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Koalitionsoptionen vor den Bundestagswahlen 2017 Strukturelle Dominanz der CDU, begrenzte Möglichkeiten der SPD

Alleinregierungen sind im Bund keine realistische Option. Nur ein einziges Mal, im Jahr 1957, konnte die CDU/CSU eine absolute Mehrheit der Mandate erringen. Gleichwohl bildete die Partei ein Bündnis mit der konservativen Deutschen Partei (DP), deren Minister im Laufe der Legislaturperiode schließlich zur CDU übertraten. Anders als in anderen Ländern gelten in Deutschland Minderheitsregierungen oder sogenannte »surplus coalitions«, die (wie 1957) aus mehr Parteien als es für eine Mehrheitsbildung zwingend erforderlich wäre bestehen, nicht als Normalfall des Regierens. Regelmäßig werden vielmehr »minimal winning coalitions« gebildet, die durch den Austritt eines Partners die parlamentarische Mehrheit verlören. Angesichts dieser für deutsche Regierungsbildungen typischen Situation wird alle vier Jahre mit Beginn des Wahlkampfes die Frage gestellt, welche Parteien sich voraussichtlich zu einer solchen Mehrheitskoalition zusammenschließen könnten.

Koalitionspolitische Kalküle der Parteien wirken auf deren Wahlkampfstrategien zurück. Die Parteien betonen zwar in der Regel mit Nachdruck die Eigenständigkeit ihrer Positionen, gleichzeitig jedoch signalisieren sie potenziellen Bündnispartnern ihre programmatische Anschlussfähigkeit, indem sie sich zu bestimmten Positionen bekennen oder umstrittene Themen ausklammern. Heben sie in ihren Programmen unvereinbare Positionen hervor, kann dies als Strategie gewertet werden, mit welcher der Preis für künftige Koalitionspartner nach oben getrieben und der eigenen Wähler- und Mitgliedschaft signalisiert werden soll, dass man »standhaft« zu bleiben gedenke. Ebenso kann eine Partei damit ein negatives Koalitionssignal an einen anderen Mitbewerber senden. Im ungünstigsten Fall führt eine »Ausschließeritis« in fragmentierten Parteiensystemen dazu, dass keine Regierung gebildet werden kann und Neuwahlen anberaumt werden müssen – ein Szenario, das auf Bundesebene, anders als z. B. in Hessen 2008, bislang nie eingetreten ist. Räumen die Parteien hingegen während der Koalitionsverhandlungen ihre im Wahlkampf vertretenen Positionen, kann das ihnen den Makel einer »Umfallerpartei« einbringen.

Unter den Bedingungen eines stärker fragmentierten Parteiensystems und sich rasch verändernder Umfragewerte wächst die Unsicherheit darüber, welche Regierung nach den Wahlen ins Amt kommt. Für die regierungswilligen Parteien ist es deshalb zunehmend schwerer geworden, sich schon im Wahlkampf auf eine konkrete Koalitionsvariante festzulegen, und ihre Wähler wissen nicht, welcher Regierung sie mit ihrer Stimme ins Amt verhelfen.

In der Tat ist es zurzeit schwer wägbar, welche Regierung nach den Bundestagswahlen in diesem Herbst zustande kommen wird. Die Zustimmungswerte für CDU/CSU und SPD glichen im Jahr 2017 dem Verlauf einer Fieberkurve (die in diesem Beitrag verwendeten Daten sind dem ARD-Deutschlandtrend Januar bis Juli 2017 von infratest dimap entnommen).

Der Wahlkampf ist entsprechend von einer Mischung aus neutralen und negativen Koalitionssignalen geprägt. Alle etablierten Parteien schließen eine Kooperation mit der AfD aus, die im Zuge der Flüchtlingskrise weiter an den rechten Rand gerückt ist. Zwar sinken angesichts anhaltender Skandale die Zustimmungswerte für die AfD wieder, gleichzeitig ist sie jedoch in der Flüchtlings- und Migrationspolitik die einzige Partei, die eine vom Kurs der anderen Parteien erkennbar abweichende Position vertritt und damit eine alternative Position in einem bedeutsamen Konfliktfeld besetzt. Geht man davon aus, dass die AfD in den Bundestag einzieht, kann sie das Parteiensystem voraussichtlich dahingehend »segmentieren«, dass der einen oder anderen Bündnisoption Mandate für eine Mehrheit fehlen werden.

