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Wie junge Autorinnen aus deutsch-türkischen Familien derzeit die Literaturlandschaft aufmischen Streulichter und Schieflagen

Wenn Lichtstrahlen etwa durch Staubpartikel gebrochen werden, entsteht ein diffuses Streulicht, das gerade in Dämmerstunden unheimlich wirkt. Vor allem in der Nähe von Industrieanlagen ist das Phänomen zu beobachten. Und mögen die Emissionen noch so umweltschädlich sein, sie erzeugen eine faszinierende Ästhetik des Gebrochenen. In diesen Lichtverhältnissen, und zwar im Frankfurter Arbeitervorort Sindlingen, ganz in der Nähe von Chemiefabriken und Müllverbrennungsanlagen, spielt der Debütroman der 1988 in Frankfurt geborenen Schriftstellerin Deniz Ohde.

Der klug gewählte Romantitel Streulicht darf auch als literarisches Programm verstanden werden. Die namenlose Erzählstimme streift im Nebel ihrer schmerzhaften Erinnerung umher, nähert sich großen und kleinen Bruchstellen ihrer Vergangenheit, sieht Zusammenhänge und entfernt sich wieder von allzu einfachen Erklärungen für ihren Lebensweg.

Kindheit und Jugend sind von Lieblosigkeiten und ästhetischen Zumutungen, von biografischer Zerrissenheit und dem Gefühl geprägt, bloß nicht aufzufallen. Die Mutter war aus der Türkei vor Armut und Eintönigkeit »in einem Fünfhundert-Seelen-Dorf an der Schwarzmeerküste« nach Deutschland geflohen. Der Vater, ein Mann der Arbeiterklasse, »tunkte vierzig Jahre Aluminiumbleche in Laugen, vierzig Stunden die Woche«. Er kann nichts wegwerfen, aus Angst, etwas Wertvolles zu verlieren.

Weil die Familie keinen Halt bietet, weil die Mutter im Märchenton über ihre Herkunft spricht, der Vater die Tochter aus falschem Klassenbewusstsein kleinredet, statt sie aufzubauen, weil die Probleme in der Schule daheim kein Thema sind, weil sich die Eltern nicht mit dem alltäglichen Rassismus und den Demütigungen beschäftigen wollen, die ein Arbeiterkind auf dem Gymnasium zu erleiden hat, weil die Mutter bald stirbt und der Vater sich vollends zum Messi entwickelt, scheint der Weg der Erzählerin vorgezeichnet zu sein. Doch es gibt einen Kipppunkt, als sie eine Abendschule besucht, eine Lehrerin ihr Mut macht, eine Klassenkameradin ihr fast schon beschwörend mitteilt, »du kannst noch alles retten«. Sie kämpft sich zum Abitur, wird Einser-Schülerin, möchte studieren.

Es ist vermutlich kein Zufall, dass der autobiografisch grundierte Bildungsroman hierzulande eine literarisch versierte Neuauflage ausgerechnet von jungen Autorinnen mit deutsch-türkischem Hintergrund erfährt. Geprägt von den unterschiedlichen Herkunftsländern der Eltern, haben diese Autorinnen und ihre Romanfiguren eine Mehrfach-Emanzipation zu leisten: Mit der weiterführenden Bildung verlassen sie ihre sozialen und kulturellen Milieus, entwickeln zwangsläufig eigenständige Positionen an den Bruchstellen der Gesellschaft, entfernen sich von mütterlichen und väterlichen Meinungen gleichermaßen, suchen nach neuen Modellen, etwa was Paarbeziehungen und Körperidentitäten angeht.

Genau das ist der Humus, auf der hierzulande eine politisch offene und künstlerisch avancierte Literatur gedeiht. Diese Form der postmigrantischen Prosa ist derzeit eindeutig weiblich. Der familiäre Status quo scheint diesen Autorinnen zu wenig zu bieten, die Chancen auf kreative Selbstverwirklichung sind für sie indes nie größer gewesen. Und die ästhetischen Möglichkeiten werden genutzt. Beispielsweise auch von Yade Yasemin Önder in ihrem furiosen Romanerstling Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron.

