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© picture alliance / AP Photo | Matt Rourke

Gedanken für die Zeit danach: In welcher Welt werden wir aufwachen? Stell Dir vor, es ist Krieg – gewesen

Schura: Ich denke, es wird nichts./Harry: Na, dann wird es halt nichts. Man muss es aber trotzdem versuchen, richtig?/Schura: Richtig./Harry: Man darf nicht einfach den Schwanz einziehen, stimmt's?/Schura: Stimmt.

Nicht klein beigeben, alles versuchen, auch wenn die Aussichten finster sind. Als der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan zwei seiner Romanhelden so sprechen ließ, gab es noch keinen russischen Überfall auf die Krim, keine Kämpfe mit Separatisten in Donezk und Luhansk und keinen putinschen Angriffskrieg auf die Heimat des Autors. Und dennoch liest sichder Dialog wie ein aktueller Kommentar auf den Widerstandswillen der Ukrainer:innen gegenüber der russischen Übermacht. Nicht klein beigeben, alles versuchen, obwohl – oder gerade weil – Moskau seine Okkupationsgelüste mit aller verbrecherischen Gewalt durchsetzen will.

Während ich diesen Text schreibe, treffen die ersten deutschen Gepard-Panzer in der Ukraine ein, bereiten sich die EU-Staaten auf einen Gasnotstand vor, verliert das ukrainische Militär zunehmend die Kontrolle im Osten des Landes, fordert Präsident Selenskyj den Westen zu weiteren Sanktionen auf, wird die Region Odessa von russischen Soldaten verstärkt unter Beschuss genommen... Das Sterben, die Vernichtung gehen weiter.

Sollte man sich angesichts von täglichem Leid, Tod und Zerstörung ausmalen, wie es nach diesem Krieg aussehen könnte? Wie die Verhältnisse sein werden? Unbedingt!

Über das Bestehende hinausdenken, das Noch-Nicht antizipieren, ist gerade in Krisenzeiten ein Muss. Es braucht die Erkenntnis des Möglichen, um an der Zukunft zu arbeiten. Eigentlich sollte sich auch noch Hoffnung dazu gesellen, zumal wenn einem das Wasser bis zum Hals steht. Hoffnung als starker Antriebsmotor zum Handeln (wobei damit keineswegs Optimismus gemeint ist, dieses leichtfertige Spiel mit Erwartungen). Gefragt ist begründete Zuversicht. Zuversicht, die daraus entsteht, dass sich die Verhältnisse zum Besseren wenden können, wenn man es richtig anstellt.

Diese Denkrichtung war mir immer vertraut, zum Fatalismus tauge ich wenig. Viel lieber halte ich mich an den schönen Satz von György Konrád: »Der Mensch wird dumm und hässlich, wenn er keine Utopie hat.« Doch wo soll sie derzeit herkommen, die Hoffnung, die Zuversicht – angesichts der Verheerungen, die dieser Krieg auf unterschiedlichsten Ebenen hinterlässt. Angesichts der Einbrüche, Abbrüche, Umbrüche, egal wohin wir auch blicken. Ich bin wohl nicht die Einzige, der langsam die Luft samt lang erprobter Krisenresilienz ausgeht.

Über Jahre war »Disruption« ein Lieblingsbegriff unter Wirtschaftsbossen; viele fanden es wunderbar, wenn bestehende Strukturen zerschlagen wurden und so der Weg frei war für das, was man Innovation nannte. Doch die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Disruptionen, die wir als Folgen des Krieges in Osteuropa erleben, werden mitnichten zu Innovationen führen. Die Ukraine wird wortwörtlich um Jahrzehnte zurückgebombt. Doch auch Europa und viele Teile der Welt werden in ihrer Entwicklung erbarmungslos zurückgeworfen.

Stellen wir uns also vor: Die Waffen schweigen, die russische Aggression ist beendet, Menschen werden nicht mehr getötet, das Land nicht länger verwüstet. Zwar lässt sich nur unter wilden Spekulationen voraussagen, in welcher Form ein Kriegsende in der Ukraine zustande kommen könnte – Verhandlungslösungen, Gebietsabtritte, Zermürbung, Sieg einer Seite? Zudem: Nicht-Krieg ist ja noch lange kein Frieden. Doch weit weniger waghalsig als die Zukunft der Ukraine vorauszusehen, ist die Prognose, in welchem Deutschland wir uns dann wiederfinden werden, in welchem Europa und in welchem globalen Umfeld.

