vier Gründe für die Wahlniederlage 2017 listet er auf und erläutert sie über die folgenden Teile seines Buches differenziert. Erstens fand die SPD keine angemessenen Antworten auf den neuen Wertekonflikt zwischen »linksliberalen, weltoffenen Einstellungen« einerseits und »nationaler Identität« andererseits. Hierdurch saß die SPD in der Flüchtlings- und Zuwanderungskrise »zwischen den Stühlen«. Obendrein würden von linker Seite Integrationsprobleme bei Flüchtlingen verharmlost, wie es auch vermieden würde, »reaktionäre, frauenfeindliche und antiliberale Elemente des Islam klar beim Namen zu nennen«. Die SPD müsse sich nun nach beiden Seiten des Wertekonflikts glaubwürdig aufstellen, um nicht weitere Stimmen zu verlieren.

Zweitens saß die SPD mit ihrem einseitigen, abstrakten Gerechtigkeitswahlkampf einem falschen Lagebild der Mehrheitsgesellschaft auf. Schon wegen der »Mitverantwortung in der Regierung« wäre der »Herold der Gerechtigkeit (…) eine Fehlbesetzung in einem überdies falschen Film gewesen«. Mit dem Gerechtigkeitswahlkampf habe sich die SPD auf die Rolle »eines Rote-Kreuz-Wagens zur Aufnahme der Gebeutelten« reduziert. Dadurch sei ihr der Anschluss zur »produktiven Klasse« verbaut. Wenig überraschend nimmt Steinbrück die Debatte um die »Neue Mitte« wieder auf, weil sich die SPD auf diese Trägergruppe der Mehrheitsgesellschaft fokussieren müsse. Er plädiert zudem dafür, dass die SPD bei aller Seelenverwandtschaft mit der »Beseitigung von Diskriminierung nach Geschlecht, sexueller Neigung, Herkunft, Hautfarbe, Religion und nicht zuletzt Menschen in einer sozial prekären Lage« nicht die »Existenzfragen« der Mehrheitsgesellschaft aus den Augen verlieren dürfe.

Drittens habe die SPD an einem kommunikativen Vermittlungsproblem ihrer Kernbotschaften gelitten. Besser wäre es gewesen, wenn sie im Wahlkampf auf »Europa«, die »Freiheit im digitalen Kapitalismus« und den »Zusammenhalt der Gesellschaft« gesetzt hätte. Viertens stellte sich die SPD angesichts der »Verrohung und Enthemmung« der Alltagskultur nicht dem Problem des wachsenden gesellschaftlichen Bedürfnisses nach Sicherheit und Ordnung. Die Gesellschaft, SPD-Wähler/innen eingeschlossen, sehnt sich laut Steinbrück unter dem Beschleunigungsdruck der Globalisierung und des digitalen Kapitalismus nach sozialer Sicherheit und nach gesellschaftlichem Zusammenhalt, wobei Identitätsfragen eine immer größere Bedeutung gewinnen. Dies korrespondiert für ihn mit der strittigen Debatte um eine »Leitkultur«, bei der er moniert, dass sich die SPD von ihr fernhalte. Hier müsse die Partei den Konservativen ihr Monopol auf Meinungsführerschaft entreißen.

Dass die SPD nicht aus ihrem Tief herausfindet, hat für Steinbrück auch mit der miserablen organisatorischen Verfassung der Partei zu tun, zumal ihre personelle Überalterung, habituelle Versteinerung, ihr ineffizienter Parteiapparat und ihr Klüngelunwesen bei der Personalrekrutierung ins Auge springen würden. Schlimmer noch, und da deckt sich seine Sicht mit der der Parteienforscher, zerfällt die SPD in einen »verantwortungsethisch« handelnden Regierungs- und einen »gesinnungsethischen« Mitgliederflügel, einen »verkrampften Umgang« mit den eigenen Leistungen zeigend.

