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Theater in Zeiten der Corona-Krise Spontaneität, Furchtlosigkeit und muntere Meinungsfreude

So viel Theater war nie: Es wird gestreamt, was die Bühnen hergeben. Man hat die sprichwörtliche Qual der Wahl, nicht nur jeden Abend, sondern auch tagsüber. Von Entschleunigung keine Spur. Das Theaterportal nachtkritik.de stellt jeden Tag aktualisierte Online-Spielpläne auf seine Seite, die auflisten, was wo zu sehen ist. Um einige zu nennen: Die Berliner Schaubühne präsentiert Dauerbrenner wie Hamlet mit Lars Eidinger in der Titelrolle, das Berliner Ensemble stellt aktuelle Inszenierungen als Stream der Woche online und die Münchner Kammerspiele huldigen in ihrer Kammer 4 der Postdramatik und zeigen zum Beispiel 7 Schwestern frei nach Anton Tschechow vom Performancekollektiv She She Pop. Alles bei freiem Eintritt, versteht sich. So kommt es, dass man nonstop schauen könnte. Zu Hause, am Rechner. Überforderung ist da programmiert, das Überangebot wächst einem förmlich über den Kopf, und man fragt sich, ob das alles nötig ist. Der Journalist Kolja Reichert bringt das Unbehagen in der FAZ auf den Punkt: »Mitunter fühlt man sich da als Kulturempfänger leicht unterschätzt in den Fähigkeiten, sich mit den bereits gedruckten und aufgezeichneten Werken der Kultur oder auch einfach Blicken aus dem Fenster selbst eine gute Zeit zu machen. Schien es nicht einer der Vorzüge der Krise zu sein, dass sie die berühmte Fear of Missing out außer Kraft gesetzt hat, die Angst, etwas Wichtiges zu verpassen?« Einerseits stimmt das. Andererseits ist es nur zu verständlich, dass die Theater weiterhin im Gespräch bleiben wollen. Dass aber eine Inszenierung im Netz eine ausgefallene Vorstellung auf der Bühne nicht ersetzen kann, darüber herrscht weitgehend Einigkeit. Der Hauptunterschied liegt im fehlenden Gemeinschaftserlebnis, der oft beschworenen Ko-Präsenz des Publikums, aber natürlich auch im Live-Charakter und in der Flüchtigkeit des Theaters.

Zu Hause hört man die anderen zudem nicht lachen, husten, rascheln. Auf die Huster könnte man heute mehr denn je verzichten, doch gerade das gemeinsame Amüsement ist ein nicht zu unterschätzendes Kulturgut, und die Erfahrung, vom Gelächter der anderen angesteckt zu werden, gehört zu den schönen und kathartischen Erlebnissen im Theater. Dass aber im digitalen Raum gar keine Gemeinschaftsgefühle aufkämen, kann nur behaupten, wer sich nicht mit Hirn und Herz hineinbegibt. So stellte etwa der Regisseur Falk Richter seine am Maxim Gorki Theater in Berlin entstandene Inszenierung seines Stücks Small Town Boy von 2014 zu Beginn der Corona-Krise auf besagtem Portal nachtkritik.de zur Diskussion. Ein Video des Stücks wurde gestreamt und wer wollte, konnte zu einer vereinbarten Uhrzeit auf Play drücken, um es dann quasi gemeinsam mit den anderen zu schauen. Um das Gemeinschaftsgefühl zu stärken und vor allem den Austausch anzuregen gab es dazu noch einen Live-Chat. Es durfte mit den anderen Zuschauern und mit dem Regisseur gequatscht, in diesem Falle gechattet werden. Die Dokumentation dieses Chats zeugt von einem Publikumsgespräch, das sich durch Spontaneität, Furchtlosigkeit, Hierarchielosigkeit und muntere Meinungsfreude auszeichnet. Falk Richter selbst sprach danach von einer sehr besonderen Erfahrung. Weiter ging der Regisseur Christopher Rüping, Hausregisseur am Schauspielhaus Zürich, der, nachdem sein Stück Trommeln in der Nacht, mit dem er 2018 zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde, im Netz gestreamt wurde, twitterte: »Ich persönlich habe heute zum ersten Mal einen Zipfel des Gemeinschaftsgefühls, das ich am Theater im analogen Raum so liebe und das ich gerade so vermisse, im digitalen Raum zu packen gekriegt.« Das aber genügte ihm nicht, weswegen er danach begann, für den digitalen Raum zu inszenieren und per Livestream auszustrahlen. Bei der Premiere spielte die Technik nicht richtig mit, der Ton und die Lippenbewegungen des Schauspielers waren nicht synchron und manchmal hing das Bild ganz fest, doch Rüping probiert es weiter, verändert, verbessert. »Work in progress«, wie so vieles in diesen Tagen.

