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Neuere soziologische Literatur als Blick über den Horizont Strukturen, Dynamik, Provokation

Erst war es ein symbolischer Aufstand von Impfgegnern, dann dominierte der angstauslösende, verlogene und bestialische Krieg in Europa alles. In jedem Fall waren Vernunft und Orientierung auf dem Rückzug. Was vor der Ukraine-Solidarität auf das Verblassen eines wertorientierten Kompasses sowie auf die Auflösung einst prägender sozialmoralischer Milieus zurückgeführt wurde. Was aber auch damit zusammenhängen könnte, dass die politische Soziologie nicht mehr wie vor Jahrzehnten Leitwissenschaft des gesellschaftlichen Diskurses ist.

Zu sehr verloren sich die Sozialwissenschaften in tagesaktuellen und quantifiziert-empirischen Detailstudien und Bindestrichsoziologien oder schlugen sich gar auf die Seite einer pauschalen postmodernen Wissenschaftskritik. Verabschiedet sich die Soziologie jedoch vom Prozess der gesellschaftlichen Selbstauslegung, überlässt sie diesen interessegeleiteten Lobbyisten, dem Feuilleton, pseudoreligiösen Sinnstiftern und politischen Parteistrategen.

Es braucht die großen Bilder soziologischer Gesellschaftstheorie, um die Merkmale der Moderne zu strukturieren, sonst bleibt jede Krisendiagnostik oberflächlich, kurzlebig und partiell. So ist die empirisch basierte Theorie grundlegend für eine über das Tagesgeschäft hinausgehende Roadmap, wie Gesellschaft und Weltbeziehungen gezielt und tiefgreifend reformiert werden sollten.

Diese Kompetenz der Soziologie wiederzugewinnen, verbindet Neuerscheinungen führender deutscher Soziologen, deren kritische Wissenschaft letztlich den informierten Hintergrund für den rationalen Diskurs um politische Interventionen bieten will.

Der ökonomistisch verkürzte Marxismus, der Ideen, Geist und Kultur als bloßen Überbau beiseiteschob, war bereits vom späten Friedrich Engels und erst recht von Eduard Bernstein revidiert worden. Denn wer es vermag, die Grundbegriffe der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung und Selbstdeutung neu zu prägen, verändert die gesellschaftliche Wirklichkeit selbst. So arbeitet praxisorientierte Soziologie die strukturellen Widersprüche des ständigen Wandels auch deshalb heraus, um Handlungsorientierung jenseits des sich beschleunigenden Selbstlaufes der Moderne zu finden.

Von der bürgerlichen Moderne über die industrielle Moderne zur Spätmoderne: Welche Merkmale sind für Ökonomie, Sozialstruktur, Staat, Technologien, Kultur der Subjektivierung in der jeweiligen Moderne kennzeichnend? Wie lassen sich diese Phänomene einordnen, wie erklären und welche Konsequenzen sind zu erwarten? Welche Alternativen sind denkbar, welche wären wünschenswert oder notwendig?

In einem gemeinsamen Band stellen die Soziologen Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa, deren analytische Begriffe »Gesellschaft der Singularitäten« und »Resonanz« in den letzten Jahren zu Leitbilder wurden, ihre verwandten gesellschaftstheoretischen Ansätze zur Debatte. Grundsätzlich ist für die Moderne das Dynamische und Selbstreflexive charakteristisch, dass sie »die immer wieder neue Wahrnehmung des Ist-Zustandes als überwindungs- oder zumindest verbesserungsbedürftig« ansieht.

Dies jedoch nicht bloß – was auch mit Blick auf die »Fortschrittskoalition« der Ampel wichtig ist – verstanden als lineare Fortschrittsdynamik. Vielmehr beschreibt Reckwitz den immerwährenden dialektischen Prozess zwischen Kontingenzöffnung (alles, was in der Gesellschaft existiert, könnte auch anders sein) und Kontingenzschließung (der Verteidigung des Bestehenden), die eben auch durch Verlustdynamik angetrieben ist.