Steinbrück ist ein elitärer, scharfsinniger und anstößiger Genosse, der seiner Partei von oben herab die Leviten liest. Für die Misere der Partei hat er einen klaren Blick und dafür, wo die SPD Anpassungen an den (konservativen) Zeitgeist vorzunehmen habe. Nur selbstgefällig ist ihm der Gedanke fremd, dass er als Vertreter des sozialdemokratischen Regierungsestablishments hauptverantwortlich für den Niedergang der Partei sein könnte. Ganz im Gegenteil geht die Schuldzuweisung einseitig in Richtung Mitglieder und Funktionäre. Steinbrück hängt zweifelsohne sozialdemokratischen Kernüberzeugungen an. So habe die Wirtschaft dem allgemeinen Wohlstand zu dienen, und für ihn steht außer Frage, dass die SPD »auf eine Zähmung des Turbo- und Casino-Kapitalismus des 21. Jahrhunderts hinwirken« müsse. Mittlerweile räumt er beim Konzept des »Dritten Weges« freimütig ein, dass es »vom Zeitgeist der Marktgläubigkeit, der Deregulierung und Globalisierungseuphorie infiziert« gewesen wäre. Nicht gerade feinfühlig favorisiert Steinbrück dann doch den Begriff »Neuer Dritter Weg«, um unter diesem Label die SPD neu auszurichten. Dann geht es auch noch um einen Anschlag auf die Seele und die Identität der Partei, wenn Steinbrück der SPD empfiehlt, sich am neuen konservativen Zeitgeist auszurichten.

Unter dem Titel Und morgen regieren wir uns selbst kommt die Parteilinke Andrea Ypsilanti mit einer Streitschrift von 2017 zu Wort, die den Denkweisen und Vorschlägen von Steinbrück diametral entgegensteht. Im höchsten Maße ambitioniert, geht es ihr darum, ob die Linken in Europa – ob nun als Bewegung oder Partei – gegen den herrschenden »neoliberalen Kapitalismus (…) reorganisiert und hegemonial« werden könnten. Grundsätzlich ja, auch wenn man es mit vom Weg abgekommenen linken Volksparteien zu tun hat, die zu »angepassten Funktionärsparteien« wurden und sich der »Logik des neoliberalen Kapitalismus anpassen«. Aufdecken will sie, warum dies geschah, um dann einen radikalen Politikwechsel für eine europäische Linke aufzuzeigen.

Zunächst nimmt sich Ypsilanti den Aufstieg des Neoliberalismus vor, um in diesem Kontext den »Dritten Weg«, die »Neue Mitte«, Hartz VI und die Agenda-Politik als Fehlreaktionen der Sozialdemokratie zu geißeln. Hieraus erkläre sich der Vertrauensbruch der SPD gegenüber den »kleinen Leuten«. Aus »der Schutzmacht« für die Arbeiterschaft sei die SPD zu deren »Bedrohung« mutiert.

Auf einen Politikwechsel mit den linken Parteien als politische Gegenkraft setzen zu können, beurteilt Ypsilanti skeptisch. Verfügten diese doch weder über »eine gemeinsame Analyse noch über eine übergreifende Perspektive«. Für die SPD käme noch das Trauma der Denunziation als »vaterlandslose Gesellen« hinzu, was ihre Anerkennungssucht erkläre und ihr Interesse an einem höheren Ganzen, »notfalls auch gegen die eigene Programmatik und Anhängerschaft zu handeln«. Zum notwendigen »Aufbegehren« fände die Partei nur, wenn sie einen eigenständigen »emanzipatorischen« Politikansatz entwickeln würde und noch »Konflikte und Kämpfe« um politische und ökonomische Machtfragen im Interesse der von ihr zu vertretenden »sozialen Klassen« zu führen bereit wäre. Gegenwehr heißt für Ypsilanti, eine linke »Gegenhegemonie« zu erkämpfen, die sich weiträumig über den ökonomischen und politischen Bereich hinaus auch auf den moralischen, intellektuellen und kulturellen Bereich erstrecken müsse. Dies sei global anzugehen und berühre nicht weniger als eine neue »Weltwirtschaftsordnung«.

Wie die Mission der »Transformations-Sozialdemokratie« Realität werden soll, bleibt ein Rätsel, zumal der angestrebte radikale Politikwechsel nicht von oben verordnet, sondern »demokratisch entstehen und wachsen« muss. Emphatisch endet Ypsilantis Streitschrift mit der Vision eines sinnlich-mediterranen Sozialismus auf der Basis, »sich selbst regieren zu wollen«. Vermutlich werden hierdurch die Herzen vor allem der altlinken Leserschaft erwärmt. Nur ohne die politische Machtfrage anzugehen, bleibt es beim Salonsozialismus und beim praktisch folgenlosen intellektuellen Räsonieren.

Timo Grunden/Maximilian Janetzki/Julian Salandi: Die SPD. Anamnese einer Partei. Nomos, Baden-Baden 2017, 232 S., 19,90 €. – Peer Steinbrück: Das Elend der Sozialdemokratie. Anmerkungen eines Genossen. C.H.Beck, München 2018, 189 S., 14,95 €. – Andrea Ypsilanti: Und morgen regieren wir uns selbst. Eine Streitschrift. Westend, Frankfurt am Main 2018, 248 S., 18 €.

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