Freiheitsrechte und Demokratie schwinden weltweit

Ein paar Schlaglichter gefällig? Brutal wird der Hunger selbst in Länder zurückkehren, die ihre Bevölkerung zunehmend besser versorgen konnten; die dafür verantwortlichen internationalen Verwerfungen werden sich nach dem Ukraine-Krieg ja nicht in Wohlgefallen auflösen. Die Klimakatastrophe, neben Kriegen die größte selbstverschuldete Menschheitsgeißel, rückt auf der globalen Prioritätenliste nach unten; gleichzeitig bekommt die weltgefährdende Atomtechnologie wieder Konjunktur. Finnland und Schweden suchen den Schutz der NATO; jahrzehntelang gehörte Bündnisfreiheit und militärische Unabhängigkeit zu deren grundlegendem Selbstverständnis.

Wo Hunger, Klimazerstörung und Kriege durch die Blockkonfrontation zunehmen werden, ist das Einfallstor für Autokraten und Diktatoren weit offen; schon seit Jahren schwinden Freiheitsrechte und Demokratie sichtbar in vielen Teilen der Welt. Autoritären Machthabern eröffnen sich neue Erpressungsmöglichkeiten und Freiräume für ihre Gewaltherrschaft.

Und nicht zuletzt sind all diese negativen Dynamiken blankes Gift für die Rechte von Frauen. Weil sie in der Regel für die Versorgung der Familie zuständig sind, treffen Unterernährung, Umweltzerstörung, Krieg und Vertreibung sie in besonders grausamem Maße. Und wo autoritäre – das heißt auch immer frauenfeindliche – Regime herrschen, wird über weibliche Selbstbestimmung nur höhnisch gelacht. Der Weg aus der Unterdrückung wird weltweit noch steiniger.

Fokussiere ich den Blick auf das deutsche Umfeld, gibt es auch da wenig Ermutigendes. Ich will mich auf zwei, drei Punkte beschränken, die mir besonders bitter aufstoßen und ein schales Licht auf die Zeit nach dem Krieg werfen. So habe ich es immer für einen entscheidenden zivilisatorischen Fortschritt gehalten, dass die Bundesrepublik eine quasi entmilitarisierte Zone war. Natürlich nicht faktisch entmilitarisiert. Schließlich gab es die Wiederbewaffnung in den 50er Jahren, den Aufbau militärischer Strukturen, den beständig hohen Wehretat, die Präsenz von NATO-Truppen und -Waffen im Land und so weiter.

Aber in den Köpfen hat in den vergangenen Jahrzehnten ein erstaunlicher Prozess der Entmilitarisierung des Denkens stattgefunden. Beim Irak-Krieg machte die deutsche Regierung, begleitet von großem Beifall in der Bevölkerung, einfach nicht mit. Die Wehrpflicht wurde abgeschafft. Die außenpolitische Position setzte in der Regel auf Stärke durch Diplomatie. Und selbst eine CDU-Kanzlerin Merkel ließ das Gequengel der USA nach Erfüllung des Zwei-Prozent-Ziels bei den Verteidigungsausgaben ins Leere laufen – auch weil sie wusste, dass diese Investition nicht populär wäre.

Sehr treffend beschrieb die US-amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag den deutschen Weg. Als ihr 2003 der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde, sagte sie: »Manchmal muss ich mich kneifen, um sicher zu sein, dass ich nicht träume. Der Vorwurf, den viele Menschen in Amerika Deutschland heute machen, diesem Deutschland, das fast ein Jahrhundert lang solche Schrecken über die Welt gebracht hat, besteht nun offenbar darin, dass sich die Deutschen vom Krieg abgestoßen fühlen, dass ein großer Teil der öffentlichen Meinung im heutigen Deutschland praktisch pazifistisch ist!«

Standing Ovations für Aufrüstung?

Das war einmal. Inzwischen lassen sich unsere Bundestagsabgeordneten zu Standing Ovations hinreißen, wenn der Kanzler ein milliardenschweres Sondervermögen für die Bundeswehr verspricht. Diese Entscheidung mag man für notwendig halten, doch wie kann irgendetwas daran ein Anlass zu Euphorie und Jubel sein? Ist Aufrüstung etwa zu beklatschen?

Begleitet wird die sogenannte »Zeitenwende« von einer erschreckend uniformen Haltung in weiten Teilen der veröffentlichten Meinung. Da tummeln sich Medienvertreter maulheldenhaft in Schützengräben, fordern mal locker den Einsatz der NATO, überschlagen sich bei der Forderung nach noch schwereren Waffen für die Ukraine und spotten über die Warnung des Friedensinstituts SIPRI vor einem Atomkrieg. Warum bieten sie sich nicht gleich beim ukrainischen Präsidenten als Söldner an?

