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Winfried Veit skizziert eine Strategie für die EU von morgen Spieler bleiben, nicht Spielball werden

Die EU ist ein merkwürdiges Gebilde, deren Governance zwischen internationaler Organisation und föderalem Bundesstaat steckengeblieben ist. Einige Politiken sind hochgradig vergemeinschaftet, andere verblieben in der Verantwortung der Mitgliedstaaten. Dem europäischen Binnenmarkt etwa stehen nationale Sozialpolitiken entgegen, was Schieflagen erzeugt und das soziale Europa oftmals nur als Lippenbekenntnis dastehen lässt. Angesichts der großen Aufgaben und neuer geopolitisch potenter Player mag man manchmal am Klein-klein des Räderwerks des europäischen Integrationsprojektes verzweifeln. Der wachsende äußere Druck, die inneren Krisen und divergierende Interessen lassen aus den nunmehr 27 Staaten einfach keine abwehrbereite, handlungsfähige Union werden.

Die EU wird auf Dauer nicht existieren können, wenn sie keinen geopolitischen Ehrgeiz entwickelt und mit diplomatischer wie militärischer Macht unterfüttert. Europa braucht deshalb, so der Politikwissenschaftler Winfried Veit, eine Neugründung um einen Kern aus wenigen entscheidungswilligen Staaten. Er plädiert für ein Kerneuropa, das nicht nur kleiner und homogener, sondern auch demokratischer sein soll. Um sein Argument ins Werk zu setzen, fächert er umfassend das geopolitische Herausforderungsspektrum auf, skizziert gekonnt die langjährigen Debatten und wertet alles aus, was wissenschaftliche Literatur oder die politischen Beiträge der letzten zwei Jahrzehnte zu bieten hatten.

Kerneuropa soll dabei mehr Leuchtturm als ein exklusiver Club sein. Einer Lokomotive gleich könnte es die anderen Staaten hinter sich herziehen. Angedacht ist ein Europa konzentrischer Kreise. An das Weimarer Dreieck Deutschland, Frankreich und Polen docken sich die willigen Länder zum Kern an. Die europapolitisch zurückhaltenden Nordics, die wirtschaftlich zurückliegenden Iberer und die instabilen Länder Südosteuropas bilden den nächsten Kreis. Die Länder der östlichen Partnerschaft und die Mittelmeeranrainer komplementieren das neue mehrstufige Europa. Der Vorteil: Ländern wie Großbritannien oder der Türkei können souveränitätsfreundliche Angebote von Zusammenarbeit und Integration gemacht werden.

Man folgt Veits Überlegungen mit viel Sympathie, findet sich aber letztlich dann doch auf dem harten Boden europäischer Realitäten wieder. Die Aussicht auf die Holzbank im Wartesaal dürfte den Widerstandsreflex der anderen europäischen Staaten mobilisieren, wenn ihnen bedeutet wird, nicht auf dem Clubsessel im Kern Europas Platz nehmen zu können. So einleuchtend das strategische Kalkül auch erscheint – scheitern wird es an der politischen Praxis des europäischen konsensualen Räderwerks. Nur eine dramatisch zugespitzte Krisensituation könnte die politisch Verantwortlichen dazu bewegen, einen umfassenden institutionellen Wandel einzuleiten. Fraglich bleibt indes, ob aus einer solch krisenhaften Zuspitzung wirklich ein neues Gebilde entsteht oder stattdessen nicht die ganze Integrationsdynamik nationalstaatlichen Reflexen zum Opfer fällt. Wollen wir es darauf ankommen lassen? Mehr noch, sollte der Autor anknüpfen mit Überlegungen, wie denn die Governance eines solchen effizienteren wie demokratischeren Kerneuropa konkret aussehen könnte – geht es in Richtung einer föderalen europäischen Republik? Bezogen auf Deutschland etwa: Gibt das Bundesverfassungsgericht seine rechtsstaatliche und demokratische Deutungshoheit auf?

Was bleibt: Nutzen wir Kerneuropa doch als Provokateur des Geistes und sehen das Buch von Winfried Veit als Treibriemen, um die Reformdebatte immer wieder erneut zu befeuern. Damit wird der kleinere Bruder des Kerneuropas, die differenzierte Kooperation mit mehr qualifizierten Mehrheitsentscheidungen noch mehr Eingang finden in die politische Praxis der meisten politischen Kooperationsfelder. Wenn auch nicht mehr alleiniger Motor, so bleiben Deutschland und Frankreich mit ihrer Dialektik von Faszination und Ablehnung untereinander und für Europa dabei auch in Zukunft die entscheidenden Ankerpunkte und Triebfedern. Oder um im Bild zu bleiben: nach wie vor der Nukleus Europas.

Auch in Zukunft können wir mit typisch europäischem Fortschritt rechnen, meist geboren im Zuge krisenhafter Zuspitzungen, mit kleinen Schritten voran und erst im Rückblick aus der Distanz wird der Sprung zu mehr Souveränität und strategischer Autonomie erkennbar. Der neue US-Präsident Joe Biden würde uns vielleicht raten, ruhig, besonnen und siegesgewiss zu bleiben. Indes sollten wir vor lauter Klein-klein das große Ziel nicht aus den Augen verlieren.

Die neue geopolitische Blockkonkurrenz reicht dabei als neue Erzählung und Legitimationsargument nicht aus. Europa darf sich nicht aufgeben, und muss deshalb gerade sein Gesellschaftsmodell (insbesondere den vielbeschworen Sozialraum und die Bedeutung öffentlicher Güter) nach innen mit Leben füllen, damit die europäischen Bürger bei der Stange bleiben, und es zudem nach außen auch im Sinne geopolitischer Werteverantwortung platzieren. Die Idee vom Kerneuropa kann ein strategischer Kompass dafür sein, damit der europäische Lebensstil im Konzert konkurrierender Kapitalismusmodelle und Wohlfahrtsstaatskonzeptionen mit seiner durch Rechtspopulismus und autokratische Governance bedrohten demokratischen Verfasstheit staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen seinen Platz wahren kann. Das Potenzial und Handwerkszeug hat Europa. Die Debatten um die großen Schlagworte von Kerneuropa, Souveränität oder strategischer Autonomie müssen wir indes mit einer konkreten Agenda politischen Handelns füllen.

Winfried Veit: Europas Kern. Eine Strategie für die EU von morgen. J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2020, 160 S., 14,90 €.

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