Menü

Plädoyer für Industriepolitik und Kooperation mit den Gewerkschaften Starkstrom für eine schwächelnde Sozialdemokratie

SPD und Gewerkschaften, beide sind durch das Erstarken der AfD herausgefordert, und es verlangt nach ihrer klugen Kooperation, um der neuen Rechten das Wasser wieder abzugraben. Eine den gegenwärtigen Umbruch der Industriegesellschaft begleitende Industriepolitik ist dafür erfolgsentscheidend. Eine solche Politik wird nicht nur als Strategie gegen die rechte Simulation einer Arbeiterpartei nützen. Sie wird die SPD im Parteienspektrum wieder unterscheidbar und für die Masse der abhängig Beschäftigten wählbar machen. Das ist die These dieses Beitrags und für ihre Begründung ist nicht erforderlich, all die Zerwürfnisse der Vergangenheit nachzuzeichnen. Es gibt ein Übermaß an Historie, das politisch Handelnde eher lähmt, als sie zu orientieren. Die aktuelle Situation ist zu ernst, um Retrospektive und Aufrechnung zu betreiben.

Die AfD umwirbt erfolgreich die für SPD wie Gewerkschaften gleichermaßen bedeutsame klassische Arbeiterschicht, die Wahlanalysen belegen dies. So steigt der Zuspruch für die AfD in Wahlkreisen, in denen überdurchschnittlich viele in Handwerk und Industrie Beschäftigte leben. Die Stimmenanteile der Rechten sind zudem dort hoch, wo das Haushaltseinkommen unterhalb des Bundesdurchschnitts liegt. Den Befragungen zufolge ist der AfD-Wähler eher männlich, zwischen 30 und 60 Jahre alt, und er besitzt die Mittlere Reife oder einen Hauptschulabschluss. Die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft hält ihn nicht davon ab, sein Kreuz bei der rechten Partei zu machen, im Gegenteil. Gewerkschaftsmitglieder sind wohl überproportional für die rechten Parolen anfällig (wiewohl die Forschungsgruppe Wahlen nicht zwischen der Mitgliedschaft in einer DGB-Gewerkschaft und der im Deutschen Beamtenbund unterscheidet). Wähler aus der Arbeiterschicht entwickeln sich zudem aus Protest zu Mehrfach- und Stammwählern. Dass die zweitgrößte Wählergruppe der AfD die Schicht der Kleinunternehmer ist, kann angesichts des vorherrschenden Trends Richtung Arbeiterpartei nicht beruhigen.

Was macht die AfD bei Arbeitern so erfolgreich? Das Handelsblatt hat es so ausgedrückt: Die AfD wird wegen der Probleme gewählt, die durch ihre Erfolge noch größer werden. Die Probleme sind rasch aufgelistet, die Wirtschaftsseiten der Tagespresse führen sie täglich auf: das absehbare Aus für das klassische Automobil, das Ende des Braunkohleabbaus und die Umstellung auf regenerative Energien, das Automatisierungspotenzial einer neuen, spottbilligen Generation von Robotern, der als Industrie 4.0 bezeichnete nächste Rationalisierungsschub, dazu das Outsourcing von Produktlinien, das mit der aufkommenden Rezession sofort wieder zur Option der Unternehmen wird, siehe Continental. Die Umbrüche sind gewaltig, und die von ihnen ausgelöste Sorge ist es ebenso. Was bleibt an industriellen, handwerklichen Jobs, wenn dieser Umbruch vonstattengeht? Die AfD wird gewählt für das Versprechen, dass alles bleiben kann, wie es ist. Dieselskandal, Erderwärmung, CO2-Belastung – alles soll als von den »Altparteien« geschürte Hysterie gelten.

