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Bürgerschaftliches Engagement in Krisenzeiten – existenziell wichtig, aber oft alleingelassen Sternstunden der Zivilgesellschaft

Erst im Dunkeln werden Sterne sichtbar. So sind gesellschaftliche Krisen oder Herausforderungen oftmals auch Sternstunden der Zivilgesellschaft, die das Wirken von Engagierten und ihren Organisationen besonders deutlich zeigen. Der Krieg in der Ukraine und der damit verbundene plötzliche Zuzug von geflüchteten Menschen, die Hochwasser-Katastrophen in den Jahren 2002 oder 2021, der Sommer 2015, als Deutschland mehrere hunderttausend Geflüchtete aus Syrien aufnahm oder die Coronapandemie: Es sind die freiwilligen Helfer und Nachbarn, die für die betroffenen Menschen meist den Unterschied machen.

Unvorhergesehene Krisen treten immer häufiger auf: durch den Klimawandel, militärische Konflikte oder die gesellschaftliche Spaltung. Stets hat ihre Bewältigung eine hohe Dringlichkeit, erfordert schnelle Reaktion und flexible Lösungen. Die Gesellschaft ist in diesen Situationen auf die Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger besonders stark angewiesen. Der Staat allein kann vor allem zu Beginn einer Krise meist nicht schnell genug handeln, im Chaos fehlt ihm häufig der Überblick über die Vielzahl an Herausforderungen vor Ort und vor allem der möglichen Lösungen. Auch die etablierte Zusammenarbeit von Staat und größeren zivilgesellschaftlichen Organisationen, wie etwa den Wohlfahrtsverbänden benötigt bei unvermittelt auftretenden Herausforderungen eine gewisse Planungs- und Anlaufzeit.

Wir alle haben bewegende Bilder von Menschen vor Augen, die in Krisenzeiten helfen, und von Menschen, denen geholfen wird. Sie zeigen noch etwas anderes: Es macht einen Unterschied, ob ich am Bahnhof von einer freiwilligen Helferin mit Essen begrüßt werde oder von einem staatlich finanzierten Catering-Unternehmen. Es macht einen Unterschied, ob meine Nachbarn mir in der Quarantänezeit den Einkauf vor die Tür stellen oder Amazon, ob fremde Menschen mir freiwillig eine private Unterkunft anbieten, wenn mein Haus von Fluten zerstört wurde, oder ob ich auf einem Feldbett in der Sporthalle schlafe (das übrigens in der Regel ebenfalls von freiwilligen Helferinnen und Helfern aufgebaut wurde).

Deutschland verfügt mit freiwilligen Feuerwehren, dem Technischen Hilfswerk und Rettungsdiensten über ein etabliertes System des Bevölkerungsschutzes und der Katastrophenhilfe, das maßgeblich auf Ehrenamtlichen basiert. Auch die Organisationen der humanitären Hilfe und der Wohlfahrt spielen eine tragende Rolle. In Krisenzeiten zeigt sich immer wieder eine hohe Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung. Spontane Hilfe wird geleistet und viele neue Initiativen entstehen. Dabei geht es nicht um ein Randphänomen von wenigen besonders altruistischen Menschen. Bereits wenige Wochen nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine setzten sich laut einer repräsentativen Umfrage der Telquest GmbH etwa 55 Prozent der Menschen in Deutschland aktiv für Geflüchtete aus der Ukraine ein, die Mehrheit mit Sach- und Geldspenden. Ein ähnliches Bild zeigte sich angesichts der Coronapandemie. In knapp einem Drittel der zivilgesellschaftlichen Organisationen in Deutschland setzten sich Engagierte für Betroffene ein.

Hilfe reicht über die Krise hinaus

Engagement und Zivilgesellschaft können also bei der Bewältigung von Krisen eine entscheidende Rolle spielen. Die gesellschaftliche Bedeutung bürgerschaftlichen Engagements (laut dem Gesetz zur Errichtung der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt ist dieses definiert als »der freiwillige, unentgeltliche und am Gemeinwohl orientierte Einsatz einer oder mehrerer Personen auf der Basis der freiheitlichen demokratischen Grundordnung«) geht allerdings weit darüber hinaus, in Krisen schnelle und persönliche Hilfe zu leisten. Das freiwillige Engagement von rund 28,8 Millionen Menschen in Deutschland ist auch im Alltag unverzichtbar. Insbesondere in strukturschwachen und ländlichen Räumen würde es ohne Engagierte an wichtigen sozialen Infrastrukturen fehlen. Viele Angebote etwa in den Bereichen Sport, Freizeit, Bildung, Selbsthilfe oder Katastrophenschutz gäbe es nicht.

