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Ein Nachwort zum Jubiläum des Attentats Stauffenbergs Vermächtnis

Nicht wenige europäische Länder berufen sich auf Revolutionen als legitimatorischen Gründungsakt. Die Deutschen können in ihrem politischen Selbstverständnis damit nicht aufwarten: Die Revolution von 1848 scheute vor dem Sturz der Monarchien zurück, und die Revolution von 1918, die mit dem Sturz der Monarchen ernst gemacht hatte und aus der die erste deutsche Demokratie hervorging, war mit der Bürde der Niederlage im Ersten Weltkrieg belastet. Sie vermochte nie den politischen Glanz zu entfalten, der im Selbstverständnis der Deutschen einen politischen Wendepunkt hätte markieren können. In der späteren Erinnerung stand sie obendrein unter dem Eindruck ihres schon früh einsetzenden Zerfalls und des Aufstiegs der Nazi-Bewegung. Also wurde für die Bundesrepublik seit den 50er Jahren der Widerstand gegen Adolf Hitler und das NS-Regime zum legitimationspolitischen Bezugspunkt, und das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 wurde zum Erinnerungsort dieses Widerstands. Es war die Aktion einer kleinen Verschwörergruppe, angeführt von Claus Schenk Graf von Stauffenberg, die als Ersatz für den fehlenden revolutionären Aufstand des Volkes gegen den Nationalsozialismus herhalten musste.

Ein dunkler Schatten der Vergeblichkeit lag auch auf dieser Gründungserzählung der alten Bundesrepublik, denn der Fehlschlag des Attentats ließ den mit ihm eingeleiteten Staatsstreich nach wenigen Stunden in sich zusammenbrechen. Der DDR erging es in dieser Hinsicht nicht besser, denn auch der kommunistische Widerstand gegen das NS-Regime, auf den sie sich berief, war erfolglos und hatte es nicht einmal zu einer dem Bombenattentat in der Wolfsschanze vergleichbaren Aktion gebracht. Dafür ließ sich in der DDR wenigstens eine ideologische Kontinuitätslinie zwischen den kommunistischen Widerstandszellen und dem politischen Selbstverständnis des neuen Regimes herstellen, was in der Bundesrepublik beim Rückbezug auf die Kerngruppe der Hitler-Attentäter kaum möglich war: Von wenigen Ausnahmen abgesehen waren es keine überzeugten Demokraten, die das Attentat geplant und durchgeführt hatten. Das ist immer wieder gegen den legitimationspolitischen Rückbezug der Bundesrepublik auf die Attentäter vom 20. Juli geltend gemacht worden: Es war eine militärisch geprägte Elite, die den Staatsstreich wagte, und das Antriebsmoment zu diesem Wagnis war nicht zuletzt deren ausgeprägtes Elitebewusstsein.

Dennoch hatte der Bezug auf das Attentat vom 20. Juli für das politische Selbstverständnis der frühen Bundesrepublik eine herausragende Funktion. Es handelte sich nämlich um eine doppelte Abgrenzungserzählung, mit der sich die Bonner Republik gegen das untergegangene NS-Regime wie gegen die politischen Legitimitätsnarrative der DDR abgrenzte. Diese doppelte Abgrenzung wurde zum Ersatz dafür, dass der Bundesrepublik keine historischen Kontinuitätslinien zur Verfügung standen beziehungsweise solche Kontinuitätserzählungen, sobald man sie herstellte, einen notorisch antidemokratischen Grundduktus hatten. Dabei hatte die Anerkennung des Attentats als politisch identitätsstiftende Tat in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik einen schweren Stand, denn es gab nach wie vor viele, die in den Attentätern Vaterlandsverräter sahen, die den Soldaten an der Front in den Rücken gefallen seien. Und auch sonst gab es nicht wenige, die Sympathien für bestimmte Elemente des NS-Regimes behalten hatten – vom Ausbau der Autobahnen bis zum Lob der Volksgemeinschaft. Nicht zuletzt an sie war die Zäsur-Erzählung des Attentats adressiert: Gerade weil er selbst zeitweilig Sympathien für das NS-Regime gehabt hatte, eignete sich Stauffenberg so gut als Markierung des Bruchs.

Es ging aber auch um eine Differenzmarkierung zur DDR: Die nämlich nahm den antifaschistischen Widerstand der politischen Linken für sich in Anspruch und machte der Bundesrepublik zum Vorwurf, mit der faschistischen Tradition nicht wirklich gebrochen zu haben; das könne man schon daran sehen, dass viele ehemalige NSDAP-Mitglieder im Westen Deutschlands wieder führende Positionen innehätten. Sich in die Tradition des antifaschistischen Widerstands stellend, nahm die DDR für sich in Anspruch, das »bessere Deutschland« zu sein, und überspielte so, dass sie weder mit demokratischer Teilhabe noch bürgerlichen Freiheitsrechten etwas zu tun haben wollte. Im Gegenzug verwies die Bundesrepublik auf die Attentäter vom 20. Juli und die mit ihnen vernetzten Widerstandsgruppen: Gegen den proletarischen machte sie den aristokratischen und bürgerlichen Widerstand gegen das NS-Regime geltend. Das Hitler-Attentat war die westdeutsche Antwort auf den ostdeutschen Alleinvertretungsanspruch in Sachen Widerstand gegen den Nationalsozialismus.

