»Bei einem klassischen Staatsstreich, wie Pinochets Machtergreifung in Chile, tritt der Tod der Demokratie sofort ein und ist für alle offensichtlich: Der Präsidentenpalast brennt, der Präsident wird getötet (…) die Verfassung wird ausgesetzt oder ganz aufgehoben«, so Steven Levitsky und Daniel Ziblatt in ihrem neuen Buch Wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun können. Das ist die brachiale Methode der Zerstörung der Demokratie, bei der jeder Bürger gleich begreift, woran er ist. Aber es gibt auch noch eine andere, eine schleichende Machtergreifung, eine Art Selbstmord der Demokratie: »Es fahren keine Panzer durch die Straßen. Verfassungen und andere nominell demokratische Institutionen bleiben bestehen. Die Menschen gehen weiterhin zur Wahl. Gewählte Autokraten halten eine demokratische Fassade aufrecht, während sie die demokratische Substanz auflösen.« Leute wie Donald Trump, Viktor Orbán, Jarosław Kaczyński, Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdoğan oder, als neuestes Beispiel, Jair Bolsonaro in Brasilien verfahren nach diesem Prinzip. Sie besetzen nach und nach alle Kontrollinstanzen mit ihnen ergebenen Personen, überziehen politische Gegner mit Prozessen und Negativkampagnen, schüchtern kritische Medien ein, bestechen einflussreiche Personen, »reformieren« das Wahlrecht zu ihren Gunsten und nutzen tatsächliche oder fingierte Krisen für die Durchsetzung schärferer Gesetze. Mit dieser auf den ersten Blick mehr oder weniger legal erscheinenden Strategie haben wir es heute vermehrt zu tun: in den USA, in Lateinamerika, in Asien und auch in Europa.
In ihrem Buch zeigen die beiden amerikanischen Politikwissenschaftler Levitsky und Ziblatt an einer Fülle von Beispielen aus allen Teilen der Welt, wie autoritäre Führer an die Macht gelangen und wie sie Schritt für Schritt die Demokratie zerstören. Weil es sich zumeist um einen schleichenden Prozess handelt und den Bürgern allzu oft die Gefahr erst dann bewusst wird, wenn es schon zu spät ist, haben Levitsky und Ziblatt eine Art »Lackmustest« entwickelt, »der es ermöglicht, Möchtegern-Autokraten zu erkennen, bevor sie an die Macht gelangt sind«. So hätte man nach Meinung der Autoren an vielen seiner Äußerungen zum Beispiel leicht erkennen können, dass es sich bei Trump um einen Möchtegern-Autokraten und Gegner der Demokratie handelt, und zwar lange bevor er zum Präsidenten der USA gewählt wurde. Das Peinliche ist, dass er trotzdem gewinnen konnte, zunächst bei den Vorwahlen, dann auch bei der Präsidentschaftswahl.
Alle vier Kriterien, die nach Meinung der Autoren eine autoritäre Persönlichkeit kennzeichnen, werden von Trump erfüllt. Er erklärte wiederholt, sich nicht an demokratische Spielregeln halten zu wollen, er sprach politischen Gegnern jede Legitimität ab, rief zu Gewalt gegen Andersdenkende auf und kündigte an, bürgerliche Freiheiten, insbesondere die Presse- und Meinungsfreiheit zu beschneiden, wenn er gewählt würde. »Für Republikaner, die sich 2016 am Wahlkampf beteiligten«, so die Autoren, »lag eigentlich klar auf der Hand, was sie zu tun hatten: Wenn Trump elementare demokratische Grundsätze gefährdete, mussten sie ihn aufhalten«. Wenn Trump wiederholt erklärte, er werde das Wahlergebnis nur akzeptieren, wenn er gewinne, wenn er seine Gegenkandidatin als Verbrecherin bezeichnete (»Lock her up!«), wenn er seine Anhänger aufforderte, politische Gegner und Zwischenrufer zu verprügeln, wenn er wiederholt rechten Terror verharmloste und Nazischläger in Schutz nahm, wenn er immer wieder kritische Medienvertreter als Lügner beschimpfte, hätte man wissen müssen, dass dieser Mann nicht an die Macht gelangen darf.