Zwar unterscheiden sich die Motive und Wertvorstellungen, die dem eigenen Engagement zugrunde liegen, individuell, sodass auch die gesellschaftspolitische Wirkung des Engagements nicht immer dieselbe ist. Die Gleichung, dass mehr Engagement automatisch mehr sozialen Zusammenhalt und eine stabilere Demokratie bewirkt, muss daher nicht zwangsläufig aufgehen. Denn auch Engagement steht nicht immer auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Nicht in jedem Verein werden demokratische Grundwerte vermittelt. Geschlossene, homogene Gruppen können wie Clubs wirken, exkludierend anstatt inkludierend.

Unter den richtigen Voraussetzungen bietet bürgerschaftliches Engagement allerdings eine große Chance für Integration und Teilhabe in unserer Gesellschaft sowie zur Mitgestaltung und Mitbestimmung in politischen Meinungs- und Willensbildungsprozessen. Im Engagement werden Erfahrungen gesammelt und neue Kompetenzen aufgebaut. Vielleicht am wichtigsten ist die Kompetenz der Selbstermächtigung und Selbstbestätigung. Im Ehrenamt liegt die Chance eine besondere Qualität der Selbstwirksamkeit zu erfahren – sei es die aufgeräumte Straße nach der Verwüstung durch die Flut, das endlich wieder lachende Kind, der Dank für die am Bahnhof vorbeigebrachte Sachspende oder die erfolgreiche Petition – mein Ehrenamt hat die Chance mir zu zeigen: »Ich mache den Unterschied. Ich kann etwas bewegen für mich und andere.«

Der sonst verbreitete Zweifel an dieser Selbstwirksamkeit dagegen ist – wie etwa der Soziologe Wilhelm Heitmeyer vielfach gezeigt hat – ein gefährlicher Quell von Staatsmisstrauen, von Rechtsextremismus und Verschwörungsmythen, deren Feuer die Krise oft zusätzlich nährt. Bürgerschaftliches Engagement prägt durch Selbstwirksamkeitserfahrung das demokratische Bewusstsein, indem das eigene Umfeld mitgestaltet wird. Auch in scheinbar ausweglosen Situationen.

Eine weitere wichtige sozialpsychologische Funktion ist die Vergemeinschaftung. Engagement ermöglicht die Einbindung in eine Gruppe, das gemeinsame Tun außerhalb von Familie, Freunden oder Beruf. Es hat die Kraft, Menschen zusammen zu bringen, die sich ansonsten niemals begegnen würden, etwa weil sie aus sehr verschiedenen sozialen Milieus kommen. Als Begegnungs- und Austauschraum der Gesellschaft kann Zivilgesellschaft eine stabilisierende Rolle für den gesellschaftlichen Zusammenhalt spielen.

Sie kann aber auch soziale Ausgrenzung reproduzieren, wie verschiedene empirische Studien zeigen. So bestätigt der 2021 erschienene Freiwilligensurvey erneut: Menschen mit niedrigem Einkommen, erwerbslose Menschen und Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen sind signifikant weniger bürgerschaftlich engagiert als erwerbstätige Menschen mit höherem Einkommen und höheren Bildungsabschlüssen. Männer übernehmen häufiger ehrenamtliche Führungspositionen als Frauen. Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit engagieren sich seltener als Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit, Westdeutsche häufiger als Ostdeutsche, wenn auch mit abnehmender Tendenz.

Krisenzeiten gefährden auch Engagement und Zivilgesellschaft

In der Krise werden nicht nur die Stärken der Zivilgesellschaft offenbar. Sie ist auch an ihren Schwachstellen besonders verwundbar. Organisierte Zivilgesellschaft und informelles Engagement sind oft selbst stark betroffen von den Folgen einer Krise und geraten an die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit. Während des Lockdowns 2021 konnten nur etwa sechs Prozent der zivilgesellschaftlichen Organisationen ihre Aktivitäten normal fortführen. So verschärfte sich während der Pandemie die bereits prekäre finanzielle Situation vieler Organisationen etwa durch den Ausfall von Einnahmen bei Veranstaltungen, zusätzliche Kosten für größere Räume oder Hygienemittel. Laut Erhebung des ZiviZ (Netzwerk Zivilgesellschaft in Zahlen) kam es zeitweise zu einem Rückgang von 80 Prozent bei den selbsterwirtschafteten Mitteln.

Die Pandemie führte, wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen auch, zu einer erstaunlich schnellen Digitalisierung der Zivilgesellschaft. Gerade anfangs fehlte es überall an digitaler Infrastruktur und an digitaler Kultur – denn Organisationen der Zivilgesellschaft verfügen über eines in der Regel nicht: finanzielle Rücklagen, mit denen sie in ihre Infrastruktur investieren könnten. Gleichzeitig belasten Krisen die öffentlichen Haushalte, sodass gerade auf kommunaler Ebene – also dort wo die Krisen vor allem gemeistert werden müssen – Geld für die Unterstützung von Engagement und Ehrenamt fehlt.