Schließlich kam noch eine weitere legitimationspolitische Funktion hinzu, und die war an die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs adressiert. Sie hatten das Großdeutsche Reich in einem furchtbaren Krieg niedergerungen, und sowohl der kommunistische als auch der bürgerlich-aristokratische Widerstand gegen Hitler stand für den Anspruch der Deutschen, dass es damals auch ein anderes Deutschland gegeben habe, für das der Mai 1945 nicht die völlige Niederlage, sondern die Befreiung Deutschlands gewesen ist. Mit beiden Widerstandserzählungen verband sich insofern der Anspruch der Deutschen, nicht nur Besiegte, sondern auch Befreite zu sein. Als Letztere konnten sie geltend machen, an der Gestaltung ihrer politischen Zukunft mitwirken zu wollen. Der Widerstand unterstrich den Anspruch der Deutschen, aus Objekten der Siegermächte wieder politische Subjekte mit Selbstbestimmungsanspruch werden zu wollen.

All dies ist inzwischen Geschichte: Die DDR gibt es seit drei Jahrzehnten nicht mehr, die Alt-Nazis sind verstorben und das wiedervereinigte Deutschland steht nicht mehr unter Aufsicht der Siegermächte. Die Widerstandserzählung hat ihre politisch-ideologischen Aufgaben erfüllt; sie kann historisiert werden. Genau das findet seit Längerem statt in der Forschung zum Widerstand und den Biografien über Stauffenberg, Tresckow, Beck, Goerdeler und all die anderen. Vom »Aufstand des Gewissens« ist schon lange nicht mehr die Rede; stattdessen werden der antiplebejische Gestus bei einigen, ihr elitäres Selbstverständnis und ihre Überzeugung herausgestellt, die unkluge Masse bedürfe einer verantwortlichen Führung. Daran kann das Selbstverständnis einer liberalen Demokratie kaum anknüpfen. Die handelnden Personen bleiben in ihrer Ambivalenz und Tragik interessant, aber ihre Biografien werden gelesen wie die von Personen aus längst vergangenen Zeiten.

Man kann das als zwangsläufige Folge zeitlicher Distanz ansehen: Ein Ereignis, das 75 Jahre zurückliegt, hat kaum noch unmittelbare Bedeutung für die Gegenwart und deren ganz anders geartete Herausforderungen – außer man kann ihm mit erzählerischen Mitteln Vorbildcharakter für den Umgang mit den Problemen von Gegenwart und Zukunft beilegen. Das ist nicht ganz einfach, denn auch wenn unsere Gegenwart durch den Aufstieg autoritärer Politiker und deren autokratisches Agieren gekennzeichnet ist, so kann deswegen doch nicht einer Praxis des Attentats gegen die Autokraten das Wort geredet werden. Und auch ein gegen sie gerichteter Staatsstreich kleiner Gruppen kann nicht als geeignetes Mittel zur Verteidigung der liberalen Demokratie empfohlen werden. Attentate sind zu einem Instrument von Extremisten geworden. Staatsstreiche des Militärs haben, wenn sie die politische und gesellschaftliche Modernisierung des Landes befördern sollten, durchweg das Gegenteil bewirkt.

Was jedoch bleibt, sind Respekt und Bewunderung für den Mut und die Entschlossenheit der Männer vom 20. Juli, eine Tat gewagt zu haben, bei der die Wahrscheinlichkeit des Gelingens – nicht unbedingt des Attentats selbst, aber des anschließenden Staatsstreichs und der Machtübernahme in Deutschland – nicht sehr groß war. Obendrein mussten sie davon ausgehen, dass selbst bei einem uneingeschränkten Erfolg des Vorhabens die Chance gering war, die Niederlage Deutschlands in letzter Minute noch zu vermeiden. Immerhin hätte bei einer sofortigen Kapitulation das Leben einiger Millionen Menschen gerettet werden können. Die Männer des 20. Juli – und ihre Familien – hätten sich, wie die meisten Deutschen, opportunistisch verhalten und im breiten Strom mitschwimmen können. So sind viele durchgekommen, die in der Bundesrepublik anschließend als »Stützen der Gesellschaft« aufgetreten sind. Insofern stehen die, die den Widerstand gewagt haben, für einen Typ von Heldentum, der militärische Wurzeln hatte, aber nicht dem Prinzip von Befehl und Gehorsam folgte. Mit Bertolt Brecht kann man sagen, glücklich das Land, das keine Helden nötig habe.

Was aber, wenn doch? Stauffenberg, Tresckow und die anderen sind Vorbilder für extreme Ausnahmekonstellationen. Und solange man deren Eintritt nicht grundsätzlich ausschließen kann, sollte man sich ihrer erinnern und sie in Ehren halten – nicht für den Alltag des demokratischen Rechtsstaats, aber doch als moralische Reserve für den äußersten Notfall.

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