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Der neue Trend ins Kleine und Grüne Stadtflucht und Landlust

Es verwundert nicht, dass die aktuellen Forderungen nach Enteignung großer Wohnungsgesellschaften vor allem aus Berlin kommen. Wegen der deutschen Teilung hinkten die Mietpreise dort denen der westdeutschen Großstädte um Jahrzehnte hinterher. Nicht unbedingt arm, vielmehr billig und sexy zog Berlin junge, kreative Freiberufler/innen in Scharen an, weil in unsanierten, großen Altbauwohnungen ein Großstadtleben als geistige Lebensform auch für Geringverdienende bezahlbar war. In den letzten zehn Jahren aber war der Anstieg der Mieten in keiner deutschen Großstadt so stark wie in Berlin.

Aus Sicht eines inzwischen renommierten Nachwuchsschriftstellers hat Jan Brandt in Eine Wohnung in der Stadt mit soziologischem Blick rekonstruiert, wie er selbst diesem Trend seit Ende der 90er Jahre durch eine Reihe von Mietverhältnissen gefolgt ist, deren Kosten stärker anstiegen als sein Einkommen: »Das Berlin, in dem ich im Jahr 2016 eine bezahlbare Wohnung suchte, war ein anderes Berlin als, jenes, das ich kennen und schätzen gelernt hatte.« Doch der in Ostfriesland geborene Autor zeigt noch mehr. Sein jüngstes Buch ist ein Doppelroman, der um 180 Grad gedreht, ein Pendant zur Stadtgeschichte liefert. Unter dem Titel Ein Haus auf dem Land erzählt Brandt darin aus seiner Familiengeschichte, die hier in seinem scheiternden Versuch kulminiert, das Haus seines Großvaters vor dem Abriss zu bewahren.

Weder in Berlin noch auf dem Land reicht das Einkommen eines etablierten Autors für eine angemessene Wohnung aus. Ironischerweise belegen derzeit einige Bücher, dass auch das Gegenteil möglich ist. Seit den Bestsellererfolgen von Romanen wie Saša Stanišićs Vor dem Fest (Luchterhand, 2015), Dörte Hansens Altes Land (Penguin, 2015), Juli Zehs Unterleuten (Luchterhand, 2016) und Mariana Lekys Was man von hier aus sehen kann (Dumont, 2017) konstatiert das deutsche Feuilleton eine Renaissance des Dorfromans. So etwas hatten die jungen Berliner Avantgardisten gewiss nicht gewollt, doch beim Treffen mit alten Klassenkameraden, die auf dem Land geblieben sind, werden für Brandt die Defizite seiner Großstadtexistenz spürbar: »Die Freiheit, von der ich immer geträumt hatte, fühlte sich seit meiner Wohnungssuche wie ein Korsett an.« Diese Freiheit nämlich will Monatsmiete für Monatsmiete verdient sein, und das ist selbst im Stipendienparadies Deutschland schwer: »Ich spürte die Schattenseiten dieses Künstlerlebens, das Ungeordnete, das Unvorhersehbare, die Haltlosigkeit, die Einsamkeit, und sehnte mich nach Familie und Freunden, nach Zugehörigkeit.« Er habe sich dieses Leben anders vorgestellt: »Ich habe gedacht, dass ich irgendwann irgendwo ankommen würde. Und das bin ich nicht.«

Zwar erscheint das reale Landleben weder bei Stanišić und Zeh noch bei Hansen romantisiert, doch flankiert werden die Romane von diversen, oft autobiografisch erzählenden Sachbüchern zum Thema Landleben und Zeitschriften, deren Titel wie Landlust und Landgenuss eine Verklärung zum Programm machen.

Neue kleine Welt

Neu ist der Trend zur Sehnsucht nach einer vermeintlich heilen Welt nicht, aber die Bedingungen, unter denen er sich entfaltet, haben sich gewandelt. Mit den Worten »Beatus ille, qui procul negotiis« (Glücklich ist der, der fern der Geschäfte ist) pries schon Horaz das Landleben. Rousseau und Thoreau suchten das richtige Leben im einfachen. Nach den Traumata des Zweiten Weltkriegs vertieften sich Millionen von Lesern in solche kleinen Welten – sei es der »Mondo Piccolo« von Giovannino Guareschis Don Camillo und Peppone, sei es das »zärtliche« Suleyken eines Siegfried Lenz oder Astrid Lindgrens kindgerechtes Bullerbyn, dessen deutscher Name »Bullerbü« noch heute Ferienhäuser, Campingplätze und Höfe schmückt.

