»Christen sind keine scheuen Enthusiasten ihrer Markenzeichen. Überall hinterlassen sie ihre Symbole – Kreuze, Fische, Monogramme, Tauben, Kelche. Egal, wie primitiv oder schematisch sie ausgeführt sind, man erkennt sie sofort als unmissverständliches Zeichen: Jesus was here, hallelujah! Keine Höhle scheint zu dunkel, keine Grotte zu klamm, keine Wüste zu öd, kein buchtenreiches Eiland zu abgelegen, um dort Symbole der Christenheit bis ans Ende aller Tage zu fixieren.« So beginnt der 1982 in Boston geborene, nach einem Studium der Katholischen Theologie und des Altgriechischen in der Katholischen Erwachsenenbildung tätige und zudem als Autor und Übersetzer arbeitende Paul-Henri Campbell sein Buch »Tattoo & Religion. Die bunten Kathedralen des Selbst«.
Anhand der Geschichte der Tätowierung, das zeigt Campbell eindrucksvoll, lässt sich Kultur- und Religionsgeschichte als Mediengeschichte erzählen. Das Medium der Tätowierung, der Körper, das sichtbare »Ich bin« eines Menschen wird durch die Wahl der tätowierten Motive auch zu einem Statement des Ichs in seiner Subjektivität und Individualität. Beate Tröger sprach mit Paul-Henri Campbell über das Buch, die mehrjährigen Recherchen, die Überraschungen und Schwierigkeiten, die es bedeutet hat, diese Publikation zu realisieren.
NG|FH: Wie bist Du auf die Idee gekommen, dieses Projekt und daraus dieses Buch zu machen? Was war der erste Auslöser?
Paul-Henri Campbell: Ich habe einige Jahre im Diözesanmuseum Limburg gearbeitet und dort auch Kunstinventare angefertigt, also Objekte aufgenommen, beschrieben und eingeordnet. Dadurch habe ich zahlreiche, auch durchaus bizarre Exemplare sakraler Kunst gesehen. Als ich begann, kulturelle Bildungsangebote für Erwachsene zu planen und zu gestalten, wollte ich dieses Wissen in andere Bereiche transportieren. Da dachte ich mir: »follow the money«: Wo investieren Menschen, wo geben Menschen ihr Geld aus, um sich selbst auszudrücken? Zufällig habe ich in dieser Zeit eine Tätowiererin kennengelernt, die dafür aufgeschlossen war, bei sich im Studio einen Workshop zu christlicher Ikonografie durchzuführen. Das stieß auf großes Interesse. Zuerst begriff ich gar nicht, warum. Dann wiederholte ich den Workshop in mehreren Studios und merkte, dass ich eigentlich selbst mehr zuhören müsste, um diese Zeichen zu verstehen. Diese Menschen waren sprechende und auskunftsfähige Kunstwerke, die man befragen konnte.
NG|FH: Wie kommt es dazu, dass Du ausgerechnet den religiösen Aspekt so in den Mittelpunkt stellst?
Campbell: Ich hänge einer etwas altmodischen Zeichentheorie an. Diese besagt, frei gewählte Zeichen – seien es Tätowierungen, Kelche, Gemälde oder Gedichte – haben im Kern mit einem Bedürfnis nach Selbstausdruck zu tun, einem Wissen, dass die Schöpfung noch nicht fertig ist und wir an ihrem Hervorbringen teilnehmen. Religion ist ein Grundvollzug. Der religiösen Institution, dem Credo, den Dogmen, auch ihren künstlerischen Formen, geht der Mensch und sein Körper voraus. Die christliche Taufe im Übrigen schafft auch einen character indelebilis, ein unauslöschliches Zeichen. Dort liegen die Brücken zu meinem Ansatz.
NG|FH: Es wäre vor 20 Jahren nicht denkbar gewesen, dass ein Hersteller gehobener Mode, die nicht Haute Couture ist, mit tätowierten Models wirbt. Inzwischen ist das üblich. Bis Mitte der 90er Jahre gab es den Spruch: »Tattoos sind etwas für Piraten und Verbrecher«. In Deinem Buch gibt es viele Gespräche, in denen sich der Imagewandel des Tattoos zeigt. Und er hat etwas mit den 90ern zu tun – Stichwort MTV. Kannst Du dazu etwas sagen?