Überhaupt überwiege, besonders seit etwa 1990 in der durch den dreifachen – politischen, digitalen und neoliberalen – Umbruch verschärften Spätmoderne, das Denken in Spannungsfeldern und dialektischen Doppelstrukturen: zwischen der sozialen Logik des Allgemeinen und einer des Singulären und Besonderen, zwischen Rationalisierungs- und Kulturalisierungsprozessen, zwischen Funktionalität und Werthaftigkeit, zwischen Versachlichung und Affektintensivierung und zwischen Rationalität und Romantik.

Die Krisenanalyse der aktuellen Spätmoderne von Reckwitz, die Krise der Anerkennung, der Selbstverwirklichung und des Politischen, läuft auf die grundsätzliche Polarität zwischen Modernisierungsgewinnern und Modernisierungsverlierern hinaus. So pointiert und wirksam dieses Paradigma, so sehr lässt uns Reckwitz damit alleine, politische Konsequenzen zu ziehen. Aus der Analyse der Mechanismen des kulturellen Kapitalismus folge nicht zwingend, diesen abschaffen zu wollen. Es gehe nur darum, »Möglichkeitsspielräume zu eröffnen und Interventionsmöglichkeiten aufzuzeigen«. Ob diese gesellschaftlich genutzt oder für sinnvoll gehalten würden, sei eine andere Frage.

Eskalation und Desynchronisation

Demgegenüber werden bei Rosa, der sich stärker in der Tradition der Kritischen Theorie sieht, gesellschaftspolitische Alternativen konkreter. Das gesamte institutionelle System der Moderne – die Marktwirtschaft, der Sozialstaat, die politische Steuerung, die Kultur, der Wissenschaftsbetrieb, das Gesundheitswesen, die Altersversorgung – sei nur im Modus der Steigerung und Innovation aufrechtzuhalten.

Seine Krisenanalyse will die Frage beantworten, »was stimmt nicht mit einer Sozialformation, die von dem Verlangen nach Weltreichweitenvergrößerung angetrieben wird und ihre institutionelle Struktur im Modus dynamischer Stabilisierung (und damit ständiger Erweiterung) reproduziert?« Damit würden Eskalation und Desynchronisation zu Schlüsselbegriffen der vierfachen Krise der Spätmoderne: der Finanzkrise, Demokratiekrise, ökologischen Krise und Psychokrise.

Letztere diagnostiziert Rosa als stetiges Schwanken zwischen der Verheißung und Erfahrung zunehmender Allmacht auf der einen Seite und der Erfahrung radikaler Machtlosigkeit sowie schutzlosen Ausgeliefertseins auf der anderen Seite. Andererseits sei das Resonanzverlangen als zentrale Quelle menschlichen Handelns zu aktivieren, das auch eine nachhaltige Konzeption des gelingenden Lebens und alternative Gestaltentwürfe aufscheinen lässt, die ein »formationstransformierendes Moment« enthalten.

Da ist vieles im Einklang mit rot-grünen Debatten der letzten Jahrzehnte. Die Spätmoderne bedürfe »einer grundsätzlichen Neuausrichtung ihrer politischen, rechtlichen und ökonomischen Institutionen auf ihr produktives und reproduktives Weltverhältnis hin und insbesondere einer Überwindung der Trennung zwischen atomisiertem Konsum, fremdbestimmter Produktion und abgespaltener Reproduktion.« Gegen die entfesselten Steigerungslogiken werden bekannte – und in vieler Hinsicht kontroverse – Reformdiskurse wie »neue Formen von Wirtschaftsdemokratie unter Einbezug der Reproduktionssphäre«, »Postwachstumsgesellschaft« und »bedingungsloses Grundeinkommen« dann doch nur angedeutet.