Vor zehn Jahren stellte das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr fest, dass noch nicht einmal ein Fünftel der Deutschen eine Erhöhung des Verteidigungshaushaltes für angebracht hielt. Seit dem Überfall auf die Ukraine aber trifft das Zwei-Prozent-Ziel bei rund 70 Prozent auf Zustimmung. Zugleich sind die Begriffe NATO und Bundeswehr positiv besetzt wie nie. Und eine grüne Außenministerin spricht so nonchalant über »modernstes Kriegsmaterial«, als hätte ihre Partei schon immer ein inniges Verhältnis zu mörderischen Waffen gepflegt.

Um eines klarzustellen: Obwohl ich mich in den 80er Jahren aktiv in der Friedensbewegung engagiert habe, bin ich keineswegs eine in der Wolle gefärbte Pazifistin. So hielt ich beispielsweise den Tyrannenmord immer für eine legitime Option. Die Anwendung tödlicher Gewalt kann unvermeidlich sein. Doch es macht für mich einen Unterschied, ob man einen dem imperialen Wahn verfallenen Schlächter wie Putin und seine Soldateska gezielt und mit allen Mitteln bekämpft – was absolut notwendig ist. Oder ob man militärische Gewalt fraglos und allgemein als legitime Stufe einer Eskalationslogik versteht. Einer Logik, die Gefahr läuft, die Politik zu dominieren und die Köpfe mitsamt Herzen zu infizieren. Selbst wenn die russischen Invasoren gänzlich aus der Ukraine verschwinden sollten, bleibt die Frage, wo es in Zukunft noch Raum geben wird, eine friedlichere Weltordnung überhaupt zu denken, geschweige denn voranzutreiben.

Die Angst vor Putin, die Bedrohung durch Russland, die neu entfachte Blockfehde werden über viele Jahre die Gestimmtheit und die politische Agenda beherrschen. Auch hierzulande. Klar, die Rahmendaten haben sich seit dem Kalten Krieg verändert, aber dessen Mentalität ist knallhart zurückgekehrt. Was für ein Rückfall in üble Zeiten, was für hässliche Aussichten!

Dabei geht es bei der Stimmungslage der Nation nicht nur um den Krieg und seine Folgen, sondern um ein ganzes Wirkungsgeflecht: Corona, Krieg, Inflation, Energienotstand, dazu der allseits spürbare Klimakollaps. Die Bedrohungsszenarien zehren an der gesellschaftlichen Widerstandskraft und höhlen den Glauben an eine erträgliche Zukunft aus. Der innere Frieden im Land droht sich zu zersetzen.

Eine repräsentative Befragung der Hans-Böckler-Stiftung zeigt: Die Furcht angesichts der politischen Weltlage und die materiellen Sorgen angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung bilden eine toxische Mischung aus Ängsten und quälender Verunsicherung. Inzwischen erwarten zwei Drittel der Menschen im Land, dass die »soziale Ungleichheit die Gesellschaft soweit auseinanderdriften lässt, dass sie Gefahr läuft, daran zu zerbrechen«. Dies ist ein tödlich-schleichendes Gift für die Demokratie.

Die elementare Frage nach sozialer Gerechtigkeit drängt mit aller Schärfe erneut ins Bewusstsein. Wenn ein großer Teil der deutschen Bevölkerung fürchtet, dass die Folgen des Ukraine-Kriegs die soziale Schieflage enorm verschärfen werden, muss uns das allen Angst machen. Es ist ein Indikator für Stürme von Entrüstung, die ins Haus stehen könnten. Denn selbst wenn in der Ukraine Ruhe einkehrt, selbst wenn die Inflation abflaut und die Gasspeicher gefüllt werden können, sind die Ursachen dieses Problems ja nicht beseitigt. Die krasse soziale Ungleichheit legt die Lunte an unsere Demokratie und destabilisiert die Gesellschaft.

Angst essen Seele auf ist einer meiner Lieblingsfilme von Rainer Werner Fassbinder. Doch mit der Seele essen Angst auch die Solidarität und die Zuversicht auf. Das ist ein Horrorszenario. Ein Ende des Krieges in der Ukraine ist die erste und wichtigste Hoffnung, die sich erfüllen muss, damit die Zukunft nicht vollends gefressen wird. An allem Weiteren lässt sich dann schließlich trotz düsterer Prognosen irgendwie arbeiten. Wie sagte es der Held von Serhij Zhadan: »Na, dann wird es halt nichts. Man muss es aber trotzdem versuchen, richtig?«

Kommentare (1)

  • Laubeiter
    Laubeiter
    am 18.03.2023
    Vielen Dank für diesen Text! Mich beschäftigt dies: Gibt es auch eine Möglichkeit, sich zu wehren, ohne den dabei eingesetzten Waffen Standing Ovations zu geben, ohne sich zu freuen über Verluste von Menschenleben auf der Gegenseite? Ich finde Überlegungen, wie ein Zusammenleben nach einem Ende des Kriegs aussehen könnte.

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