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Stabilität durch Wahlen in Kenia

Seit den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2007, deren Ergebnis Unruhen mit über 1.000 Toten auslöste, blickt die internationale Gemeinschaft besorgt auf Kenia, wenn wieder einmal Wahlen anstehen. Diese gelten als Moment potenzieller Instabilität im östlichen Afrika. Der Wahlausgang ist regelmäßig umstritten. 2013 wurde das Ergebnis erst nach einem Gerichtsurteil akzeptiert. 2017 kam es erneut zu Gewalt vor und nach den Wahlen. Inzwischen befindet sich Kenia bereits wieder im Wahlkampfmodus für 2022. Dieser verfrüht erscheinende Wahlkampf macht zwei Dinge deutlich: Wahlausgänge sind nicht vorherbestimmt und Wahlen sind ein entscheidender Mechanismus für die Erreichung politischer Legitimität in diesem Land. Damit ist Kenia die Ausnahme im östlichen Afrika. In keinem der Nachbarländer kam es in den letzten 30 Jahren zu einem Regierungswechsel durch Mehrparteienwahlen. In fast allen Ländern des östlichen Afrikas ist der Mechanismus der Bestimmung einer neuen Regierung umstritten und mindestens mit dem Risiko einer Einschränkung politischer Spielräume, teilweise sogar mit dem Risiko gewaltvoller, sich potenziell regional ausbreitender Konflikte verbunden. In Kenia ist dieses Risiko deutlich geringer. In Kenia kam es bisher nie zu einem Bürgerkrieg oder zu einem erfolgreichen Putsch. Auch darum ist das Land das einzige in der Region, in dem das durchschnittliche Einkommensniveau in der unteren Mitte liegt.

Breite Mehrheiten in Kenia unterstützen laut Umfrageinstitut Afrobarometer demokratische Wahlen und sprechen sich gegen autokratische Entscheidungsprozesse aus. Spätestens seit dem ersten Regierungswechsel durch die Wahlen 2002 sind neue Freiräume für politische Diskussionen über den legitimen Zugang zu staatlichen Ressourcen entstanden. Die Heterogenität des Landes bildet sich in diesen Diskussionen ab. Dadurch werden einige der existierenden gesellschaftlichen Konfliktlinien öffentlich gemacht und können besser verhandelt werden als zu Zeiten des Einparteienstaats. Wahlen haben damit auch eine Ventilfunktion, die in einem heterogenen Land wie Kenia mittel- bis langfristig stabilisierend wirkt. Die politischen Freiräume haben auch zum Image des Landes als Motor für Innovationen in Ostafrika maßgeblich beigetragen. Gleichzeitig gibt es weiterhin gesellschaftliche Konflikte, die nur unzureichend öffentlich verhandelt werden können, z. B. beim Thema Landverteilung. Zudem gibt es offenbar unsichtbare rote Linien für Kritik an einzelnen Regierungsmitgliedern, vor allem wenn es um die Verbindung wirtschaftlicher und politischer Interessen geht. Dennoch sind die politischen Spielräume in Kenia im Vergleich zu anderen Ländern des Kontinents größer und werden von einer aktiven Zivilgesellschaft verteidigt. Offenbar stellt sich auch ein positiver Gewöhnungseffekt ein: Versuche, die gewonnenen Freiheiten einzuschränken, führen in Kenia zu erheblichem Widerstand. Zudem gilt: Je öfter gewählt und demokratisch diskutiert wird, desto schwerer wird es politische Freiheiten wieder einzuschränken.

Nur soziale Demokratie ist langfristig stabilisierend

Politische Stabilität und die Vermeidung weiterer Wahlkrisen können in Kenia aber langfristig nur dann erreicht werden, wenn sich die soziale und ökonomische Bilanz von Kenias Mehrparteiendemokratie verbessert. Die Einführung der Mehrparteienwahlen Anfang der 90er Jahre war das Ergebnis eines langen Einsatzes eines Bündnisses aus Zivilgesellschaft und reformbereiten Politiker/innen, sowie von internationalem Druck nach Ende des Kalten Krieges. Dies war ein notwendiger, aber keineswegs hinreichender Schritt in Richtung einer strukturellen Öffnung politischer und gesellschaftlicher Spielräume. Mehrparteienwahlen wurden jedoch in einem Paket mit marktwirtschaftlichen Reformen eingeführt, die für viele Menschen den Zugang zu öffentlichen Gütern z. B. im Gesundheitsbereich einschränkten. Die Ungleichheit in Kenia ist seither im weltweiten Vergleich mit am größten. Arbeitsplätze entstehen vor allem im nichtregulierten und damit prekären informellen Sektor. Hierdurch wurde die erreichte politische Öffnung durch eine mangelhafte Bereitstellung sozialer und ökonomischer Verwirklichungschancen unterwandert. Von dem wirtschaftlichen Wachstum profitiert vor allem eine kleine Elite, die bisher politisch einflussreich war. Mit anderen Worten: Kenia ist bisher keine soziale Demokratie.