Natürlich muss jede Gesellschaftstheorie, um Narrative zu entwickeln, selektiv sein, also sich auf bestimmte, allerdings charakteristische Zusammenhänge der Moderne, wie die Theorie des Kapitalismus, die funktionale Differenzierung, die Individualisierung oder Ästhetisierung konzentrieren. Ganz sicher ist in der Spätmoderne die Globalisierung ein solch zentrales Feld wissenschaftlicher Anwendung, gemeinhin verstanden als beschleunigter Prozess der Entterritorialisierung, Denationalisierung und Transnationalisierung – oft als schier grenzenlose Entgrenzung, nicht nur bezogen auf die Weltökonomie, auf Waren und Dienstleistungen, sondern auch auf die Öffnung von Grenzschranken, auf Reisefreiheit und Migrationsdruck.

Schließungsglobalisierung und Fortifizierung

Angesichts kaum nachlassender Fluchtbewegungen standen sich in der politischen Auseinandersetzung der letzten Jahre Plädoyers für offene Grenzen – als kosmopolitischer Traum oder aus humanitären Idealen – und Positionen der Verhinderung unkontrollierter Zuwanderung – auch jenseits der Renaissance von Nationalismus und Xenophobie – unversöhnlich gegenüber. Die Analyse des Soziologen Steffen Mau zeigt nun, dass diese Debatte auf falscher Grundlage geführt wurde, wie gesteigerte Mobilität durchaus einhergeht mit dem, was er Schließungsglobalisierung und Fortifizierung nennt, mit abschreckenden Mauern und militarisierten Grenzübergängen.

Heute sei die Alternative nicht mehr die zunehmende Bewegungsfreiheit oder die klassische territoriale Grenzschließung, wie wir sie mit der Mauer 28 Jahre lang mitten durch Deutschland hatten. Vielmehr sei eine Grenzmetamorphose zu konstatieren. Grenzen transformierten sich zu elektronisch aufgerüsteten »Sortiermaschinen«, die nicht mehr nur eine Separierungs- sondern auch eine Selektivitätsfunktion hätten. Der Staat als Grenzkontrolleur igele sich nicht ein, sondern strecke sich aus. Er werde – aus nationalem Interesse – zu einem globalisierten und in internationale Zusammenhänge eingebetteten Akteur.

Die eine Seite ist eine individualisierte grenzenlose Hypermobilität, deren reibungsloser Ablauf technisch immer perfekter organisiert und garantiert wird. Wobei Mobilitätsrechte nicht nur durch Staatsbürgerschaft, sondern auch durch die ökonomische Ausstattung einer Person vergeben werden. Es sind die mobilen und willkommenen Privilegierten, die kosmopolitischen und wohlhabenden Touristen aus der westlichen Welt, die Power-Passport-Besitzer, die Träger von hohem Humankapital, die globale Vermögens- und Einkommenselite.

Auf der anderen Seite wird Bewegung verhindert, aus Angst vor Wohlstandsverlust und Destabilisierung und als präventiv orientierte Sicherheitspolitik. Da geht die Verweigerung von Mobilitätsrechten weit, denken wir an die im Mittelmeerraum in Lagern eingesperrten irregulären Migranten oder daran, dass bei schlechter Stellung im chinesischen Sozialkreditsystem nicht nur das internationale Flugticket, sondern auch der innerchinesische Schnellzug nicht mehr buchbar ist. Grenzen würden, so das Fazit von Mau, zu »Schwellen der Ungleichheit im globalen Kontext«, die das Gefälle zwischen benachbarten Staaten befestigen oder reproduzieren, sowie in Kombination mit gestuften Rechten auch globale Hierarchien unterschiedlicher Gruppen und Zugehörigkeiten herstellen.

Die Frage von Grenzen in der Globalisierung ist auch das Thema der jüngsten Studie des Soziologen Wolfgang Streeck, ehemals Direktor am Max-Planck-Institut in Köln. Streeck verwirft die zentrale Antwort derjenigen, die links der Mitte stehen, nämlich dass der Freilauf des weltweiten Kapitalismus auch global regiert werden könne. Global Governance und die Stärkung der EU-Institutionen, so seine Gegenthese, seien Instrumente des Neoliberalismus, ein solcher Kosmopolitismus liefe immer auf mehr Merkantokratie und Technokratie hinaus.