Der AfD gelingt es, bei ihren Anhängern unter die Aufmerksamkeitsschwelle zu drücken, was im Zentrum einer rationalen Politik stehen muss, und stattdessen Rassismus zum Wahlprogramm zu erheben. Ihr demagogisches Muster ist wohlbekannt: Personalisierung. »Die Fremden« sind demnach schuld; würden keine kommen und ginge es nach dem Prinzip »Ausländer raus«, brächen die guten, alten Zeiten wieder an. Die weltweiten Migrationsströme, die existenzielle Not der Flüchtlinge sind das politische Kapital der neuen Rechten und die freigegebene Aggression gegen die Fremden ist der Stoff, den ihre Anhänger gierig nachfragen.

Die für solche Aggression Ansprechbaren sind von ihrem Triebimpuls derart überwältigt, dass sie für Argumentation nicht mehr erreichbar sind; auch dieser Mechanismus rechter Hetzrede ist gut analysiert. Wer je mit Anhängern der AfD oder Pegida diskutiert hat, kennt diese Grenzerfahrung, den Punkt, an dem mit Fakten und Aufklärung nichts mehr geht. Es ist das Erfolgsrezept der AfD, die politischen Debatten ständig über diesen Punkt hinauszutreiben. Und es ist die Schwäche ihrer demokratischen Widersacher, auf diesen Trick keine Antwort zu finden.

Worin kann diese Antwort bestehen, wenn die Kraft des besseren Arguments entkräftet ist? Die Vorurteilsforschung empfiehlt als wirksamstes Mittel den Verweis auf unmittelbare Interessen; die Umworbenen mit den Jobs und Lebensstandard gefährdenden Konsequenzen der AfD-Politik zu konfrontieren, wird sie eher beeindrucken als die moralische Stigmatisierung des von der AfD bedienten Alltagsrassismus. Das »Raus aus dem Euro«, auch nach dem Ausstieg Bernd Luckes im AfD-Programm verblieben, ist in seiner verheerenden Wirkung auf die Exportnation nüchtern zu antizipieren; das britische Würgen am Brexit bietet den nötigen Anschauungsunterricht. Dass sich die Unternehmen und ihre Verbände in ihrem Exportgeschäft und der Notwendigkeit, ausländische Fachkräfte zu engagieren, von den Erfolgen der Rechten massiv gestört fühlen, ist Wasser auf die Mühle des Antirassismus.

Die Hartgesottenen wird man auch mit dem Appell an ihre materiellen Interessen nicht erreichen. Der Appell soll als Gegengift bei den von der AfD-Agitation gerade erst Angefixten wirken. Bei den noch Indifferenten und Unentschiedenen ist die Empfänglichkeit für Argumentation auszuloten. Denn wo die Hassverkäufer ihre auf niedrige Instinkte spekulierenden Parolen locker verbreiten, müssen ihre Widersacher »den steileren Weg der Vernunft gehen (…) denn man braucht mehr Wissen, um eine Krankheit zu heilen, als um sie zu erregen«. Max Horkheimer hat das einmal gesagt.

Die AfD schöpfe mit 14 % der Wählerstimmen ihr Potenzial weitgehend aus, schrieben empirische Sozialforscher noch im letzten Jahr. Die letzten Landtagswahlen lassen Zweifel an dieser Marge aufkommen. Dennoch ist festzuhalten: Für vier Fünftel des Wahlvolks im Westen, für drei Viertel im Osten ist diese Partei keine Option. An diesen Mehrheiten hat sich sozialdemokratische und gewerkschaftliche Politik zu orientieren. Was die AfD der Aufmerksamkeit der Wähler entziehen will, müssen SPD und Gewerkschaften zum Thema machen.

