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Wo zeigen sich Baustellen im deutschen Gesundheitssystem? Stresstest Corona

Die COVID‑19-Pandemie bestimmt seit Beginn des Jahres 2020 weltweit die Schlagzeilen und hat sehr schnell auch den Alltag in Deutschland stark verändert. Dabei kam sie keineswegs völlig überraschend. Expertinnen und Experten haben schon seit Längerem mit einer wie auch immer gearteten Influenza-Pandemie gerechnet und insbesondere unter dem Eindruck der SARS-Epidemie 2003 und der H1N1-Influenza – der Schweinegrippe – 2009 auch Vorkehrungen getroffen, einer solchen Pandemie zu begegnen. Der Nationale Pandemieplan (NPP) wurde 2017 veröffentlicht und enthält detaillierte Überlegungen zu den Bereichen Überwachung (Surveillance), Diagnostik, dem Ergreifen hygienischer Maßnahmen, der medizinischen Versorgung sowie möglicher Impfungen. Auch die erforderlichen Strukturen und Prozesse auf Bundes- und Länderebene wurden beschrieben. Der NPP definiert vier infektionshygienische Ziele, die mittels geeigneter Maßnahmen erreicht werden sollen. Dabei ist »die Anpassung der Strategie an die jeweilige Situation (…) als kontinuierlicher Prozess« geeigneter, d. h. die jeweilige Zielsetzung orientiert sich am Verlauf der Pandemie.

Das erste Ziel ist »die frühe Erkennung und Eindämmung (detection & containment)«. Diese Aufgabe kommt in besonderer Weise dem Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) zu, der laut Infektionsschutzgesetz die Aufgabe der Überwachung und Nachverfolgung bzw. Unterbrechung der Infektionsketten durch Anordnung von (Absonderungs‑)Maßnahmen hat. Allerdings hat die Herausforderung durch die Pandemie bereits vorher bestehende strukturelle Schwächen des ÖGD und mit ihm der Gesundheitsämter deutlich und für alle sichtbar gemacht. Begriffe wie »kaputtgespart« wurden in den Medien reichlich verwendet, um auf die desolate Lage der Ämter und ihre mangelhafte personelle und materielle Ausstattung zu verweisen. Medizinstudierende, Bundeswehrangehörige und Mitarbeiter/innen des (aufgrund ausgesetzter Qualitätsprüfungen und Vor-Ort-Begutachtungen) nicht voll ausgelasteten Medizinischen Dienstes füllten die ausgedünnten Reihen.

Der ÖGD hat in Deutschland lange – historisch bedingt – eine untergeordnete und weitgehend unbeachtete Rolle gespielt. Der unrühmliche Part, den Gesundheitsämter und Amtsärzte in der Zeit des Nationalsozialismus bei der Durchsetzung der »Rassenhygiene« gespielt haben, führte dazu, dass deren Marginalisierung nicht nur in Kauf genommen, sondern zunächst sogar gewünscht wurde. Die Schwäche des ÖGD steht im Gegensatz zu einer vergleichsweise guten medizinischen Versorgung und der starken Position niedergelassener Ärztinnen und Ärzte. Unter den OECD-Ländern steht Deutschland nach Japan und Südkorea auf Platz 3 bei der Anzahl an Krankenhausbetten je 1.000 Personen, im Bereich der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte mit 4,3 pro 1.000 Personen auf Platz 5. Dementsprechend hat die ambulante und stationäre medizinische Versorgung der mit SARS‑CoV‑2-Infizierten und -Erkrankten denn auch überwiegend gut funktioniert.

