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picture-alliance/ dpa | Patrick Pleul

Es kommt darauf an, die Transformation fair zu gestalten Stürmische Zeiten

Wir befinden uns mitten im wohl größten Umbau der Wirtschaft seit dem Beginn der industriellen Revolution vor mehr als 150 Jahren. Die Treiber des tiefgreifenden Strukturwandels (Transformation) sind hinreichend bekannt und mit den Megatrends Dekarbonisierung, Digitalisierung und demografische Entwicklung umschrieben. Sie durchziehen alle Branchen und durchdringen nahezu alle Lebensbereiche der Menschen. Die soziale Gestaltung dieser Transformation ist eine gesamtgesellschaftliche Mammutaufgabe und entscheidet über gute Arbeit der Zukunft und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Bereits die Coronapandemie hat uns in den letzten drei Jahren gefordert und dabei die Bedeutung eines handlungsfähigen Sozialstaates unterstrichen.

Die Bundesregierung hat die Gesundheitskrise überwiegend gut in den Griff bekommen und mit dem milliardenschweren »Coronaschutzschild«, dem Kurzarbeitergeld, dem Infektionsschutzgesetz und vielen weiteren Maßnahmen einen Absturz des Arbeitsmarktes und damit den Anstieg der Arbeitslosigkeit verhindert. Dennoch sind dabei auch die strukturellen Defizite unseres – im internationalen Vergleich robusten – Sozialstaates deutlich geworden. Gerade Menschen, die im Niedriglohnsektor gefangen sind, waren besonders hart betroffen. Sie waren es, die plötzlich systemrelevant waren und trotz der hohen gesellschaftlichen Bedeutung ihrer Arbeit nur mies bezahlt werden, da sie viel zu oft nicht unter den Schutz von Tarifverträgen fallen.

Der mangelnde Schutz unserer Systeme der sozialen Sicherheit für Soloselbstständige, Kulturschaffende und andere mehr hat gezeigt, wie notwendig eine Bürger- und Erwerbstätigenversicherung ist. Wir haben die Digitalisierungsdefizite im Gesundheits- und Bildungswesen, in vielen Unternehmen und anderswo erlebt. Sie haben vielfach zu neuen Ungleichheiten beigetragen. Schülerinnen und Schüler aus einkommensschwachen Familien waren besonders hart betroffen. Die soziale Selektion unseres Bildungswesens hat sich in der Pandemie wieder verschärft und ist eine Bürde für viele junge Menschen, deren Zukunftsaussichten dadurch extrem eingeschränkt werden. Auch Frauen waren von der Krise besonders betroffen, häufig in schlechten Beschäftigungsverhältnissen, vielfach in Teilzeit haben sie die Belastungen für Sorgearbeit von Kindern und Familienangehörigen häufig allein getragen.

Die Folgen der Gesundheitskrise konnten bislang nicht hinreichend verarbeitet werden und notwendige Lehren für die Zukunft wurden erst in Ansätzen gezogen. Fest steht, dass die Pandemie – die noch nicht sicher überwunden ist – die Transformation verschärft und beschleunigt hat und staatliches Handeln in der Krise rehabilitiert wurde.

Aber auch das Bewusstsein für die Dringlichkeit einer sozial-ökologischen Transformation, die mutig und offensiv gestaltet werden muss, hat zugenommen. Im Koalitionsvertrag der Ampelkoalition wurden vielversprechende Projekte verabredet, die das Potenzial haben die enormen Herausforderungen der Transformation zusammen mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) in Angriff zu nehmen.

Putins Krieg – Bürde für die Transformation

Mit dem 24. Februar und dem völkerrechtswidrigen brutalen Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine wurden die geopolitischen Koordinaten und die Perspektiven auf friedliche Koexistenz und die Hoffnung auf einen gemeinsamen Kampf gegen den Klimawandel zerstört. Der Angriff richtet sich auch gegen die Demokratie, den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaften und Europas und ist eine schwere Bürde für die faire Gestaltung der Transformation. Die Bundesregierung hat erneut umfassend mit vier Entlastungspaketen in Milliardenhöhe reagiert und Handlungsstärke bewiesen.

Viele Maßnahmen sind noch vage und müssen rasch konkretisiert werden. Vor allem brauchen die Bürger/innen und die Unternehmen eine schnelle Entlastung. Für den sozialen Zusammenhalt kommt es auch darauf an, dass insbesondere Menschen mit geringen und mittleren Einkommen gezielter entlastet werden. Gewerkschaften, Sozialverbände und zahlreiche Wirtschaftsinstitute haben zu Recht gefordert, dass die Kosten der Krise solidarisch verteilt werden. Der Sachverständigenrat hat in seinem Herbstgutachten empfohlen, Besserverdienende stärker an der Finanzierung von Entlastungen zu beteiligen. Damit ist der Rat nicht auf Abwegen, wie die konservative Presse und zahlreiche Wirtschaftsverbände unken. Nein, die Vorschläge sind ökonomisch und sozial in der wohl größten Krise seit Bestehen der Bundesrepublik vernünftig und entsprechen dem feinen Gespür einer breiten Mehrheit der Bevölkerung, die in der Krise mehr Gerechtigkeit fordert.