Ein Schritt in Richtung einer gerechteren Verteilung erfolgte nach den gewalttätigen Wahlen von 2007, als sich ein Bündnis aus Zivilgesellschaft und Politiker/innen ähnlich wie zu Beginn der 90er Jahre für eine neue Verfassung einsetze, die 2010 eingeführt wurde. Hierin enthalten ist ein umfassender Katalog von politischen, aber auch von sozialen und wirtschaftlichen Rechten, sowie eine Dezentralisierung von politischen Entscheidungen. Die umstrittenen Wahlen 2017 zeigten jedoch erneut, dass historisch etablierte informelle politische Logiken weiterhin einflussreich sind und einer Umsetzung der Versprechungen der Verfassung im Wege stehen.

Krisen im Zuge von Wahlen sind nicht Ursachen, sondern Symptome weiterhin ungelöster historischer Verteilungskonflikte, die in der Kolonialzeit begründet sind und sich in einer realen und gefühlten Marginalisierung verschiedener Regionen und Bevölkerungsgruppen bemerkbar machen. Oftmals geht es hierbei um den Zugang zu und das Recht auf Landbesitz. Bei Wahlen werden diese Konflikte über ethnische Mobilisierung von politischen Eliten bewusst zugespitzt. Hierdurch ist es bisher gelungen, politische und wirtschaftliche Verteilungskonflikte zu personalisieren und zu Konflikten zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen umzudeuten. Ziel ist der Zugang zu staatlichen Ressourcen. Ursachen dafür sind zum einen, dass während der Kolonialzeit die Bevölkerung von den Briten willkürlich ethnisch kategorisiert wurde, was z. B. über den Zugang zu Bildungseinrichtungen entschied. Zudem wurde die Gründung politischer Parteien gegen Ende der Kolonialzeit nur auf Distrikt- und nicht auf nationaler Ebene erlaubt. Anders als z. B. in Europa fand dann die Einführung von Mehrparteienwahlen, wie in weiten Teilen Afrikas, vor beziehungsweise in Abwesenheit der Industrialisierung statt. So werden z. B. nicht der Arbeitsplatz bzw. die Position in der politischen Ökonomie, sondern regionale und ethnische Identitäten von politischen Parteien für die Mobilisierung genutzt.

Aufgrund ethnischer Mobilisierungswahlkämpfe finden auch inhaltliche Diskussionen kaum statt. Wenn das Wahlziel der Spitzenkandidat/innen ist, alle Mitglieder einer Bevölkerungsgruppe von sich zu überzeugen, würde eine Differenzierung z. B. zwischen Arbeitgeber/innen- und Arbeitnehmer/inneninteressen im Wahlkampf den Kanditat/innen eher schaden. Die Folge sind abstrakte Wahlversprechen kombiniert mit dem Versprechen, der eigenen Gruppe Zugang zu staatlichen Ressourcen zu sichern. Weil keine ethnische Bevölkerungsgruppe mehr als 25 % der Bevölkerung stellt, handeln Eliten vor und nach den Wahlen Bündnisse aus. Hierbei werden staatliche Ressourcen nach regionalen und ethnischen Maßstäben verteilt, was wiederum eine der Hauptursachen von Korruption ist. Die Höhe der versprochenen staatlichen Ausgaben ist auf formalen Wegen oftmals nicht zu beschaffen.

Keine formale ohne informelle Absicherung

Umstrittene Wahlausgänge und dadurch eskalierende politische Krisen wie 2007 und 2017 wurden jeweils durch informelle Elitenpakte überwunden, die die teilweise umstrittene Legitimität der Regierungen stärken und politische Herrschaft absichern sollten. Solche Elitenpakte vor und nach Wahlen zeigen, dass Wahlen zwar notwendig, wenn auch bisher nicht hinreichend, für die Etablierung von legitimer politischer Herrschaft in Kenia sind. Informelle politische Aushandlungsprozesse bleiben wichtige Mechanismen, um politische Herrschaft abzusichern. Wie legitim diese in den Augen der Bevölkerung sind, ist umstritten.