Ein Sperrpotenzial übt auch DIE LINKE aus, die sich mit ihrem im Juni verabschiedeten Wahlprogramm und den darin geforderten umfassenden Mehrausgaben für Soziales, Steuererhöhungen sowie ihrer Haltung zur Bundeswehr und zur EU aus dem »Koalitionsspiel« verabschiedet haben dürfte. Rot-Rot-Grün ist angesichts der aktuellen Umfragewerte der drei Parteien im Bund schon rein rechnerisch keine naheliegende Option, da es die drei Parteien derzeit, im August 2017, zusammen nur auf ca. 40 % der Stimmen bringen würden und eine grundlegende Änderung dieser Situation nicht in Sicht ist. DIE GRÜNEN befinden sich seit Längerem im Umfragetief; die Sozialdemokratie vermochte das Gelegenheitsfenster, das sich mit der Benennung ihres Kanzlerkandidaten Martin Schulz im Januar kurzfristig geöffnet hatte, nicht zu nutzen, um gegenüber der CDU weiteren Boden gutzumachen.

Hinzu kommt, dass (Stand Mai) sich mehr als 80 % der Wählerschaft mit der eigenen wirtschaftlichen Situation zufrieden oder sehr zufrieden zeigen – dies ist ein außergewöhnlich hoher Wert. Von der Zufriedenheit mit der ökonomischen Lage profitiert vor allem die CDU. Mit deren Regierungsleistung zeigen sich mehr als 50 % (sehr) zufrieden, wohingegen die SPD als Koalitionspartner von den positiven Zustimmungswerten nicht in gleichem Maße zu profitieren vermag (40 %; CSU: 30 %).

Von der Nachfrageseite, also den Präferenzen der Wählerschaft her betrachtet, ist Rot-Rot-Grün eine der am wenigsten beliebten Koalitionsvarianten. Die Wähler wünschen sich überwiegend eine Fortsetzung der Großen Koalition, die Stabilität und Konsensorientierung vermittelt. Der holprige Start der rot-rot-grünen Berliner Landesregierung 2016, in der DIE LINKE in den ersten Monaten zuvorderst mit der Stasi-Vergangenheit ihres Staatssekretärs Andrej Holm beschäftigt war, hat dieser Koalitionsvariante zudem keine weitere Beliebtheit in der Wählerschaft beschert. Selbst in der SPD-Anhängerschaft werden Koalitionsmodelle unter Beteiligung der Linkspartei mehrheitlich kritisch gesehen. Eine Ampelkoalition aus SPD, GRÜNEN und FDP wäre laut Umfragewerte im Sommer 2017 ebenfalls nicht möglich. Mit anderen Worten: Verändern sich durch unvorhergesehene Ereignisse die derzeitigen Größenverhältnisse zwischen den Parteien nicht noch deutlich, bleibt der SPD entweder die Wahl, ihre Rolle als Juniorpartner in einer Großen Koalition fortzusetzen, oder – sofern sie dem koalitionspolitischen Turm der CDU entfliehen will – den Gang in die parlamentarische Opposition anzutreten.

Eine der offenen Frage lautet somit: Auf welches Bündnis können sich die anderen Parteien, die sich untereinander als grundsätzlich koalitionsfähig betrachten, einigen? Angesichts des derzeitigen Höhenflugs der FDP, die nach ihrem Ausscheiden aus dem Bundestag 2013 die Fünfprozenthürde wieder überwinden dürfte, scheint es nicht gänzlich ausgeschlossen, dass eine Koalition aus CDU/CSU und FDP im September sogar eine Mehrheit an Mandaten erzielt. Die Wahlprogramme der FDP und der CDU sind dabei offen genug formuliert, um eine Kooperation mit den GRÜNEN nicht gänzlich auszuschließen. Mit der Annahme eines Gesetzes zugunsten der »Ehe für alle« am 30. Juni haben die Parteien (eher ungewollt) einen Stolperstein aus dem Wege geräumt, der Koalitionsverhandlungen mit der CDU/CSU hätte belasten können.

Sollten DIE GRÜNEN ihre Zustimmungswerte bis zur Wahl noch steigern, könnte – bei gleichbleibendem oder wachsendem Zuspruch für die CDU/CSU – nach derzeitigem Stand der Dinge aber auch die Situation eintreten, dass die CDU/CSU als »dominanter Spieler« zwischen SPD, FDP und GRÜNEN als den potenziellen Koalitionspartnern zu wählen vermag – vorausgesetzt, die Parteien stehen ihrerseits als Juniorpartner zur Verfügung. Rechnerisch möglich wären demzufolge Dreier- oder gar Viererbündnisse unter Führung der CDU, wobei man die CSU in einem CDU-geführten Bündnis als eigenständige Kraft begreifen sollte. Grundsätzlich nehmen mit jedem zusätzlichen Partner die Verhandlungskosten und Konfliktpotenziale im Bündnis tendenziell zu. Das Regieren in einer »Jamaika-Koalition« dürfte deshalb gegenüber der bisherigen Großen Koalition komplizierter werden, da die Policy-Positionen der vier Parteien beträchtlich auseinanderliegen. Zudem verfügt die FDP angesichts ihrer schwachen parlamentarischen Präsenz in den Ländern derzeit kaum mehr über regierungserfahrenes Personal.