Nicht in die Zukunft, sondern tief in die Theatervergangenheit führen indes legendäre Inszenierungen, wie etwa Peter Steins sagenumwobene Version von Tschechows Drei Schwestern von 1984 mit Edith Clever, Jutta Lampe und Corinna Kirchhoff in den Titelrollen. Sie bewegen sich darin wie nicht von dieser Welt, und die Ausstattung der Bühne erinnert an ein gesticktes Bild. Die damalige Werktreue mag einen heute zum Schmunzeln bringen, dem plüschigen Reiz der vorgeführten Akkuratesse erliegen die meisten dennoch. Neben den Theatern selbst und nachtkritik.de gibt es andere Angebote wie spectyou.com, Deutschlands erste Streaming-Plattform für Schauspiel, Oper und Tanz. Eine Art Theater-Netflix also, in der derzeitigen Krise noch kostenfrei. Zudem basteln viele Theater an eigenen Formaten, stellen Podcasts online, zoomen sich in die Wohnungen ihrer Schauspieler und Schauspielerinnen, singen, tanzen, performen und Tausende klicken rein.

Besonders rührend die Idee des Thalia Theaters in Hamburg, das in einem Tweet ein einsames Licht auf die leere Bühne stellte und dazu schrieb: »Ein Theaterbrauch sagt, dass im leeren Raum ein einziges Licht für die Theatergeister brennen soll. Böse Geister werden vertrieben, gute Geister treten im Licht noch einmal auf. Bei uns brennt nun so ein tröstliches Licht. Wir wissen noch nicht wann, aber wir kommen zurück!« Auch der Autor Roland Schimmelpfennig huldigt in seinem Text The show can't go on der leeren Bühne. Der Schauspieler Wolfgang Michael stellt sich für ein Video im leeren Berliner Ensemble auf die Bühne und spricht Schimmelpfennigs Sätze. Das Theater erscheint darin als »analoger Dinosaurier und Paradiesvogel gleichzeitig«.

Natürlich gibt es auch kritische Stimmen, wie die der Intendantin des Hamburger Produktionshauses Kampnagel, Amelie Deuflhard, die sich viel lieber Serien anschaut als Theater auf dem Bildschirm. Wenn schon Theater in Zeiten der Corona-Krise, dann würde sie eine Bespielung des derzeit verwaisten öffentlichen Raums bevorzugen. Das Oberhausener Theater an der Niebuhrg wiederum hat seinen Spielbetrieb auf Open-Air-Theater im Stile von Autokinos umgestellt. Doch so pfiffig manche Ideen auch sind, die ungewissen Aussichten, wann man wieder vor Publikum spielen kann, treibt die Theaterszene um, und das nicht nur aus finanziellen Gründen. Künstlerische Werte seien im Grunde lebenserhaltende Reflexions- und Spielräume der Gesellschaft, so der Präsident des Deutschen Bühnenvereins und Intendant des Deutschen Theaters, Ulrich Khuon, der zu Recht beklagt, dass die Kunst im Denken und Sprechen der Großpolitik nicht vorkomme.

Die Schließung der Theater ist das eine, das andere ist die Flut von Absagen vieler Festivals. Manch einem dürfte erst in diesem Jahr richtig bewusst geworden sein, wie reich die Theaterlandschaft ist.

Am 16. Mai hätte die Premiere der 42. Passionsspiele in Oberammergau über die Bühne des dortigen Passionstheaters gehen sollen und wurde wie so viele andere abgesagt. Um die Tragweite dieser Entscheidung zu begreifen, hilft es, zu wissen, auf welcher Tradition das Festival fußt. In einer Ortschronik heißt es »Das hiesige Dorf wurde durch fleißiges Wachehalten vor der Ansteckung bewahrt bis zum Kirchweihfeste 1632. Da brachte ein Mann (...) die Pest ins Dorf. In dem großen Leidwesen, welches die furchtbare Krankheit über die Gemeinde gebracht hatte, sind die Vorgesetzten der Gemeinde zusammengetreten, und haben das Verlöbnis gemacht, die Passionstragödie alle zehn Jahre zu halten, und von dieser Zeit an ist kein einziger Mensch mehr gestorben, obwohl noch etliche die Pestzeichen an sich hatten.« Theater als Abwehrzauber. Die Bühne bauten sie im Jahr 1634 über den Friedhof mit den Gräbern der Pesttoten. Heute sind die Festspiele das, was man despektierlich ein Event nennt, das Millionenbeträge in die Kassen spült, und mehr als 500.000 Zuschauer und Zuschauerinnen aus aller Welt anlockt. Fast die Hälfte des Dorfes wirkt mit, und es ist leicht auszumalen, was die Absage für das Team bedeutet haben mag. Nun hat man sich entschlossen, die Premiere auf das übernächste Jahr zu verschieben, auf den 14. Mai 2022.

Ähnlich geschichtsträchtig ist das Berliner Theatertreffen, 1964 als »Schaufenster des Westens« gegründet. Jedes Jahr kürt eine unabhängige Jury die zehn bemerkenswertesten Inszenierungen. Dieses Jahr muss das Theatertreffen zum ersten Mal ausfallen, und damit auch der beliebte Branchentreff. Verschieben kann man es nicht, weswegen man sich entschlossen hat, einige der ausgewählten Inszenierungen streamen zu lassen. Zudem macht man aus der Not eine Tugend, indem es ein Rahmenprogramm rund um den Schwerpunkt »Theater und Digitalität« geben wird. Geplant sind Diskussionen, Tutorials und Debatten. Alles online. Ein virtuelles Theatertreffen also.

Bevor man Aufführungen streamen darf, gilt es allerdings, komplizierte Rechtefragen zu klären. Wobei es derzeit eine gewisse Lockerung zu geben scheint. So erläutert der Co-Chefredakteur von nachtkritik.de, Christian Rakow, in seinem Artikel »Das Theater und sein digitales Double«: »Bis vor kurzem waren solche Vorgänge ein Ding der Unmöglichkeit. Die komplexe Rechtelage zwischen Theatern, Verlagen und beteiligten Künstler*innen stand einer breiteren Sekundärverwertung im Netz entgegen. Die Exklusivität des Live-Ereignisses war bei allem offensiv zur Schau getragenen Verständnis für Öffnungsdiskussionen sakrosankt. (…) Die Corona-Krise aber, in der riesigen kulturellen Sektoren ihr Gegenstand schlagartig abhandenkommt, zwingt jetzt zum Umdenken und zum Vollzug lange angedachter Experimente. Die Rechteinhaber setzen angesichts der Ausnahmesituation auf Kulanz.« Das wiederum gefällt nicht allen, manche sehen ihre eigenen Rechte außer Kraft gesetzt, wenn die Theater, bloß um ihr Image zu polieren, kulanter werden.

Es bleibt heiß umstritten, ob die Theater in der Krise präsent bleiben müssen, oder ob es nicht auch eine Option wäre, die Zwangspause zur Besinnung zu nutzen. In Mülheim, wo die Theatertage, die seit 1976 jedes Jahr sieben bis acht Uraufführungen zeigen und am Ende den Mülheimer Dramatikerpreis vergeben, präsentierte man statt »Stücke 2020« vom 16. bis zum 24. Mai jeden Abend einen anderen Autor, eine andere Autorin im Netz. In kurzen Filmporträts waren Interviews, Auszüge der Inszenierungen, Lesungen und andere künstlerische Beiträge der Theaterensembles zu sehen. Auf den Herbst verschoben indes wurden die Ruhrfestspiele, und aufs nächste Jahr weicht das Festival »Theater der Welt« aus. In den Nachbarländern sieht es nicht anders aus, wobei die Salzburger Festspiele zwar stattfinden sollen, aber erst im August modifiziert und verkürzt, mit halbiertem Programm. Ihre gänzliche Absage, ausgerechnet im 100. Jubiläumsjahr wäre ein zu kräftiger Schlag ins Kontor der Theaterseele. Schließlich gelten sie als die bedeutendsten Festspiele überhaupt. Zu ihrem Markenkern gehören die Jedermann-Freilichtaufführungen auf dem Domplatz. Nach Ostern kam dann auch noch die Nachricht, dass die 74. Ausgabe des Festival d'Avignon (3. bis 23. Juli) in diesem Jahr nicht stattfinden werde. Es ist das größte Theaterfestival der Welt, und laut der französischen Tageszeitung Sud-Ouest wurden für die mehr als 1.500 Vorstellungen an 200 Spielorten der Stadt etwa 700.000 Besucher erwartet. Dass nicht nur der kulturelle Schaden, sondern auch der wirtschaftliche enorm sein wird, ist leicht auszurechnen. Gleich zu Beginn der Krise wurden deswegen auch Rufe laut, aus Solidarität mit den Veranstaltern bereits gekaufte Tickets nicht zurückzugeben. Dass das nicht helfen wird, die Ausfälle zu kompensieren, ist klar. Es ist eine Geste. Und als solche lassen sich auch die vielen derzeitigen Theaterangebote verstehen. Missen möchte man sie in diesen Tagen dennoch nicht.

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