Campbell: Ja, die Tätowierung verändert sich ständig und ikonische Träger/innen spielen eine wichtige Rolle für die Verbreitung bestimmter Stile. In der Zeit, in der Tätowierungen hauptsächlich in Manegen, im Boxring oder in der Hafenkneipe zu sehen waren, war der motivische Kanon auch an dieses Milieu gebunden. Ähnlich ist es mit MTV, das ja mit Rock und Punk zusammenfällt. Heute stehen zahlreiche Stile nebeneinander, die Bilderflut von Instagram trägt dazu bei, dass Menschen alle möglichen Styles sehen und Influencer, etwa Athletinnen und Athleten oder Sängerinnen und Sänger, beobachten, die ein entsprechendes Lebensgefühl transportieren. Zugleich, so denke ich, ist in einer pluralistischen Welt der Wunsch nach individuellem Ausdruck viel stärker: Wenn alles möglich ist, steigt die Selbstdefinition im Wert.
NG|FH: In dem Buch, das sich aus Interviews und kulturgeschichtlichen Aufsätzen, vor allem aber auch aus höchst eindrucksvollen Fotografien von Tätowierten und Tätowierern zusammensetzt, wird untersucht, warum sich das Christentum als zeichensetzende Religion bis heute wenig mit dem Stellenwert von Tätowierungen auseinandergesetzt hat.
Campbell: Das ist eigenartig, nicht wahr? Ich kann verstehen, dass sich evangelische Christen diese Fragen nicht stellen. Aber für Katholiken gibt es keinen Weg daran vorbei. Die sakrale Kunst hat vom Narwal-Zahn bis zur Koralle jedes Material zu verarbeiten gewusst: Gehörknöchelchen, die Haut des Heiligen Bartholomäus, sogar die Vorhaut Christi sind zu Reliquien erklärt worden, aber über die Haut der Lebendigen hat man bisher wohl weniger nachgedacht und dies, obwohl eine lange Tradition der Tätowierung im Christentum existiert. Vielleicht ist es das Erbe der 50er Jahre und einem bürgerlichen Ressentiment der Kunst- und Kirchenhistoriker geschuldet, dass die vielen Arten der christlichen Tätowierung einfach »übergangen« worden sind. Dabei gäbe es zum Beispiel im Hinblick auf die Motivik und Ikonografie der Votivgaben zahlreiche Forschungsansätze, die auf der Hand liegen.
NG|FH: Ist die Wiederentdeckung der Tätowierung als produktive Kraft christlicher Frömmigkeit tatsächlich bewusster Ausdruck von Frömmigkeit? Oder ist die Konjunktur des Tattoos vielleicht nur eine Modeerscheinung, die auch vor gläubigen Menschen nicht Halt macht?
Campbell: Diese Frage wird mir tatsächlich häufig gestellt. Sie ist auch wichtig: Meinen die Leute es ernst mit ihrer religiösen Inbrunst oder sind sie nur brünstig nach Schönheit? Bei Tätowierungen sieht man zunächst die diesseitige, individuelle Entscheidung. Man sieht den modernen Zeitgenossen und die zeitgenössische Gestaltung seines Körpers. Ich finde, wenn sich jemand ein Zeichen gibt, um sich auszudrücken, sollte man es zunächst respektvoll anerkennen. Es überrascht mich immer wieder, dass man selten auf die Idee kommt, einen Pfarrer oder einen Diakon zu fragen, ob er es ernst meint, wenn er ein Kreuzzeichen macht. Daher möchte ich Deiner Frage etwas ausweichen und darauf hinweisen, dass alle Formen der Frömmigkeit, jede Devotionalie, jede konkrete Ausprägung der religiösen Mode letztlich unbewusste und bewusste Motive birgt. Die barocke Prozession mit den Chormänteln aus Damast und den von belgischer Spitze gesäumten Alben, auch die mit muschelförmigen (Rocaille) und blattförmigen (Akanthus) Ornamenten dekorierten Monstranzen, sind letztlich auch erst einmal lediglich Ausdruck der Mode in jener Periode. Das religiöse Motiv einer Tätowierung liegt einer Entscheidung zugrunde. Wie stark oder schwach, wie existenzumwälzend oder leichtsinnig das Motiv gewählt ist, erweist sich vielleicht nicht in dem Moment, wo jemand ins Studio geht und sein persönliches Projekt stechen lässt, sondern erst im Verlauf des Lebens.