Die Gesundheitsämter allerdings konnten der Vielzahl von Aufgaben, die die Pandemie mit sich brachte und die sie nicht zuletzt im Rahmen des NPP zu erfüllen hatten, nicht oder nur mithilfe der oben skizzierten externen Verstärkung nachkommen. Die politisch gewollte Föderalisierung des ÖGD führte dazu, dass Kontaktnachverfolgung über Kreis- oder Landesgrenzen hinweg problematisch war. Das vorhandene länderübergreifende »Surveillance Outbreak Response Management and Analysis System«, kurz SORMAS, konnte, musste aber nicht genutzt werden; somit erschwerten diverse digitale und teilweise auch noch analoge Informationssysteme einzelner Bundesländer das Schnittstellenmanagement untereinander, mit den jeweiligen Kommunal- und Landesbehörden und mit dem RKI.

Die zweite Zielsetzung infektionshygienischer Maßnahmen besteht laut NPP im »Schutz vulnerabler Gruppen (protection)«, also der Personengruppen mit einem erhöhten Risiko für schwere Krankheitsverläufe. Dies betrifft im Fall von COVID‑19 insbesondere die älteren und alten Menschen sowie diejenigen mit Vorerkrankungen und folgend auch die sie betreuenden Personengruppen, z. B. medizinisches Personal oder pflegende Angehörige. Im Fokus der Aufmerksamkeit standen schnell besonders die Bewohner stationärer Altenpflegeeinrichtungen.

In der ersten Phase der Pandemie mussten infolge der unzureichenden Ausstattung der Pflegeheime (übrigens auch anderer medizinischer Einrichtungen) mit Schutzkleidung und -masken Pflegeheimmitarbeitende häufig kreativ werden, um Material in ausreichendem Maße zu beschaffen oder zu improvisieren. Der NPP konstatiert in diesem Zusammenhang, dass die Bevorratung mit »Schutzkleidung und anderen Utensilien« in der Verantwortung der jeweiligen Einrichtung liege. Vor dem Hintergrund der gesammelten Erfahrungen sollte diese Bevorratung – beispielsweise im Rahmen der regelmäßig stattfindenden Visitationen seitens der Heimaufsicht – auch überprüft werden, damit die Einrichtungen im Bedarfsfall vorbereitet sind. In diesem Zusammenhang sei nur kurz darauf verwiesen, dass der beschriebene Mangel natürlich auch das ambulante Pflegesetting betrifft und dass insbesondere auch private Pflegepersonen lange auf Hilfe und Unterstützung warten mussten. Auch eine Impfpriorisierung dieser Personengruppe ließ – je nach Bundesland – vergleichsweise lange auf sich warten.

Die dritte infektionshygienische Zielsetzung ist die »Folgenminderung (mitigation)«, also eine »Überlastung der Versorgungsstrukturen« zu vermeiden.

Eine in diesem Zusammenhang vorgeschlagene Maßnahme zur Verhinderung von Infektionsketten besteht laut NPP in der Kontaktreduzierung. Bewohner/innen von Pflegeeinrichtungen sollen möglichst in Einzelzimmern untergebracht sein, gegebenenfalls ist eine Kohortenisolierung vorgesehen. Gemeinschaftsaktivitäten können im Rahmen der Maßnahmen zum Schutz vulnerabler Gruppen eingeschränkt werden. Im Gegensatz etwa zu Krankenhäusern sind Besuchsregelungen oder gar Besuchsverbote laut NPP für Pflegeheime nicht vorgesehen. Tatsächlich wurden durch die dafür zuständigen Landesbehörden Kontaktbeschränkungen und Betretungsverbote auch und gerade für Pflegeeinrichtungen sehr schnell verfügt. Die faktische Schließung vieler Pflegeeinrichtungen und das damit einhergehende Besuchsverbot haben in der ersten Welle der Pandemie eine deutliche Übersterblichkeit in den Pflegeheimen noch verhindern können, in der zweiten Welle allerdings war die Übersterblichkeit mit 80 % im Vergleich zum mehrjährigen Mittel massiv. Welche Folgen diese Kontaktbeschränkungen beispielsweise auf kognitive Fähigkeiten, Einsamkeitsgefühle und Mobilität der Betroffenen oder die Trauerarbeit von Angehörigen im Todesfalle hatten, wird erst nach und nach deutlich und kann beispielsweise im kürzlich erschienenen »Pflegereport 2021« nachgelesen werden. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) hat in diesem Zusammenhang ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, demzufolge die »negativen Auswirkungen der Maßnahmen« deutlich stärker in den Blick genommen werden müssen. Das Dilemma von nicht ausreichenden und gleichzeitig zu restriktiven Maßnahmen aufzulösen bzw. einen gangbaren Weg für zukünftige Pandemien zu schaffen sollte die Aufgabe derjenigen sein, die mit den Erfahrungen der COVID‑19-Pandemie den aktuellen NPP überarbeiten und neu auflegen.