Schon der merkwürdige Buchtitel zeigt, dass die Schriftstellerin keiner gewöhnlichen Erzählform folgt. Die Einstiegsszene ist ein verrückt-symbolisches Familienmärchen. Eine namenlose Erzählerin skizziert die Umstände ihrer Geburt: Auf einer Wiese sei sie auf die Welt gekommen, und zwar »ein Jahr nach Tschernobyl«. Dort habe der Vater eine »Dreizimmerwohnung im Park« gebaut. Ein marodes Heim auf feuchtem Boden, die »Füße faulten sicherlich, doch das war uns egal.« Eine merkwürdige Bleibe, vor allem im Winter, »aber meine Mutter bestand nicht auf einer Badewanne«. So rätselhaft die Metaphern zunächst erscheinen, so konzentriert und kraftvoll schleudert sich zu Beginn die Erzählerin in eine Romanwelt, die von chaotischen und niederschmetternden Beziehungen handelt.

2018 gewann Önder mit bulimieminiaturen den Berliner Literaturwettbewerb open mike. Aus dem preisgekrönten Skript ist dann ein kleinteiliger, sperriger und doch in sich geschlossener Roman entstanden, der einen erstaunlichen Lesesog entstehen lässt. »Schieflage« ist ein sprechendes Wort, das immer wieder in den Text eingestreut wird. Ständig passiert etwas Grauenhaftes, das den literarischen Gesamtkontext zersplittert. Einmal stürzt der stark übergewichtige Papa in eine sich drehende Kreissäge. Das achtjährige Kind sieht überall Blut, »wie in einem Menschenschlachthaus«.

Physische und psychische Identitätssuche

Die Fettleibigkeit bleibt auch nach dem Tod des Vaters ein Menetekel. Weil die Tochter daheim mit riesigen Lebensmittelmengen konfrontiert ist, versucht sie sich vom Elternhaus auch durch eine selbstzerstörerische Magersucht zu distanzieren. Je mehr Wurstsemmeln »mit extra Schmalz« von der übergriffigen Mutter auf den Tisch gestellt werden, desto schneller scheint das Mädchen abzunehmen. Das Buch bietet damit nicht nur ein Familiendrama, sondern auch eine Coming-of-Age-Geschichte (bekanntlich ein Subgenre des Bildungsromans). Die physische und psychische Identitätssuche ist besonders beschwerlich, da die Eltern der deutschen Mutter regelmäßig ressentimentgeladene Bemerkungen über die türkische Herkunft des Vaters machen.

Beim Leichenschmaus, zu dem es »Torte und Frikadellenbällchen« gibt, spricht die »Mutteroma« von den »Orientalischen«, wenn die türkische Verwandtschaft gemeint ist. Die Erzählerin sitzt hilflos dazwischen, fühlt sich als »Mischling aus meiner Mutter und meinem Vater« – auch weil der Opa sie so bezeichnet. Statt den Irrsinn solcher Formulierungen, das Abschätzige dieser Denkweise zu erkennen, simulieren die Deutschen wohlmeinendes Interesse und führen sich auf wie im Zoo: »Angeregt werden nun die Fremden in all ihrer Befremdlichkeit betrachtet.« Dass die türkischen Gäste keine Bratlinge aus gemischtem Hack essen, begreift die deutsche Seite erst, als das Besteck der entsetzten Muslime auf Teller und Boden fällt.

Önders Prosa lebt vom schroffen Sprachspiel, von der rotzigen Pointe. Die gelingen der Autorin insbesondere in jenen Kapiteln, die von Versuchen der bald pubertierenden Erzählerin handeln, mit notgeilen Jungs anzubandeln. Die Kontaktaufnahme geht reihenweise schief, und oft liegt es am Essen, dass sich aus der erotischen Verheißung eine körperliche Horrorvision entwickelt: »Als das matschige Tiramisu auf die Teller klatscht, fällt mir plötzlich sein schwulstiger Arsch auf. Das war doch vorher nicht so? Innerhalb von Sekunden wächst und wächst der weiter, wird so groß, dass er sich auf gleich zwei Stühle setzen muss« .

Was amüsant daherkommt, zeigt auch die Untiefen der Erzählerin. Die Mutter weiß mit den Hilferufen des kotzenden und herumvögelnden Teenagers nicht umzugehen. Das bulimische Mädchen landet bald in einer Klinik, in der zwar Medikamente verschrieben werden, die »das Symptom« in Schach halten, doch die Ursachen für das haltlose Leben werden damit nicht angegangen. Erst das Erzählen der vielen schmachvollen Erlebnisse scheint zum wirksamen Therapeutikum zu werden.