Eine Programmatik ist also gefragt, die den Umbau der Industriegesellschaft weder auf Kosten von Arbeitsplätzen noch auf Kosten des Umweltschutzes zu bewältigen verspricht. SPD und Gewerkschaften können es sich nicht so leicht machen, wie der Mainstream der Grünen, deren Engagement für den Erhalt von Industriearbeitsplätzen sich in Grenzen hält. Zudem ist die Affinität der CDU zu der für den Strukturwandel unverzichtbaren Industriepolitik keineswegs zweifelsfrei; Friedrich Merz und der Wirtschaftsflügel lassen grüßen. Und die Partei der Linken mit ihren Enteignungsfloskeln ist wohl kaum auf der Höhe der Zeit. Es bleibt also genügend Raum, den die SPD programmatisch besetzen kann. Vielleicht kann sich die Partei dabei an den Erfahrungen der IG Metall orientieren.

Die Industriegewerkschaft hat seit mehreren Jahren die industrielle Transformation zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Betriebs- und Tarifpolitik gemacht. Sie hat dabei mit umfänglichen Befragungen die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie an ihrer Politik beteiligt. Fast 700.000 Rückläufe konnte die IG Metall bei der letzten Umfrage verzeichnen. Dabei ist der Fragebogen keineswegs trivial gestrickt. Bald die Hälfte der Antworten stammt von Nichtorganisierten. Diese bundesweit wohl größte Befragung haben Sozialwissenschaftler ausgewertet, und ihre Ergebnisse träufelt die IG Metall kontinuierlich in die politische Öffentlichkeit hinein.

Dramatisch ist die zum Vorschein gekommene Differenz zwischen der öffentlichen Rede über Digitalisierung und der Praxis in den Betrieben; Rhetorik und Realität verhalten sich umgekehrt proportional. Ein zweiter niederschmetternder Befund der Befragung: Investition in die Qualifikation der Belegschaften findet kaum statt. Die Beschäftigten sehen sich mehrheitlich einem technologischen Wandel gegenüber, für den sie völlig unvorbereitet sind. Erschütternd groß auch die Zahl der Unternehmen, die die neuen Technologien gar nicht im Blick, geschweige denn in der Umsetzung haben. Industrie 2.0 ist dort der Stand der Dinge. Dazu fördert der Fragebogen zuverlässig zutage, was mittlerweile zum Kleingedruckten bald jedes Arbeitsvertrags gehört: Überforderung, Zeitdruck und Personalnot; von wegen Work-Life-Balance. Der populäre Wunsch, zwischen weniger Arbeitszeit und mehr Gehalt wählen zu können, dem die Gewerkschaft in ihrer letztjährigen Tarifrunde partiell Geltung verschafft hat, geht auf das letzte Umfrageergebnis zurück.

Dem Wort Beteiligung, meistgebrauchte Phrase der Personalvorstände auf den Betriebsversammlungen, hat die IG Metall einen Sinn verliehen. Sich derart in die formulierte Politik einbezogen zu erleben, veranlasst eine langsam wachsende Zahl von Angestellten, eine Industriegewerkschaft als den für ihre Interessen richtigen Zweckverband anzusehen. Sie realisieren, wie sehr die Dekarbonisierung der Industrie, ihre Ausrichtung an digitalisierten Prozessen, die dafür notwendigen Forschungs- und Bildungsprogramme, die mit der Digitalisierung mögliche Humanisierung der Arbeitsprozesse, wie all diese Strukturumbrüche eine staatliche Moderation notwendig machen. Sie mandatieren die Gewerkschaft, für eine solche Industriepolitik vorstellig zu werden. Sie würden auch die SPD mandatieren, wenn sich diese als Partei der arbeitnehmerorientierten Transformation zu erkennen gäbe.

Doppelspitze, höherer Frauenanteil, Digitalisierung – alles wichtige Punkte, aufgrund derer aber moderne Beschäftigtenschichten nicht unbedingt die Sozialdemokratie wählen. Diese war mit ihrer Politik schon einmal weiter, erinnert sei an die vom Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel initiierten Branchendialoge, an die staatlich moderierten sogenannten Plattformen für Elektromobilität, Industrie 4.0, Erneuerbare Energien. Dort wurde die so wichtige Frage nach dem Humanisierungspotenzial der digitalisierten Arbeitsprozesse aufgegriffen und forschungspolitisch weitergetrieben. Dort haben die Beteiligten bis ins Detail durchdekliniert, was Elektromobilität infrastrukturell zur Voraussetzung hat. Es war klassischer Korporatismus, den der aktuelle Wirtschaftsminister fortzuführen sich bemüht und der nun im Treibsand steckt. Die Unternehmen haben das Interesse verloren, die Gewerkschaften sind ob der Ergebnislosigkeit frustriert, Peter Altmaier wird für das Wenige, was er hinbekommt, von den Marktradikalen noch verprügelt.