In vielen Vereinen mussten Angebote für die Mitglieder und gemeinsame Aktivitäten aufgrund der Pandemie ausfallen, persönliche Begegnungen wurden weniger. In der Folge kam es teils zu einem Schwund an Vereinsmitgliedern und Ehrenamtlichen. Nicht zuletzt verliefen die Vernetzung und der Austausch untereinander sowie mit Politik und Verwaltung vielerorts schleppend. Informationen flossen nicht schnell genug, viele waren unsicher, ob und wie sie sich etwa in Zeiten des Lockdowns noch engagieren können oder dürfen.

Vor allem sind Ehrenamtliche in der Krise mitunter hohen Belastungen in ihrem Engagement ausgesetzt und, wie alle anderen Menschen auch, gleichzeitig persönlich von den Auswirkungen der Krise betroffen. Gerade mehrfach engagierte Menschen und ehrenamtliche Führungskräfte geraten so an die Grenzen ihrer Belastbarkeit.

Manche dieser Erfahrungen sehen wir auch jetzt angesichts des Kriegs in der Ukraine: Die Ehrenamtlichen, die sich für die geflüchteten Menschen einsetzen, sind teils mit ihren Kräften am Ende. Einige fühlen sich von Politik und Gesellschaft allein gelassen, wenn sie etwa am Berliner Hauptbahnhof zunächst die einzigen sind, die Hunderte ankommende Geflüchtete mit dem Nötigsten versorgen. Es fehlte in den ersten Tagen und Wochen auch jetzt wieder an verlässlichen Informationen, unbürokratischer Unterstützung mit finanziellen Mitteln oder koordinierendem Hauptamt. Dabei braucht es gerade beim Umgang mit schwer traumatisierten Menschen auch Entlastung und Unterstützung für die Ehrenamtlichen.

Eine resiliente Zivilgesellschaft braucht Unterstützung

Aus den sich häufenden Krisen der letzten Jahre und Jahrzehnte haben Zivilgesellschaft, Staat und Wirtschaft allerdings gelernt. Schnell wurden zur Unterstützung der Menschen aus der Ukraine hilfsbereite Akteure und bestehende Netzwerke tätig, die etwa bereits bei der großen Fluchtbewegung 2015/2016 aktiv waren. Es hatte sich in mehreren Krisenzeiten bereits gezeigt: Die gesellschaftlichen Kräfte müssen schnell gebündelt, Wissen und Ressourcen ausgetauscht, Doppelstrukturen vermieden werden. So entstand etwa in Windeseile die Alliance4Ukraine, ein Bündnis von zivilgesellschaftlichen Initiativen und Organisationen, Unternehmen und staatlichen Institutionen mit dem Ziel, ein System an ineinandergreifenden Lösungen für Menschen auf der Flucht zu schaffen.

In Krisenzeiten muss es zum einen schnelle und unbürokratische Hilfen geben – der konkrete Bedarf ist allerdings von Krise zu Krise verschieden. Daher ist schneller sektorübergreifender Austausch unverzichtbar, um den Bedarf vor Ort ermitteln und koordinierte Unterstützung aufbauen zu können. Erforderlich ist zudem ein Förderbaukasten, der, auf die Bedarfe von Ehrenamtlichen abgestimmt, niedrigschwellig finanzielle Förderung ermöglicht.

Zum anderen ist eine resiliente Zivilgesellschaft vonnöten, die Krisenzeiten selbst überstehen und (deshalb) einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung gesellschaftlicher Krisen leisten kann. Es ist schlichtweg unmöglich, sich auf alle denkbaren und undenkbaren Krisenszenarien vorzubereiten. Möglich ist aber, sich auf Unsicherheiten einzustellen und auf ein stabiles Fundament zu stellen. Dafür sind Ehrenamtliche und ihre Organisationen auf nach­hal­ti­ge Infra­struk­tu­reinrichtungen angewiesen, die mit Beratung, Vernetzung oder Qualifizierung unterstützen.

Vereine und andere Organisationen der Zivilgesellschaft müssen ferner selbst über eine ausreichende Infrastruktur verfügen – das können geeignete digitale Möglichkeiten zur Vernetzung sein oder Räume für Begegnungen; hauptamtliches Personal zur Koordination und Begleitung von Ehrenamtlichen oder Übungsgeräte für die Jugendfeuerwehr. Vor allem ist hinreichender Freiraum zur Entfaltung von Engagement, etwa durch den Abbau von unnötigem Verwaltungsaufwand, unabdingbar.

Das sind nur einige der Erfordernisse, die in Krisenzeiten besonders dringlich sind. Und: Was die Zivilgesellschaft braucht, weiß sie selbst am besten. Man muss ihr nur zuhören. Daher ist die wohl wichtigste Handlungsempfehlung: Die Stimme der Zivilgesellschaft muss auf offene Ohren treffen und an der politischen Willensbildung ernsthaft beteiligt werden.

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