Drehbuch zur Machtergreifung
Trump, so die Autoren, folgt einem Drehbuch zur Machtergreifung, das seit Langem und in vielen Ländern von autoritären Politikern benutzt wird, um quasi legal an die Macht zu gelangen. Von Anfang an war die Demokratie, vor allem in Krisenzeiten, der Gefahr ausgesetzt, von machtbesessenen Abenteurern und antidemokratischen Demagogen gekapert zu werden. Meistens war es nicht ein plötzlicher gewaltsamer Staatsstreich, der die Zerstörung der Demokratie ermöglichte, sondern ein allmählicher planvoller Prozess, der frühzeitig erkannt und von wachsamen Demokraten durchaus hätte verhindert werden können. Levitsky und Ziblatt zeichnen an vielen Beispielen akribisch nach, wie sich solche schleichenden Machtergreifungen abgespielt haben – und wie sich hier und da aufmerksame und mutige Demokraten, die die Gefahr frühzeitig erkannten, erfolgreich dagegen zur Wehr setzen konnten.
»Trotz aller großen Unterschiede«, schreiben sie, »gelangten Hitler, Mussolini und Chavez auf erstaunlich ähnliche Weise an die Macht. Nicht nur waren sie allesamt Außenseiter mit einem Gespür für öffentlichkeitswirksame Auftritte, sondern sie kamen alle drei auch an die Macht, weil etablierte Politiker die Warnzeichen übersahen und ihnen entweder die Macht übergaben (Hitler, Mussolini) oder die Tore öffneten (Chavez)«. In Deutschland und in Italien wurden Hitler und Mussolini tatsächlich nicht von einer überwältigenden Zustimmung der Bevölkerung an die Macht getragen. »Bevor die Faschisten und die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, gehörten weniger als zwei Prozent der Bevölkerung deren Parteien an, und diese erhielten in fairen, freien Wahlen nie auch nur annähernd eine Stimmenmehrheit. Vielmehr gab es solide Mehrheiten gegen Hitler und Mussolini – bis beide mit Hilfe politischer Insider, die blind vor Ehrgeiz die Gefahr ignorierten, an die Macht gelangten«. Die von den deutschen Nazis gefeierte Machtergreifung ist in der Tat ein Mythos, der zur Heroisierung der eigenen Bewegung erfunden wurde. Auch in diesem Fall fanden sich etablierte Politiker, die, um die Extremisten zu besänftigen oder weil sie diese in Überschätzung ihrer Kräfte für eigene Zwecke meinten nutzen zu können, ihnen die Macht übergaben.
Soweit kann man Levitsky und Ziblatt folgen. Aber zur Wahrheit gehört eben auch, dass sowohl in Deutschland als auch in Italien die große Mehrheit der Bevölkerung, die die an die Macht strebenden Diktatoren in den 20er bzw. den frühen 30er Jahren nicht wählte, keineswegs durchweg aus überzeugten Demokraten bestand. In Deutschland zum Beispiel waren weite Teile der Konservativen und die große Mehrheit der Kommunisten gegen die Demokratie, die einen für die Wiederherstellung der Monarchie, die anderen für die Errichtung einer »Diktatur des Proletariats«. Mithin konnte auch von den etablierten Vertretern dieser Parteien realistischerweise nicht jene demokratische Gegenwehr erwartet werden, die Levitsky und Ziblatt heute von der Republikanischen Partei in den USA meinen erwarten zu können. Allein die Sozialdemokraten und einige liberal gesinnte Bürgerliche waren bereit, die Weimarer Demokratie zu verteidigen. Monarchisten und Kommunisten dachten gar nicht daran, sich an den Kriterien zu orientieren, die Levitsky und Ziblatt in ihrem Lackmustest verwenden, um die von ihnen gehasste Weimarer Demokratie zu retten.
Umso wichtiger, dass die Autoren auch Beispiele gelungener Abwehr diktatorischer Entwicklungen nennen, weil allzu oft die Niederlagen der Demokratie als unvermeidbare Fatalitäten dargestellt werden. Dass dies nicht so ist, zeigen zum Beispiel die Ereignisse in Belgien nach den Wahlen von 1936, als die Partei der Katholiken und die Sozialisten eine Art Volksfront gegen die zum Putsch bereiten Rexisten, also die Anhänger der wallonisch faschistischen Bewegung Rex, bildeten, und in Finnland, wo die faschistische Lapua-Bewegung in den 30er Jahren mehr als 1.000 Sozialdemokraten und Gewerkschafter entführte und mit einem »Marsch auf Helsinki« die Macht an sich reißen wollte. Hier taten sich ebenfalls zwei sehr unterschiedliche demokratische Parteien zusammen und vereitelten so die geplante Machtergreifung. In diesen Fällen und auch in der Krise, die schließlich zum Rücktritt Richard Nixons vom Präsidentenamt der USA führte, so die Autoren, gelang die Gegenwehr, und zwar nicht – zumindest nicht vorrangig – wegen der kollektiven Klugheit der Wähler, sondern wegen der Aufmerksamkeit und Entschlossenheit etablierter politischer Gegenspieler.
Entsprechend setzen Levitsky und Ziblatt auch im eigenen Land angesichts der Herausforderung durch Trump weniger auf eine breite Gegenbewegung in der Bevölkerung, als darauf, dass sich in der Republikanischen Partei und in den Institutionen des Landes genügend gewichtige Stimmen finden, die den diktatorischen Neigungen des Präsidenten und der gefährlichen Verfeindung zwischen Republikanern und Demokraten Grenzen setzen. Von breitem Bürgerprotest, zivilgesellschaftlichem Widerstand und außerparlamentarischen Gegenbewegungen scheinen die beiden Autoren sich nicht viel zu versprechen. Freilich lässt sich eine solche pointierte Unterscheidung zwischen Reaktionen der Wählerschaft und denen der Gewählten doch wohl nicht aufrechterhalten, auch in der gegenwärtigen Lage in den USA nicht. Denn die politischen Insider, besonders die gewählten, werden zumeist nur dann im Sinne der Verteidigung der Demokratie aktiv werden, wenn sie durch die öffentliche Meinung und durch ihre Wähler unter Druck geraten, sodass sie um ihr Renommee und ihre Wiederwahl fürchten müssen. In Ansätzen hat sich dies schon im Herbst 2018 in den Midterm-Wahlen gezeigt, bei denen vor allem die Mobilisierung der Frauen und der Jungen zu einem Teilsieg der oppositionellen Demokraten bei der Besetzung des Repräsentantenhauses geführt hat. Auch wenn der Republikaner Mitt Romney in einem Essay in der Washington Post zur Jahreswende Äußerungen Trumps kritisiert, die »spaltend, rassistisch, sexistisch, feindlich gegenüber Einwanderern oder unehrlich« sind, hat er natürlich seine strenggläubigen und bürgerlich gesitteten Wähler im Mormonen-Staat Utah im Sinn, die er brauchen wird, wenn er sich tatsächlich noch einmal für die republikanische Kandidatur um das Präsidentenamt bewerben sollte.
Neue Spaltung westlicher Gesellschaften
Es ist überhaupt eine auffällige Schwäche des Buches von Levitsky und Ziblatt, dass sie sich fast ausschließlich mit den politisch-institutionellen Prozessen befassen und die sozialen Veränderungen und ihre Auswirkungen auf das Wahlverhalten und die Akzeptanz der Demokratie kaum berücksichtigen. Wenn man hingegen David Goodharts 2017 erschienenes Buch The Road to Somewhere. The New Tribes Shaping British Politics oder den 2018 erschienenen Band No Society. La fin de la classe moyenne occidentale des französischen Soziologen Christophe Guilluy liest, wird einem klar, dass der Aufstieg populistischer und rechter Bewegungen in Europa und den USA viel mit der Herausbildung einer neuen sozialen und territorialen Spaltung der westlichen Gesellschaften in boomenden Metropolen und kulturell wie ökonomisch abgehängten Peripherien zu tun hat.
Diese Spaltung hat ihren Ursprung in der Deindustrialisierung und kulturellen Vernachlässigung ganzer Landstriche; sie beginnt in Großbritannien mit Margaret Thatcher, in den USA mit Bill Clinton, in Frankreich mit dem Verfall der Kohle- und Stahlindustrie in Lothringen und im Pas-de-Calais und in Deutschland in zwei Schüben mit dem Niedergang des Bergbaus und der Stahlproduktion in Nordrhein-Westfalen und im Saarland und später dann mit der Zerstörung der ostdeutschen Industrie im Zuge der Wiedervereinigung. Der amerikanische Politologe Michael J. Sandel spricht in diesem Zusammenhang von einem Versagen des technokratischen Liberalismus. »Ähnlich wie der Sieg der Brexit-Befürworter in Großbritannien war die Wahl Trumps ein wütender Protest gegen Jahrzehnte zunehmender Ungleichheit und einer Spielart der Globalisierung, die jene ganz oben begünstigt, aber die normalen Menschen zur Ohnmacht verdammt« (IWMpost, Nr. 122).
Wer weiterhin in den Kategorien der traditionellen sozialen Differenzierung nach Klassen und Schichten denkt, wundert sich oft, dass sich in den neuen populistischen Bewegungen heute Arbeiter, Angestellte und Beamte, Bauern, kleine und mittlere Selbstständige, Handwerker und Händler, Hausbesitzer und Mieter, kurz Berufsgruppen und Schichten zusammenfinden, deren differierende Interessenlagen eine gemeinsame politische Aktion eigentlich unwahrscheinlich, wenn nicht unmöglich erscheinen lassen. Was sie eint, ist nicht, dass sie alle ökonomisch gleich schlecht gestellt sind, sondern dass sie in der einen oder anderen Weise an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden. Nach Guilluy handelt es sich hier um die Trümmer der alten vielgestaltigen Mittelschicht, die in den Peripherien der westlichen Gesellschaften unter dem Druck von Neoliberalisierung und Globalisierung als Rückgrat der Gesellschaft zu verschwinden droht oder bereits verschwunden ist.
Goodhart und Guilluy entwickeln ihre These vor allem angesichts der Verhältnisse in Großbritannien und in Frankreich, zeigen aber zugleich, dass ihre Sicht der Dinge auch für die USA aufschlussreich sein kann, sobald man sich die territoriale Verteilung der Wählerschaft Trumps genauer anschaut. Vereinfacht gesagt: Die Metropolenregionen entlang der Atlantikküste und des Pazifik sind weitgehend immun gegen den trumpschen Populismus, in dem weiten Land dazwischen, nicht nur im Rust Belt in Ohio, Pennsylvania und in den Appalachen, sondern auch in den meisten landwirtschaftlichen Regionen mit ihren kulturell und ökonomisch vernachlässigten Klein- und Mittelstädten, hat Trump den größten Teil seiner Anhängerschaft. Und wenn man seine Wählerschaft nach Beruf und Bildungsgrad aufgliedert, zeigt sich, dass sie keineswegs alle dem Bild entsprechen, das J. D. Vance in seiner Hillbilly-Elegie zeichnet, sondern eine ähnliche berufliche und soziale Bandbreite aufweisen wie bei den britischen Brexit-Befürwortern und den französischen Anhängern des Rassemblement National und der Gelbwesten.
Ethnische Polarisierung
Als Besonderheit der USA kommt allerdings hinzu, was Levitsky und Ziblatt zu Recht als zentrales Problem ansehen: die für das amerikanische Parteiensystem typische Rassenpolarisierung, die dem lähmenden Streit zwischen Republikanern und Demokraten zugrunde liegt. Zu Recht weisen die Autoren darauf hin, dass das komplizierte Gefüge aus geschriebener und ungeschriebener US-Verfassung und damit auch ein halbwegs zivilisierter Umgang von Republikanern und Demokraten miteinander in der Vergangenheit vor allem auf der Basis einer weitgehenden Exklusion rassischer Minderheiten funktionierte. Lange war der Süden des Landes mit seinem starken schwarzen Bevölkerungsanteil, der von den Wahlen weitgehend ausgeschlossen blieb, eine Domäne ausgesprochen konservativer Demokraten, die mit den Republikanern in allen Institutionen kollegial zusammenarbeiteten. Aber seit dem von den Demokraten durchgesetzten Wahlrechtsgesetz von 1965, das den ethnischen Minderheiten das volle Wahlrecht einräumte, hat sich die Situation dramatisch geändert. Heute werden die Demokraten zunehmend von ethnischen Minderheiten gewählt, während die Republikaner immer mehr zur »Partei des weißen Mannes« geworden sind.
Da der Anteil der ethnischen Minderheiten an der Bevölkerung der USA aber ständig weiter zunimmt, geraten die Republikaner offenbar immer deutlicher in eine Panik, die durchaus ähnliche Züge aufweist, wie die von den rechtspopulistischen Parteien in Europa geschürte Angst vor Überfremdung durch zumeist muslimische Einwanderer und Geflüchtete. Das ist vielleicht der wichtigste Grund für die Radikalisierung der Republikanischen Partei. Sie hat seit den späten 90er Jahren, als Newt Gingrich Sprecher der Republikaner im Repräsentantenhaus war, bis heute ständig zugenommen und dazu geführt, dass sich die beiden großen Parteien des Landes bis aufs Messer bekämpfen und die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft mittlerweile ähnlich tief ist wie zur Zeit des Sezessionskrieges im 19. Jahrhundert. Von der für die Stabilisierung der Demokratie in den USA so wichtigen Übereinstimmung der beiden großen Parteien bezüglich der Konventionen der »ungeschriebenen Verfassung«, in die die geschriebene Verfassung lange eingebettet war, ist dabei wenig übrig geblieben.
Dennoch sind die Autoren, was die Demokratie in den USA angeht, nicht ohne Hoffnung. Für die Zukunft nach Trump rechnen sie zwar mit einer weiteren »Abkehr von ungeschriebenen Konventionen und eine sich verschärfende institutionelle Kriegsführung«, sehen aber auch die – auf den ersten Blick ein wenig allzu überschwänglich anmutende – Möglichkeit, eine breite prodemokratische Koalition zu bilden, die »Anhänger von Bernie Sanders mit Unternehmern, Evangelikale mit säkularen Feministen und Kleinstadtrepublikaner mit großstädtischen Unterstützern von ›Black Lives Matter‹ zusammenbrächte« und am Ende für die Republikanische Partei die Chance eröffnete, von der Wagenburg des weißen Mannes zu einer ethnisch und ideologisch bunteren Partei zu werden.
Eine große Rolle wird es zweifellos spielen, ob es in den USA endlich gelingt, ein für das ganze Land einheitlich geregeltes demokratisches Wahlrecht zu installieren, wie es die Demokratische Partei seit Längerem beabsichtigt, aber bis jetzt nie durchsetzen konnte. Bisher haben die einzelnen Bundesstaaten je eigene wahlrechtliche Bestimmungen, was bedeutet, dass die in ihnen regierende Partei die Wahlkreise so zuschneiden kann, dass dadurch die eigene Stimmenmehrheit gesichert wird (das sogenannte gerrymandering), und die Wählerregistrierung durch Bestimmungen soweit eingeengt werden kann, dass ethnische und soziale Minderheiten erheblich benachteiligt werden. Dieses undemokratische Wahlrecht hat den Republikanern auch bei den Midterm-Wahlen des vergangenen Jahres trotz erheblicher Stimmengewinne der Demokraten wieder die Mehrheit im Senat gesichert. Gäbe es in den USA ein wirklich demokratisches Wahlrecht, das zeigen auch Levitsky und Ziblatt, wäre Trump niemals Präsident geworden, denn immerhin erhielt Hillary Clinton fast drei Millionen Stimmen mehr als ihr Gegenkandidat, der mit der Mehrheit der Wahlmänner aus Bundesstaaten mit fragwürdigem Wahlrecht zum Präsidenten gekürt wurde.