Kein an den vorhergehenden Dialogen Beteiligter der SPD nahestehenden Gewerkschafter hat verstanden, warum die SPD diese Industriepolitik nicht fortgeführt und das Wirtschaftsressort der CDU überlassen hat. Keiner hat auch verstanden, warum die Partei diesen für die Gegenwart so wichtigen Korporatismus im letzten Bundestagswahlkampf nicht beworben hat. Die für den Wahlkampf Verantwortlichen haben ihn wohl als für den Durchschnittsbürger zu komplizierte Materie angesehen. Was für eine Verkennung der Fähigkeit von modernen Angestellten und Arbeitern, die für ihre künftigen Jobs nötigen Weichenstellungen in den Blick zu nehmen!

Sind aber Betrieb und Büro wirklich noch so zentral, dass es strategisch geboten ist, das Programm einer modernen Sozialdemokratie um das Paradigma Arbeit zu gruppieren, werden sich kritische Stimmen fragen. Eine für die Sozialdemokratie einmal wichtige Stimme hat diese Frage aufgeworfen. Aber man hat Jürgen Habermas gründlich missverstanden, wenn man aus seiner »Neuen Unübersichtlichkeit« ein postmaterialistisches Desinteresse an der Produktionssphäre ableitet. Ein solches Desinteresse schimmert durch, wenn die SPD zwar die Interessen von Rentnern, von Arbeitslosen, von Personengruppen außerhalb des Produktions- und Distributionsprozesses zum Thema macht, aber nicht die der heutigen Angestellten. Es liegt wohl daran, dass sie deren Interessen gar nicht mehr kennt. Nun ist dem durchschnittlichen Mandatsträger nicht mit antiakademischem Gestus vorzuwerfen, dass ihn sein Werdegang über eine Universität geführt hat. Vorzuwerfen aber ist der fehlende, organisierte Kontakt zu den Betriebs- und Personalräten. Diese Verknüpfung ist die Conditio sine qua non einer sozialdemokratischen Politik. Die neue Parteispitze muss diese Kontaktpunkte dringend funktionstüchtig machen, damit die Partei wieder unter Strom gerät.

Die SPD lässt einen ganzen Kontinent links liegen, der ihr einmal Respektabilität bei den Arbeitern und Angestellten verschafft hat. Natürlich lässt sich das alte Milieu nicht wiederbeleben, für das der Ruhrpott stellvertretend stand. Kooperation von Betriebsräten, Gewerkschaftern und SPDlern soll keine Veranstaltung im Retrolook sein, sondern ein arbeitsteilig betriebenes, politisches Geschäft, von dem alle Beteiligten etwas haben: Der zum Branchendialog eingeladene Betriebsrat, der seiner Belegschaft von seinen Anstrengungen berichtet, die ins Rutschen geratene Beschäftigung zu stabilisieren; der Vertreter der Gewerkschaft, dessen Organisation zur Hoffnungsinstanz wird, weil sie den Kontakt ins Wirtschaftsministerium hält; die SPD-Bundestagsabgeordnete, die in ihrem Wahlkreis vors Publikum tritt und eine passable Lösung präsentieren kann.

Die SPD vergibt eine große Chance, wenn sie dieses Kooperationsgeschäft nicht betreibt. Dieses Geschäft macht ihr niemand streitig, hier muss sie sich nicht grüner als die Grünen und linker als Die Linke präsentieren.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben