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Der »Fall Claas Relotius« ist kein Unfall und keine Katastrophe, sondern Ausdruck des Journalismus à la mode Storytelling oder: Wie die Girlande geadelt wurde

Vor 60 Jahren brachte sich der damals 28-jährige Nachwuchsdichter Hans Magnus Enzensberger mit einigen lauten Trompetenstößen als Medien- und Kulturkritiker ins Gespräch. Alfred Anderschs legendäre Sendung Radio-Essay, bei der Enzensberger als Assistent mitwirkte, strahlte am 8. Februar 1957 im Süddeutschen Rundfunk Enzensbergers Essay »Die Sprache des Spiegel« aus. Am 6. März druckte Der Spiegel die Abrechnung mit dem Magazin nach. Der Essay begründete Enzensbergers Ruf als Polemiker. Sein gut gehegtes und gepflegtes Image als Intellektueller litt nicht einmal darunter, dass er fünf Jahre nach der ätzenden Kritik am Spiegel als langjähriger Kolumnist bei eben diesem in die Tonne geschleuderten Magazin anheuerte. Seither hat sich Enzensberger als »Harlekin« (Jürgen Habermas) vom Dienst im Medienbetrieb bzw. in der »Kulturindustrie«, wie er im Anschluss an Theodor W. Adorno schon 1957 sagte, einen Namen gemacht.

Liest man Enzensbergers Kritik am »deutschen Nachrichtenmagazin« heute, fällt zunächst auf, auf welch schmaler Faktenbasis er das Blatt kritisiert. Der Autor holt mächtig aus, aber der Eindruck verfestigt sich bald zur Gewissheit, dass er sich auf sehr dünnem Eis bewegt. Drei Beispiele zeigen die argumentative Brüchigkeit und das Improvisatorische des Essays. Die langfristige Wirkung des Rundumschlags war gleich null und der Kritiker machte bald seinen Frieden – zuerst mit dem Magazin an sich, später mit der narrativ aufgehübschten Schaumschlägerei in Spiegel-Manier – etwa in »Ausblicke auf den Bürgerkrieg« (Der Spiegel 25/1993) oder »Wehrt Euch gegen die Bananenbürokratie!« (FAZ 3.2.2010), einer grobianisch-einfachen Abrechnung mit der EU.

Für den zentralen Vorwurf, Der Spiegel verletze den Anspruch eines »Nachrichtenmagazins«, weil er Nachrichten durchgehend personalisierend kostümiere, bringt Enzensberger genau ein Beispiel: Den Volksaufstand in Ungarn 1956 verpackte Der Spiegel in eine Titelgeschichte über den ungarischen Ministerpräsidenten Imre Nagy (1896–1958). Wenn Enzensberger hier dann diagnostisch von der leichtfertigen Personalisierung mit einem Sprung auf »totalitäre Schlagworte von Führerprinzip und Persönlichkeitskult« kurzschließt, verhebt er sich gehörig am vergeblichen Unterfangen, Hitler und Stalin auf einmal zu stemmen. So wenig man den Volksaufstand in Ungarn auf Nagy zentrieren kann, so wenig bilden Der Spiegel und Claas Relotius heute den Skandal des Journalismus à la mode – des Storytelling-Journalismus.

Dass im Textgenre »Story« bzw. »Titelgeschichte« komplexe politisch-soziale Prozesse und Zusammenhänge mittels Anekdoten, Spekulationen, Klatschgeschichten, Legenden und Histörchen zu Geschichtchen zerkleinert und in mundgerechten Häppchen serviert werden, ist zutreffend. Aber die argumentative Schärfe Enzensbergers verdampft mangels Belegen zum halbgaren Aperçu, denn Storytelling ist mehr als eine »Masche« oder »Mode«, sondern eher so etwas wie die Mutter des aktuellen Spiegel-Skandals und ähnlicher Vorgänge in der Vergangenheit. Der Rat, Artikelanfänge und ganze Texte so zu drechseln, dass sie den Leser gleichsam in die »Geschichte hineinziehen«, ist längst zum flächendeckend anerkannten Hausmittelchen geworden. Krawatten- und Pulloverfarbe, Frisur und Make-up, Hausnummer und Automarke haben Argumente, Informationen, Interessenlagen und Konfliktlinien ins zweite Glied verdrängt. Was hat Peter Sloterdijks Gerede oder Geschreibe mit seiner Frisur zu tun? Die Girlande wird zur Botschaft geadelt.

Ungeachtet der Schwächen und Untiefen dieser Kritik sowie abgesehen von deren schmaler Belegbasis hat Enzensberger mit Blick auf die Personalisierung und die Umwertung von Reportagen und Berichten zu Geschichtchen, der Keimform des Storytelling-Journalismus, damit schon entscheidende Bemerkungen zum aktuellen Skandal gemacht. Was Enzensberger damals allenfalls en passant und punktuell feststellte, hat sich inzwischen im Schnellgedruckten zur Seuche ausgewachsenen, nicht zuletzt dank akademisch-wissenschaftlichem Beistand.