Zentralisierung tauge nicht als demokratische Gegenmachtbildung, sondern bedeute weitere Entdemokratisierung von Politik und politischer Ökonomie. Die demokratische Wiedereinbettung des entgrenzten Kapitalismus ginge nur über »die unterschätzten Möglichkeiten kleinteilig-verteilter dezentraler Ordnungen, politisch wie administrativ, in Bezug auf politics wie policy sowie unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Kapitalismus und Demokratie«. Also durch eine Zerlegung in kleinere und mittlere, in eine konföderale Staatenordnung eingebundene (mithin nicht nationalistisch-aggressive) Nationalstaaten.

Rückbettung der Hyperglobalisierung

Die Empfehlung ist also die Rückbettung der kapitalistischen Hyperglobalisierung in den überschaubaren Wirkungskreis eines demokratisch-solidarischen Etatismus dezentralisierter Souveränität, nur dort könne eine den Markt egalitär korrigierende Politik funktionieren, die auch Grenzen sichert, Protektionismus kennt und die Vorherrschaft regionaler Märkte durchsetzt. Streeck spricht vom »Keynes-Polanyi-Staat«, sicher auch um zu unterstreichen, in welcher (nicht rechten) Traditionslinie er sich sieht und dass ihm die kapitalismusregulierenden Instrumentarien von John Maynard Keynes und Karl Polanyi entscheidend sind. Aber schwingt da nicht auch Resignation mit, wo er formuliert, »die Welt als Ganzes ist für demokratische Willensbildung zu groß und heterogen«?

Natürlich ist das Buch von Streeck eine, allerdings auf über 500 Seiten sozialwissenschaftlich begründete, Provokation. Die Mühen der Ebene um eine demokratischere und solidarischere sozialökologische EU, erst recht die ziemlich idealistische Vision eines durchsetzungsfähigen Weltparlaments guten Regierens, wird diese nicht anfechten.

Doch ist die relative Autonomie nationalstaatlichen Handelns wirklich in jeder Hinsicht reaktionär und warum sollte sich das Subsidiaritätsprinzip nicht mit einer Stärkung internationaler Zusammenhänge verbinden lassen? Bedürfen Solidarität und Sozialstaat nicht besonders nationaler Einbettung, ohne Kosmopolitismus und globalen Idealismus zu denunzieren? Wieweit sind in der Spätmoderne auch regionale »heimatliche« Identitäten notwendige kulturelle Ressourcen gegen die forcierte Vermarktung der Welt? Braucht der Dauerkonflikt zwischen kapitalistischer Bewegung und gesellschaftlicher Gegenbewegung nicht gerade auch von Land zu Land unterschiedliche soziale Kompromisse? Bedeutet Demokratisierung nicht immer auch eine gewisse Dezentralisierung?

Alles keine unsinnigen Fragen. Denn die Übertragung des aus der Ära der Nationalstaaten stammenden Politikansatzes des alten Engels und seines Nachlassverwalters Bernstein, das Primat der Politik durch Domestizierung, Eindämmung, und Einbettung des Kapitalismus jetzt weltweit durchzusetzen, bleibt eine ungelöste und komplexe Aufgabe.

Solche Überlegungen zeigen: Das Wichtigste ist das Plädoyer von Reckwitz und Rosa, dass Gesellschaftstheorien interpretative Werkzeuge auf der Suche nach dem »best account« und eben – was der Fehler des 20. Jahrhunderts war – keine abgeschlossenen Theoriesysteme sind. Da braucht es auch überraschend neue Analysen, wie etwa die von Mau. Auch eine starke Gegenthese wie von Streeck kann die gesellschaftstheoretische Richtungsdebatte befeuern, selbst wenn sie in der EU-Ablehnung, erst recht nach der europäischen Solidarität gegen den russischen Aggressor, in die Irre führt.

Steffen Mau: Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert. C.H.Beck, München 2021, 2. Aufl., 189 S., 14,95 €. – Andreas Reckwitz/Hartmut Rosa: Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie? Suhrkamp, Berlin 2021, 310 S., 28 €. – Wolfgang Streeck: Zwischen Globalismus und Demokratie. Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus. Suhrkamp, Berlin 2021, 538 S., 28 €.

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