NG|FH: Wie hast Du Deine Interviewpartner gefunden? Wie hast Du sie erlebt? War es schwierig, an sie heranzukommen?
Campbell: Es war viel Koordination und Recherchearbeit nötig. Ich bin für zahlreiche Hinweise dankbar, insbesondere Ole Wittmann aus dem Projekt »Nachlass Warlich« in Hamburg war unglaublich offenherzig mit Hinweisen und Vermittlungen. Was mich überrascht hat, ist aber auch, dass fast jedem, der sich mit dem Thema beschäftigt, aus kunsthistorischen oder aus professionellen Gründen als Tätowiererin bzw. Tätowierer, die Verbindung von Religion und Tattoo unmittelbar einleuchtete. Mich hat besonders der große Respekt beeindruckt, den die Tätowierer vor dem menschlichen Körper haben. Mich hat auch beeindruckt – und die Theologie sollte sich davon eine Scheibe abschneiden –, wie ihre Kunst auf Vertrauen und Kooperation gegründet ist.
NG|FH: Was war die größte Überraschung für Dich bei Deiner Arbeit an dem Buch?
Campbell: Mich hat überrascht, dass es tatsächlich möglich ist, eine klare Traditionslinie der Tätowierung im Christentum herauszuarbeiten. Diese Tradition beginnt schon in den ersten Tagen des Christentums. Sie geht weiter ins spätantike und mittelalterliche Mönchtum, wo sie an Gestalten wie dem schwäbischen Dominikaner Heinrich Seuse oder der kölnischen Begine Christine von Stommeln hervorragend dokumentiert ist. Und sie findet sich in der Alten wie in der Neuen Welt im christlichen Kontext von der Adria bis an die Hänge der Sierra Madre oder von Goa bis nach Montreal. Man muss einfach nüchtern feststellen: Die Tätowierung gibt es im Christentum schon länger als die tridentinische Messe.
NG|FH: Ich war sehr beeindruckt von dem Interview mit dem Jerusalemer Tätowierer Razzouk, der mit seinem Studio in der 26. Generation Pilger tätowiert. Wie hast Du ihn gefunden?
Campbell: Die Familie Razzouk ist natürlich vielleicht die bekannteste Dynastie für Pilgertätowierungen im Heiligen Land. Man kann sie eigentlich nicht übersehen. Die Matrizen, die aus kleinen Blöcken von Olivenholz geschnitzt sind und die Vorlagen für die Tätowierungen bilden, sind eher primitiv, aber sie sind sehr alt. Ebenso traditionsreich sind aber auch die Gruppen, die aus dem gesamten vorderen Orient und der gesamten Welt Jahr für Jahr in das Studio kommen, um sich ein Souvenir ihrer Pilgerreise stechen zu lassen.
NG|FH: Auch die Geschichte von Chaim Machlev ist sehr bewegend. Eine existenzielle Erfolgsgeschichte darüber, wie jemand seinen Träumen folgt und Glück damit hat.
Campbell: Ja, Chaim ist wirklich ein Suchender. Seine Laufbahn ist aber typisch für den Beruf. Er war vorher ein IT-Spezialist, der für eine Firma in Tel Aviv gearbeitet hat. Irgendwann beschloss er, sein Leben müsse sich ändern. Das hat er durchgezogen und ist nach Berlin geflogen, wo er so lange gesucht hat, bis er jemanden fand, der ihn zum Tätowierer ausbilden wollte. Heute gehört er zu den gefragtesten Tätowierern Europas.
NG|FH: Du gehst in der Geschichte auch ziemlich weit zurück. Aufregend ist auch, was Du über Caterina Pigorini Beri erzählst. Wer war sie und wie bist Du auf sie gestoßen?