Auch der aktuelle Trend zum Ländlich-Dörflichen geht mit einem Hang zur Verkleinerung einher, zur Komplexitätsreduktion. In der neuen kleinen Welt sind auf nur wenige Quadratmeter Wohnfläche komprimierte »Tiny Houses« en vogue, und im verwunschenen Fichtelgebirge gibt es bereits ein »Tiny-House-Village«.

Die Berliner Journalistin Petra Ahne schreibt über Hütten. Obdach und Sehnsucht. Was dahintersteckt, deutet der Titel von Julia Seidls Buch Kleines Zuhause – große Freiheit an. Ohne falsche Bescheidenheit reiht sich die »stadtmüde« Ahne mit ihrem Bungalow im Brandenburgischen in eine Traditionslinie ein, die locker von Adam und Eva (nach der Vertreibung) über Vitruv und Le Corbusier bis zu Thoreau reicht. Dass Hütten nicht der Zauberberg der Stadt- und Zivilisationsmüden, sondern zunächst einmal schlicht und einfach bescheidene Behausungen für Arme sind, gerät dabei etwas aus dem Blick. Julia Seidl hingegen porträtiert Männer und Frauen, die im Kleinen heimisch werden wollen – soweit es die Bauvorschriften zulassen, denn auch »minimalistische Lebensmodelle« bedürfen des behördlichen Segens.

Man ist geneigt, ihren Buchtitel umzuformulieren: »Kleines Zuhause – k(l)eine Miete«, denn die neue Landlust hat wenig mit dem Shabby-Chic-Landhaus-Stil nobler Vororte zu tun, sondern sehr viel mehr damit, dass der ungebremste Trend zum Leben in der Großstadt die Mieten dort selbst für Besserverdienende zum existenziellen Problem macht. Auch und gerade wer es spät im Leben zu einem gut bezahlten Job gebracht hat, wird feststellen, dass die Miete, die sich vom laufenden Berufseinkommen gerade noch tragen ließ, höher ist als der eigene Rentenanspruch. Der ersehnte »Ruhestand« wird mit einem erzwungenen Umzug einhergehen.

Ländlicher Strukturwandel

Man kann den Umzug ins kleine Haus auch als unromantischen Pragmatismus (neudeutsch »Downsizing« genannt) verstehen: omnia mea mecum porto – ins Haus auf dem Land. Nur haben Dorf und Land seit den 60er Jahren einen fundamentalen Strukturwandel erfahren, den Dörte Hansen in ihrem neuen Roman Mittagsstunde rekapituliert. Fluren sind »bereinigt« worden, Wasserläufe begradigt oder in Rohren verschwunden. Bäuerliche Mischwirtschaft ist Monokulturen gewichen. Die Ironie heutiger Landlust lässt sich schon dem Horaz-Zitat ablesen: Auf dem Land ist man wahrlich »fern der Geschäfte« – kein Dorfladen, kein Bäcker, keine Gastwirtschaft, Schule, Kirche, Tankstelle weit und breit. Als autarkes Gebilde ist das Dorf dem Strukturwandel erlegen.

»Es war so still im Dorf«, heißt es in Mittagsstunde, »kein Hund, kein Hahn. Kein Schleifen aus der Tischlerei, kein Hämmern mehr auf Haye Nissens Amboss«. Nur noch Mais und Windkraftanlagen wachsen hier. Als der Archäologe Ingwer Feddersen aus Kiel in sein nordfriesisches Heimatdorf zurückkehrt, findet er wenig davon wieder: »Ingwer schienen, wenn er durch das Dorf ging, nur noch Dinge einzufallen, die verschwunden waren: Milchkannen, Pfützen auf den Höfen, Ulmen mit verschränkten Zweigen.« Kurz zuvor hat Hansens Romanheld seinen Großvater begraben, in dessen Dorfkrug er aufgewachsen ist. Mit seinem Tod hat nun auch die letzte öffentliche Einrichtung des Ortes geschlossen.