Es werden aber nicht nur die eigenen Erfahrungen umkreist, sondern auch die Demütigungen, die der Vater als Kurde in der Türkei zu ertragen hatte. Dabei geht es Önder nicht darum, Leerstellen zu füllen, allerlei Gründe nachzuzeichnen, die etwa zur Fressmanie des Vaters und zur Magersucht der Tochter geführt haben könnten. In ihren Suchbewegungen setzt die Autorin auf das literarische Verfahren der grotesken Variation, das neue Sichtweisen auf die Geschehnisse und damit auch auf das Erzähl-Ich ermöglicht.

In einem zentralen Kapitel wird zunächst ein gewaltsamer Sexualakt beschrieben, der dann so variiert wird, dass im Zusammenspiel vollkommen verschwimmt, wer in der Szene tatsächlich gewalttätig geworden ist. Was aber heißt es für das Erinnern und ganz generell für das literarische Schreiben, wenn Erzählungen doch nur eine unter vielen Wahrheiten enthalten? Die 1985 in Wiesbaden geborene Önder verweist im Nachklapp auf den französischen Surrealisten Raymond Queneau, der in seinen Stilübungen ein ähnliches Verfahren angewendet hat.

Dieser fast schon bildungsbürgerliche Bezugsrahmen ist auch deshalb so überraschend, weil er sich von der Eindimensionalität nicht weniger Migrations- und Identitätsgeschichten, die in den vergangenen Jahren hierzulande erschienen sind, deutlich abhebt. Yade Yasemin Önder lässt es scheppern, versteht sich aber auch auf die leisen Töne. Sie kann Sätze formulieren, die sich wie expressionistische Gedichtzeilen lesen. Und sie hat ein Gespür für literarische Komik, die nicht nur die Lesenden, sondern eben auch die leidenden Figuren brauchen.

Weniger lustig, dafür dezidiert politisch ist Anna Yeliz Schentkes Romandebüt Kangal. Die Autorin ist 1990 in Frankfurt geboren und dort auch aufgewachsen. In den biografischen Angaben zum Buch heißt es, Ende 2015 sei sie das letzte Mal in Istanbul gewesen. Ein halbes Jahr später scheitert der Militärputsch in der Türkei. Für Dilek ändert sich damit alles. Die Hoffnung, ihr Heimatland würde sich insbesondere nach den Gezi-Protesten liberalisieren, erfährt ein jähes Ende. Sie geht in den virtuellen Untergrund, betreibt unter dem Decknamen Kangal, dem Namen eines türkischen Hirtenhundes, Opposition im Internet. Weil sie den Präsidenten kritisiert, drohen ihr Denunziation und Verhaftung. Sie flieht zur Verwandtschaft nach Deutschland, aber dort mag man ihr kaum glauben, als sie von einer App erzählt, über die Türken in aller Welt oppositionelle Landsleute verraten können. Auch Cousine Ayla rätselt, wie sie mit Dileks Paranoia umgehen soll.

Schnell sind die Schnitte zwischen den Perspektiven in diesem Roman, der abgesehen von der Beschreibung des türkischen Überwachungsterrors auch die oftmals bizarr affirmative Haltung vieler Deutschtürken gegenüber der Diktatur am Bosporus beschreibt. Als würden die in einem dichten Nebel leben, der noch die schärfsten Ecken und Kanten weichzeichnet. Auch dieses Buch ist ein Bildungsroman, allerdings hat nicht die Hauptfigur zu lernen, sondern das Publikum.

Die erwähnten Texte eint die Härte, mit der die Protagonistinnen ihren Weg der Aufklärung gehen. Statt politisierende Thesenromane zu veröffentlichen, finden diese Schriftstellerinnen künstlerisch versierte Antworten auf ihre inhaltlichen Fragen.

Deniz Ohde: Streulicht. Roman. Suhrkamp, Berlin 2020, 285 S., 22 €. – Yade Yasemin Önder: Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron. Roman. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2022, 256 S., 22 €. – Anna Yeliz Schentke: Kangal. S. Fischer, Frankfurt am Main 2022, 206 S., 21 €.

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