Auch wenn diese Ausführungen die Auswirkungen auf die Älteren in besonderer Weise fokussieren, soll nicht vernachlässigt werden, dass die Folgen der verfügten Kontaktbeschränkungen in allen Bevölkerungsteilen – seien es etwa Kinder und Jugendliche, Studierende, Familien oder Erwerbstätige – in oft gravierender Weise spürbar geworden sind.

Die vierte Phase der infektionshygienischen Maßnahmen betrifft die »Erholung (recovery)«. Hier heißt es, dass in den Zeiten zwischen den einzelnen Pandemiewellen und nach Abklingen der Pandemie geprüft werden muss, welche Maßnahmen fortgeführt werden sollen. Der NPP spricht diesbezüglich von einer lageabhängigen und situationsangepassten Deeskalation. Nun, im Spätsommer 2021 ist es sicherlich zu früh, zu einem abschließenden Urteil zu gelangen, es stellt sich allerdings die Frage, ob die pandemischen »Wellentäler« ausreichend genutzt wurden (und werden), um Vorkehrungen für die nächsten Wellen und den Schutz der Bevölkerung zu treffen.

Die Pandemie hat auch Deutschland zwar nicht völlig überraschend, aber dennoch mit großer Wucht getroffen. Vielerorts herrschten zunächst Mangel und Verwirrung. Es lässt sich festhalten, dass die medizinische Versorgung sowohl im ambulanten wie auch im stationären Sektor relativ schnell und vergleichsweise reibungsarm anlief (trotz teilweise fehlender Ressourcen wie Schutzkleidung und ‑masken und des Mangels an Fachpersonal), gleichzeitig offenbarten andere Bereiche gravierende und grundlegende Schwächen. Insbesondere der ÖGD als gelegentlich sogenannte 3. Säule des Gesundheitssystems (neben stationärer und ambulanter Versorgung) geriet aufgrund fehlender personeller und materieller Ressourcen in den Fokus, ebenso wie die stationäre und ambulante Langzeitpflege.

Das Augenmerk, das jetzt auf dem ÖGD liegt und das seitens der Politik auch schon mit einem vier Milliarden Euro schweren »Pakt für den ÖGD« unterstrichen wurde, darf nun nicht in einem – jetzt besser finanzierten – »Weiter so« münden. Die Autorinnen und Autoren des Zukunftsforums Public Health formulieren in ihrer Stellungnahme zum Pakt für den ÖGD, dass „(…) strukturelle Veränderungen, (…) ein Blick auf gesundheitliche Chancengleichheit; die Multiprofessionalität und Interdisziplinarität der Arbeit (…) und eine proaktive Wahrnehmung von Planungs- und Koordinationsaufgaben« notwendig seien, um Gesundheitsförderung und einen situationsbezogenen Blick auf die Gesundheit der Bevölkerung zu stärken. Die bereits erwähnte post-pandemische Phase der Erholung sollte dringend genutzt werden, um den ÖGD unter diesen Gesichtspunkten neu und stärker im Gesundheitssystem zu verankern, damit dieser seiner ihm zugedachten Schlüsselrolle in einem pandemischen Geschehen auch gerecht werden kann.

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