Trotz der koalitionspolitischen Komplexität lässt sich festhalten, dass die von der Parteiensystemforschung prognostizierten negativen Effekte eines Sechs-Parteien-Systems, das von nicht oder eingeschränkt koalitionsfähigen Parteien am linken und rechten Rand des Spektrums (»polarisierter Pluralismus«) geprägt ist, nach den Bundestagswahlen nicht eintreten müssen: Ein Immobilismus, in dessen Folge die Parteien in der Mitte zum ständigen Regieren verurteilt sind, während die Parteien am rechten und linken Rand sich wechselseitig mit populistischen Forderungen überbieten und die Legitimation der Mitte-Regierung untergraben, muss nach den anstehenden Wahlen nicht die Folge sein. Sollte es nicht wieder zu einer Neuauflage der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD kommen, ist es vielmehr wahrscheinlich, dass sich das in Deutschland herkömmliche Muster begrenzter Regierungswechsel wiederholt, das im Bund nur ein einziges Mal, beim Amtsantritt von Rot-Grün 1998, durchbrochen wurde: Ausgewechselt wird ein Koalitionspartner, was koalitionspolitischen Wandel und Kontinuität gleichzeitig erlaubt. Als Regierungspartei profitiert von dieser Konstellation derzeit aber allein die CDU/CSU.

Das föderale System wiederum entfaltet zwei wesentliche Effekte, die sich auf die Koalitionspolitik der Bundesregierung auswirken: Zum einen bieten die Länder ein Labor, in dem neue bündnispolitische Varianten auf ihre Tauglichkeit hin getestet werden können. Zum anderen ist die Bundesregierung angesichts der wachsenden Vielfalt an Koalitionsvarianten in den Ländern gezwungen, im Gesetzgebungsprozess Allianzen mit zusätzlichen Parteien zu schmieden.

Regieren neue Parteienkombinationen in den Ländern mit Erfolg, gelten sie also als »erprobt«, lassen sie sich auch im Bund einfacher legitimieren. Jedoch spielen außen- oder europapolitische Differenzen auf der Landesebene eine untergeordnete Rolle, was die Beteiligung einer euroskeptischen Partei wie DIE LINKE an Landesregierungen, schwerlich aber an der Bundesregierung möglich werden lässt. Alle oben als »realistisch« beschriebenen Koalitionsoptionen sind bislang auf Landesebene getestet worden. Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass sich die Policy-Positionen einzelner Landesparteien nicht einfach mit denen ihres Bundesverbandes gleichsetzen lassen und Koalitionsbildungen im Bund deshalb einer gesonderten Bewertung bedürfen.

Die koalitionspolitische Landschaft war in den Ländern selten so bunt wie derzeit: In 16 Ländern gibt es 12 Koalitionsvarianten. Die Bundesregierung kann angesichts dieser Vielfalt auch weiterhin nicht auf eine gleichgerichtete parteipolitische Mehrheit im Bundesrat zählen. Zwar überlagern sich parteipolitische und landespolitische Interessen selbst zu Zeiten gleichgerichteter Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat. Die Bundesparteien können aber keineswegs in zentralistischer Manier auf ihre Landesverbände »durchgreifen« und ein bestimmtes Stimmverhalten erzwingen; schon, weil sich Landesregierungen in eigenständigen Wahlen legitimieren und auf ihren Koalitionspartner Rücksicht nehmen müssen. Gleichwohl trägt die koalitionspolitische Vielfalt in den Ländern dazu bei, dass sich die jeweilige Bundesregierung einer komplexen Verhandlungssituation im Bundesrat gegenübersieht. Bei zustimmungspflichtigen Gesetzen ist sie gezwungen, sich mit Landesregierungen ins Benehmen zu setzen, deren Zusammensetzung quer zu den Mehrheitsverhältnissen im Bundestag liegt, also entweder aus Parteien bestehen, die im Bund in der Opposition sind (O-Länder) oder aus Parteien, die im Bund sowohl der Regierung, als auch der Opposition angehören (Misch- oder M-Länder). Auch die noch amtierende Große Koalition musste sich in der ablaufenden Legislaturperiode regelmäßig mit »Landes-GRÜNEN« verständigen, da ohne deren Zustimmung keine Mehrheit im Bundesrat zustande gekommen wäre.

Angesichts der aktuellen Zusammensetzung des Bundesrates wird sich somit jede neue Bundesregierung, gleich wie sie zusammengesetzt ist, mit Parteien ins Benehmen setzen müssen, mit denen sie nicht zusammen regiert. Verhandlungsbeziehungen werden infolgedessen auf den Bundesrat ausgeweitet, und die konsensdemokratischen Züge des Regierungssystems werden gestärkt. Eine solche Konstellation schränkt die Macht einer Bundesregierung ein, sie verschafft der Opposition über den Bundesrat begrenzte Möglichkeiten der Mitgestaltung, nimmt diese aber auch für Regierungsentscheidungen mit in die Verantwortung. Dieser kann auch die SPD in der parlamentarischen Opposition nicht entrinnen.

 

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