Stell dir vor, die Demokratie stirbt, und keiner merkt’s – ist dies heute, auch in Europa, ein vorstellbares Szenario? Die institutionelle Gegenwehr der EU gegen die autoritären Tendenzen in einigen Mitgliedsländern hat spät eingesetzt, zeigt aber inzwischen in Polen, Ungarn und Italien eine gewisse Wirkung. Wichtiger ist aber wohl, dass sich die Zivilgesellschaft in Rumänien, Tschechien, in der Slowakei und in Polen, in letzter Zeit auch in Ungarn gegen allzu selbstherrlich-autoritäre Tendenzen zunehmend zur Wehr setzt. Frankreich ist ein Sonderfall, weil Präsident Emmanuel Macron, bisher einer der Hoffnungsträger eines demokratischen Europas, nun innenpolitisch zunehmend auf energischen Widerstand aus der Peripherie stößt. Aber auch hier zeigt sich, dass die Zivilgesellschaft politisch reifer ist, als die neoliberal geprägten Metropoleneliten zumeist vermuten. Jedenfalls haben die Gilets jaunes bisher alle Versuche der Vereinnahmung durch Marine Le Pen und ihr Rassemblement National strikt abgelehnt und seriöse Untersuchungen legen nahe, dass sich nur ein kleiner Teil der Gelbwesten bei den anstehenden Europawahlen für die Partei von Le Pen entscheiden wird.
Und Deutschland? Seit den überraschenden, aber im Ganzen doch bescheidenen Wahlerfolgen der AfD wächst auch in der deutschen Bevölkerung offenbar wieder die Erkenntnis, dass selbst in einem Land mit nachwirkender doppelter Diktaturerfahrung die Demokratie nie ein für allemal gesichert ist. Die institutionelle Gegenwehr gegen die Verfeindungsstrategie der AfD scheint nach anfänglichen Unsicherheiten Wirkung zu zeigen, im Bundestag ebenso wie in der Medienöffentlichkeit, in der Justiz, dem Verfassungsschutz und bei der Polizei. Die CSU hat, vor allem weil sie erfahren musste, dass sie sich bei den Wahlen nicht auszahlten, ihre Versuche, sich in Inhalt und Form der Politik der AfD anzupassen, vorerst aufgegeben. Die Zivilgesellschaft beweist ein ums andere Mal, dass sie weit mehr Bürger auf die Straße bringt als jeder noch so reißerisch beworbene Aufmarsch von AfD, Pegida und Neonazis. Dennoch ist auch in Deutschland die kulturelle und ökonomische Spaltung zwischen den globalisierten Metropolenregionen und den ländlichen Regionen mit ihren Dörfern und kleinen Städten ein stetig wachsendes Problem, auf das die Politiker erst allmählich aufmerksam werden.
»Die demokratischen Institutionen der Vereinigten Staaten«, schreiben Levitsky und Ziblatt, »wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts mehrfach auf die Probe gestellt, haben aber jede dieser Herausforderungen bestanden«. Es spricht einiges dafür, dass dieser Satz, allen gegenwärtigen Problemen zum Trotz, auch für das Europa des 21. Jahrhunderts gelten könnte. Vorausgesetzt, dass die Politiker in den Nationalstaaten und auf der Ebene der EU endlich die veränderte Realität wahrnehmen, die doktrinäre Praxis der neoliberalen Globalisierung überdenken und etwas zur Behebung der Spaltung zwischen Metropolen und Peripherie unternehmen – und in der Zwischenzeit nicht eine größere ökonomische oder militärische Krise eine allgemeine Panik erzeugt, die die populistischen Demokratiefeinde zu nutzen wissen.
David Goodhart: The Road to Somewhere: The New Tribes Shaping British Politics. Penguin, London 2017, 256 S., 20 £. – Christophe Guilluy: No Society. La Fin de la Classe Moyenne Occidentale. Flammarion, Paris 2018, 242 S., 18 €. – Steven Levitsky/Daniel Ziblatt: Wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun können. DVA, München 2018, 320 S., 22 €. – J. D. Vance: Hillbilly-Elegie. Die Geschichte mei-ner Familie und einer Gesellschaft in der Krise. Ullstein Taschenbuch, Berlin 2018, 304 S., 11 €.
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