Mätzchen des Jargons

Storytelling hat seine dürftige intellektuelle Basis in der Erzähltheorie. Deren Axiom ist der locker herzitierte »Zweifel an der Durchsetzbarkeit einer glatten Trennung zwischen Vernunft und Wahrheit einerseits, Erzählung und Lüge andererseits« (Albrecht Koschorke). Diese »Theorie« trug dem Autor zwar 2003 den angesehenen Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis ein, aber was bedeutet das schon in einer akademischen Welt, die dem Nachwuchs im Journalismus wie in der Wissenschaft die Nicht- Unterscheidbarkeit von Mythos und Logos, von Legende und Geschichte, von Lüge und Realität unterjubelt und damit die Konsistenz von Texten zur Geschmacksfrage oder Beliebigkeit postmoderner Befindlichkeiten erklärt?

Für Enzensbergers Einwand, »der allgegenwärtige Jargon« des Magazins überwuchere alles, worüber es berichte, benennt der Autor die sprachlichen Mittel ganz allgemein: Modewörter, saisonal wechselnder Slang bzw. Sound, rhetorische Accessoires und syntaktische Gags. Aus Rudolf Augsteins pragmatischer Forderung nach einem »knappen, farbigen Deutsch« im Magazin ist längst ein Jargon und eine sprachliche Masche geworden. Es gehört zu den Verdiensten von Enzensbergers Kritik, dass er diesen Trend im Journalismus früh erkannt hat. Sein Beleg dafür war der Bericht über die Schlussfeier der XVI. Olympischen Sommerspiele in Melbourne 1956. Darin wird Sport in spiegeltypischer Diktion als »Muskelkrieg« drapiert – aus dem einzigen Grund, weil Soldaten der englischen Königin bei der Schlussfeier ein paar Salutschüsse abgaben. Das Beispiel steht für einen »allgegenwärtigen Jargon«, der die Nachrichten mit einem Netz überziehe. »Eine detaillierte Analyse« erklärte Enzensberger vom Hochsitz des souveränen Kritikers herab für überflüssig! Damit blieb auch der Kern des Problems, das Storytelling und dessen Verhältnis zu Bericht und Reportage im Journalismus, unterbelichtet. Die sprachlichen Mätzchen des Jargons, den Enzensberger beleuchtete, bilden nur die Oberfläche des Problems: Die Mätzchen gehören heute zur Grundausstattung des Journalismus und werden in Journalistenschulen gelehrt und gelernt, ja als Normen in Regelwerke aufgenommen. Sie machen das in unseren Medien dominierende Öd- und Blöd-Deutsch aus, mit dem man Reporterpreise gewinnt. »Sind Sie noch am Fokussieren oder Positionieren Sie schon?«

Restaufklärung im Kitsch ertränkt

In zwei kurzen Zusätzen zum Spiegel-Essay in der Druckfassung von 1962 kommt Enzensberger auf politische Implikationen des Storytelling-Journalismus zu sprechen. Schon im ursprünglichen Essay hatte er die krude Übersetzung des Spiegel von »compagnon de route« mit »Reisegefährte« reflexartig als eine »Diffamierung der Intellektuellen« gedeutet, die »auf faschistische Sprachregelungen« zurückgehe. Das war immerhin noch eine grobschlächtige Improvisation. Im Zusatz von 1962 deutete er die Angst von Kritikern vor dem »Beifall von der falschen Seite« als »ein Charakteristikum totalitären Denkens«, weil es auf der trivialen Devise beruhe: »Was dem Gegner nützt, muss unterbleiben. Was der eigenen Seite nützt, geschieht«. Dieses Niveau hat der Storytelling-Journalismus längst unterboten. In seiner Syrien-Reportage anhand der Beschreibung des Lebens eines halbwüchsigen Mädchens kommt Claas Relotius völlig politikfrei daher: Er kennt weder »Gegner« noch »Nutzen«, sondern nur noch vermeintlich reflexions-, argumentations- und interessenfreie Augenzeugenschaft und räkelt sich in seinen »Storys« in der gefühlig-verlogenen Unmittelbarkeit des historischen Präsens des Boulevardjournalismus. Witterte Enzensberger hinter dem Spiegel-Journalismus immerhin noch die – abwegige – Absicht, »die« Herrschenden ließen »das« Bestehende durch »die« Medien absegnen und belebte damit nach Ansicht seines Biografen Jörg Lau »das alte Schema vom Priesterbetrug« – also von vulgarisierter, plattgewalzter Aufklärung, so setzt Relotius’ Storytelling-Journalismus dagegen auf die rührende, wahrscheinlich erfundene Geschichte über syrische Mädchen in bösen Zeiten. Die Restaufklärung, die Lau Enzensberger noch zubilligte, wird hier im Kitsch ertränkt.

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