Campbell: Caterina Pigorini Beri war eine italienische Volkskundlerin und Schriftstellerin. Sie war für ihre Zeit sehr gebildet und auch mit Giuseppe Verdi befreundet. Durch ihre Heirat kam sie in die Nähe von Loreto und begann dort die Tätowierungen zu studieren, die sie überall bei den Menschen dort sah. Sie zeigte in ihrem Aufsatz nicht nur die Geschichte dieser Motive, sowie ihre Verbindung zur Santa Casa in Loreto, sondern sammelte auch die Breite und Vielfalt der Motive: Sie konnte Motive auch bestimmten Gemeinschaften zuordnen, wie den Franziskanern oder den Jesuiten.
NG|FH: Ich habe mich auch gefragt, wo eigentlich die Tätowiererinnen im Buch vertreten sind? Sie werden nicht erwähnt.
Campbell: Erwähnt schon, aber – das stimmt – nicht in ausreichender Zahl. Es kommen zwar Kunsthistorikerinnen zu Wort und eine Tätowiererin, aber es hätten auch ein paar mehr sein können. Das liegt aber an mir. Ich bin viel zu spät auf die feministische Tätowiermesse in Hamburg gestoßen, da war ich eigentlich schon mit dem Buch fertig. Aber es ist ja auf mehrere Bände angelegt. Ich hoffe, diese Lücke in zukünftigen Projekten schließen zu können. Es ist ja klar, dass es eine Fülle von ausgezeichneten Tätowiererinnen gibt, auch eine evangelikale Pastorin hätte ich gerne interviewt und ein wunderschönes Interview mit einer tätowierten Benediktinerin hat die Ordensfrau selbst in letzter Minute zurückgezogen, weil sie zwar die Idee zu dem Buch gut fand, aber sich selbst nicht so exponieren wollte. Das war zwar schade, aber ihren Wunsch muss ich natürlich respektieren.
NG|FH: Was hättest Du Dir noch gewünscht, was im Buch jetzt fehlt?
Campbell: Ich hätte mir noch eine/n Vertreter/in des mexikanisch-westamerikanischen Chicano Styles gewünscht, auch Interviews mit mehr christlichen Kulturen, wo die Tätowierung wichtig ist, wie den Äthiopiern oder Eritreern hätten das Ganze noch runder gemacht. Das Buch ist aber, wie gesagt, ein erster Spatenstich.
NG|FH: Wie geht es mit dem Projekt weiter?
Campbell: Ich möchte eine Gesellschaft gründen, um die christliche Tätowierung im Besonderen, aber das weite Feld der Religion im Allgemeinen in zukünftigen Büchern auszuleuchten. Aber es soll nicht nur bei Büchern bleiben. Ich möchte eine societas indelebilis gründen, eine Art Bund katholischer Tätowierer/innen. Die Aufgabe dieser Gesellschaft wird eine Sensibilisierung für Religion in der Tätowierkunst sein. Ich könnte mir auch vorstellen, dass wir den Heiligen Bartholomäus als Schutzpatron für diesen Berufsstand beantragen: Der Apostel hat ja bekanntlich seine Haut selbst in die Hand genommen.
NG|FH: Würdest Du Dich selbst tätowieren lassen?
Campbell: Ich weiß nicht. Momentan ist meine Haut noch sozusagen jungfräulich.
NG|FH: Dein Buch ist ja bereits erschienen. Wie wird es aufgenommen? Die Frage interessiert mich vor allem auch besonders bezüglich der religiös empfindenden Leserschaft bzw. der Kirche.
Campbell: Es ist alles da. Es gibt böse Briefe und E-Mails, die mich vor Vorträgen oder nach einer Berichterstattung erreichen, in denen ich als Vertreter des Niedergangs des Christentums beschimpft werde. Aber es sind nur wenige, eine Handvoll, und manchmal beinhalten sie mehr depressive Wut als substanzielle Kritik. Aber im Großen und Ganzen ist die Resonanz ziemlich positiv und es kommen Anfragen von vielen Seiten, auch von den Medien.
Paul-Henri Campbell: Tattoo & Religion. Die bunten Kathedralen des Selbst. Das Wunderhorn, Heidelberg 2019, 192 S., 29,80 €.
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