Auf die Spitze getrieben erscheint die Ländlichkeit in den Büchern des britischen Farmers und Historikers John Lewis-Stempel, der in einem einsamen Tal an der Grenze zu Wales lebt und in seinen Büchern anschaulich beschreibt, wie viel Wissen und Fertigkeiten einem das richtige Landleben abverlangt. Ein Stück Land verfolgt den Jahreslauf auf einer Wiese seines 16 Hektar umfassenden Hofes. Mein Jahr als Jäger und Sammler beschreibt den Versuch, sich ausschließlich von dem zu ernähren, was die Natur bietet. Doch auch wenn die britischen Jagd- und Fischereibestimmungen liberaler sind als die deutschen, ist der Autor gegenüber natürlichen Jägern und Sammlern wie Füchsen, Dachsen, Krähen benachteiligt: Deren Beute an tierischem Eiweiß wie Eier, Nestlinge, Jungvögel und junge Kaninchen ist ihm verwehrt. Und auch als Landwirt kommt ihm der Wunsch nach Erhaltung der natürlichen Vielfalt in die Quere. So mäht er seine Heuwiese erst, nachdem sich die meisten Pflanzensamen bereits verteilt haben, was den Nährwert des Heus für sein Vieh entsprechend mindert.

Hinter der britischen Selbstironie von Lewis-Stempel steht die Einsicht, dass die Nähe zur Natur, die der Mensch auf dem Land sucht, nie zur Verschmelzung führt, sondern immer ambivalent bleibt. Verglichen mit der Ungeniertheit, mit der Elstern Vogelnester plündern und kreischende Nestlinge meucheln, bleibt der tierliebe Mensch ein dilettierender Außenseiter.

Da es beim Drang aufs Land doch eigentlich um Zuflucht, um den Wunsch nach Geborgenheit geht, wächst der Verdacht, hinter dem Rückzug in die neuen kleinen Welten könnte die resignative Überzeugung stehen, dass man die große nicht mehr zu retten vermag. Je kleiner das Häuschen ist, desto kleiner und anfälliger ist auch die Wirtschaft, die darin betrieben wird. Ein bisschen Landwirtschaft reicht für ganze Familien genauso wenig aus wie ein bisschen Jagen und Sammeln. Der Selbstversuch von Lewis-Stempel konnte nur deshalb halbwegs funktionieren, weil der Autor neben eigenem Land auch ein Jagdrecht und eine voll eingerichtete Hofstelle besaß.

Die Kleinhäusler von heute sind auf öffentliche Einrichtungen angewiesen – Schulen, medizinische Versorgung, Einkaufsmöglichkeiten –, die sie alleine nicht aufrechterhalten könnten. Als Zuflucht, Alterssitz, Erholungsort oder Stätte kreativer Muße bieten sie eine Ergänzung zum »normalen« Leben, aber keine Alternative: »Im Zentrum der Probleme steht die Arbeit an sich und wie wir sie miteinander teilen«, schreibt Sarah Khan und kritisiert die neue Landlust auch als Form der Politikflucht: »Es handelt sich um eine soziale Frage und nicht um ein Problem des Eigentums. Das Tiny House scheint mir deshalb wieder nur ein Ausweichmanöver zu sein, um die Frage nach dem Miteinander erneut zu umgehen. Das Tiny House suggeriert dem Einzelnen eine Autonomie, die er oder sie in Wirklichkeit nicht hat, indem es sagt: Wenn du alles reduzierst, wenn du dich kleiner und kleiner machst, dann kannst du es aus eigener Kraft schaffen. Was soll man allein auf der Wiese? Wir brauchen andere Menschen, ohne einander geht es nicht.«

Ohne einander, ohne Gesellschaft geht es nicht, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse auch das Landleben bestimmen und reglementieren. Die Scheinautonomie im Wichtelhaus kommt deshalb einer sozialen wie politischen Selbstverzwergung gleich. Klein und »fern der Geschäfte« im Grünen leben zu wollen, heißt, sich vor jenen Konflikten wegzuducken, vor denen man sich ins ostentativ Harmlose geflüchtet hat. So gut es sich »anfühlen« mag, im winzigen Häuschen auf ökologisch kleinem Fuße zu leben – die Welt rettet man so nicht.

Petra Ahne: Hütten. Obdach und Sehnsucht. Matthes & Seitz Naturkunden, Berlin 2019, 132 S., 28 €.Jan Brandt: Eine Wohnung in der Stadt / Ein Haus auf dem Land. DuMont, Köln 2019, 424 S., 24 €.Dörte Hansen: Mittagsstunde. Penguin, München 2018, 320 S., 22 €.Sarah Khan: Wochenendhaus. Mikrotext, Berlin 2019, 80 S., 11,99 €.John Lewis-Stempel: Mein Leben als Jäger und Sammler. Dumont, Köln 2019, 352 S., 22 €.John Lewis-Stempel: Ein Stück Land. DuMont, Köln 2017, 288 S., 23 €.Julia Seidl: Kleines Zuhause – große Freiheit. Ludwig, München 2019, 192 S., 20 €.

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