In der Folge der Wahlen von 2007 wurde unter Vermittlung der Vereinten Nationen eine Einheitsregierung unter Einbezug der Wahlverlierer gebildet. Eine Folge der Erfahrungen aus 2007 war die neue Verfassung. Die darin vorgesehene Dezentralisierung soll das Risiko für Gewalt nach Wahlen langfristig reduzieren, die Judikative stärken und einen neuen Grundrechtskatalog einführen. Im Jahr 2013 fand die erste Wahl unter der neuen Verfassung statt. Statt auf die Straße ging die Opposition diesmal vor Gericht und akzeptierte schließlich das Urteil, das das umstrittene Wahlergebnis aufrecht erhielt, wohl auch, weil man auf lokaler Ebene 29 der insgesamt 47 neu eingerichteten Gouverneursposten und damit Zugang zu staatlichen Ressourcen gewinnen konnte. 2017 fanden die zweiten Wahlen auf der Grundlage der neuen Verfassung statt. Die »Friedensdividende« der neuen Verfassung wurde diesmal nicht eingelöst. Auch wenn die Ergebnisse der gleichzeitig stattfindenden Lokalwahlen weitgehend akzeptiert wurden, war das Ergebnis der Präsidentschaftswahl erneut umstritten. Ein weiteres Mal ging die Opposition vor Gericht. Kenias Verfassungsgericht annullierte überraschend das Ergebnis und setzte Neuwahlen an. Weil auf das Urteil jedoch kein vertrauensbildender politischer Prozess folgte, entschloss sich der Präsidentschaftskandidat der Opposition, Raila Odinga, zum Boykott, was zu einem klaren Sieg des amtierenden Uhuru Kenyatta bei geringer Wahlbeteiligung führte. Es kam zu einer sich zuspitzenden politischen Krise, die schließlich durch einen symbolischen Handschlag im März 2018 zwischen Präsident Kenyatta und Odinga für beendet erklärt wurde. Beide erklärten, sie wollten sich von nun an für eine Versöhnung der beiden Lager und ein gerechteres Kenia einsetzen. Durch den Handschlag wurde somit erneut eine bedrohliche politische Krise durch einen informellen Elitenpakt überwunden. Eine Ursache hierfür waren auch die Wirtschaftsinteressen politischer Eliten, die durch die Krise zunehmend gefährdet wurden. So sind jene Wirtschaftsinteressen offenbar mitverantwortlich dafür, dass Krisen in Kenia nur bis zu einem bestimmten Punkt eskalieren.

Es wird deutlich, dass formale Institutionen bzw. Mechanismen wie Wahlen weiterhin von informellen Elitenverhandlungen überschattet werden. Durch den Handschlag wurde öffentlich signalisiert, dass beide Lager von nun an Zugriffsrechte auf nationale Ressourcen haben. Weil sich auch weitere wichtige Oppositionspolitiker dem Handschlag anschlossen, gibt es in Kenia seither keine politisch einflussreiche Opposition mehr. Entstanden ist ein informelles »Allparteiensystem«, in dem sich die politische Auseinandersetzung in die Regierungspartei und in die Regionen des Landes verlagert hat. Von der organisierten Zivilgesellschaft wird dies kritisch begleitet.

Es stellt sich jedoch die Frage, ob solche Elitenpakte in der Zukunft eine ebensolche stabilisierende Wirkung haben können und ob diese von der Bevölkerung auch mittel- und langfristig weiterhin akzeptiert werden. Beides kann bezweifelt werden. In einem zunehmend urbanen, sich pluralisierenden und gleichzeitig zunehmend ungleichen Kenia, werden Wahlen immer weniger durch etablierte Eliten zu kontrollieren sein.

Die zunehmende Ungleichheit in den wachsenden Städten des Landes bildet den größer werdenden Resonanzboden für neue gesellschaftliche Kämpfe für ein gerechteres Kenia. In den nächsten 20 Jahren wird die Mehrheit der Kenianer/innen in die Städte ziehen, die meisten davon ohne die Aussicht auf einen Arbeitsplatz. Nicht die Mobilisierung von ethnischen Wahlbündnissen, sondern die Vertretung der Interessen von prekär beschäftigten Stadtbewohner/innen wird dann wahlentscheidend, nicht nur auf lokaler Ebene. Das zeigt sich bereits bei Wahlen in den Großstädten des Landes. Nicht mehr ethnische Zugehörigkeit allein, sondern die Fähigkeit, die Mehrheit der unzufriedenen Slumbewohner/innen mit Dienstleistungen zu versorgen, ist zunehmend wahlentscheidend. Politiker eines neuen Typus, die man als »Dienstleistungspopulisten« bezeichnen kann, nutzen diese Situation geschickt. Sie stellen oftmals selbst finanzierte Dienstleistungen in den Slums der Stadt zur Verfügung, positionieren sich öffentlich gegen eine etablierte politische Elite und gewinnen Sitze mit neuartigen Wahlkämpfen, die sich explizit an die Mehrheit der informell und prekär beschäftigten Stadtbewohner/innen richten. Diese Wahlkämpfe passen nicht in die gewohnten Mobilisierungs- und Analysekategorien kenianischer Politik und bieten neue inhaltliche Reibungsflächen, jenseits der Konflikte zwischen Parteien der etablierten politischen Eliten.

Die Zukunft der Demokratie in Kenia hängt davon ab, ob es gesellschaftspolitische Allianzen z. B. aus Zivilgesellschaft, Gewerkschaften und reformorientierten politischen Eliten effektiver gelingt, die Verteidigung der erreichten politischen Freiheiten mit der Forderung nach einer wirtschaftlichen Demokratisierung und Umverteilung zu verbinden. So bleibt die große Herausforderung für die kenianische Demokratie, die erreichten politischen Freiheiten durch soziale Verwirklichungschancen für die Mehrheit der Kenianer/innen zu ergänzen. Wer dies zum Wahlkampfthema macht, wird langfristig kenianische Wahlen gewinnen und Wahlkrisen vermeiden können.

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