Zu den Kriegszielen Putins gehört es, den Westen ökonomisch zu schwächen und sozial zu spalten. Zum Glück gibt es immer mehr reiche Staaten, die dies erkennen und zu einer fairen Lastenverteilung bereit sind. Es wäre klug und mutig, wenn auch die Liberalen in der Bundesregierung diese Einsicht teilten und nicht länger auf der Bremse stünden.

Dass wir standhaft und mutig der von Putin ausgelösten Krise trotzen und den sozialen Zusammenhalt stärken, ist auch die Voraussetzung dafür, dass wir die immensen Herausforderungen der Transformation bewältigen. Hierfür braucht es eine langfristige Perspektive, um aus dem »Green Deal« zugleich einen »Social Deal« zu machen. Die Bekämpfung der Klimakrise verträgt keinen Aufschub! Klar ist: Klimaschutz und sichere Beschäftigungsperspektiven mit Guter Arbeit sind zwei Seiten einer Medaille. Eine faire Transformation bietet enorme Chancen, die Klimaziele des Pariser Klimaschutzabkommens und der EU zu erreichen. Diese Chancen zu nutzen ist anspruchsvoll, aber machbar, wenn es den politischen Willen dazu gibt.

Tarifbindung erhöhen, Mitbestimmung stärken

Dazu gehört zwingend eine Stärkung der Sozialpartnerschaft mit einer hohen Tarifbindung und einer starken Mitbestimmung der Beschäftigten. Es ist gut und richtig, dass der Mindestlohn zum 1. Oktober auf zwölf Euro erhöht wurde. In der aktuellen Situation dämpft er die Belastungen, die mit der hohen Inflation einhergehen. Mindestlöhne sind aber nur die unterste Haltelinie und garantieren keine vernünftigen Arbeitsbedingungen und -zeiten. Man kann damit zumindest halbwegs über die Runden kommen.

Gut ist auch, dass die EU-Richtlinie zu Mindestlöhnen in Europa nach hartem Ringen verabschiedet wurde. Noch wichtiger aber ist es, dass mit der Richtlinie die Mitgliedstaaten dazu aufgefordert werden Aktionspläne vorzulegen, in denen skizziert wird, wie die Tarifbindung in den nächsten Jahren auf 80 Prozent erhöht wird. Von diesem Ziel ist auch Deutschland noch weit entfernt, sie ist hierzulande in den letzten Jahren von über 70 auf 52 Prozent gesunken und weist hohe sektorale und regionale Unterschiede auf.

Gerade in Krisenzeiten hat sich gezeigt, dass mit Tarifverträgen Lösungen zur Krisenbewältigung in den Unternehmen deutlich besser funktionieren. Sie sichern Einkommen und Beschäftigung, garantieren vernünftige Arbeitsbedingungen und sind ein wichtiges Instrument zur fairen Gestaltung der Transformation. Auch für die Unternehmen sind sie ökonomisch sinnvoll, garantieren sie doch gleiche Wettbewerbsbedingungen und minimieren die Transaktionskosten. Zudem entlasten sie staatliches Handeln von Verteilungskonflikten und tragen zu einem höheren Steueraufkommen und höheren Sozialversicherungsbeiträgen bei.

Tarifverträge sind ein »öffentliches Gut« und so muss entsprechend der EU-Vorgabe die Tarifbindung auf 80 Prozent ausgeweitet werden. Um dieses Ziel zu erreichen, sollte die Ampelkoalition die Verabredungen des Koalitionsvertrags rasch auf den Weg bringen und beispielsweise die öffentliche Auftragsvergabe des Bundes an die Geltung von Tarifverträgen knüpfen und die Nachwirkung von Tarifverträgen bei Tarifflucht der Unternehmen gesetzlich verankern.

Zu einer starken Sozialpartnerschaft gehört auch eine moderne Mitbestimmung in den Betrieben und Unternehmen. Das Betriebsverfassungsgesetz ist in diesem Jahr 70 Jahre alt geworden und bedarf dringend einer Generalüberholung, damit die Partizipation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in stürmischen Zeiten zukunftsfest gemacht wird. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und die Hans-Böckler-Stiftung (HBS) haben dazu einen konkreten Reformvorschlag Anfang dieses Jahres vorgestellt.

Dabei geht es unter anderem um eine bessere Beteiligung und Mitwirkung an betrieblichen Transformationsprozessen, sei es bei der Digitalisierung oder bei Maßnahmen zur Dekarbonisierung der Geschäftsmodelle oder der Einführung von Künstlicher Intelligenz. Die Beschäftigten haben ein elementares Interesse daran, dass ihre Unternehmen erfolgreich die Transformation bewältigen. Sie kennen häufig die betrieblichen Realitäten und Gestaltungspotenziale besser als anonyme Anteilseigner.

Das gilt auch für die Unternehmensmitbestimmung, die gestärkt werden muss. Gerade bei Restrukturierungsmaßnahmen mit erheblichen Folgen für die Beschäftigen dürfen die Arbeitnehmervertreter nicht länger mit dem Doppelstimmrecht des Aufsichtsratsvorsitzes überstimmt werden. Eine auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Unternehmensführung braucht eine stärkere Mitbestimmung der Arbeitnehmervertreter und ihrer Gewerkschaften, um die tiefgreifende Transformation fair zu gestalten.

Transformation und Investition

Ein zentraler Hebel zum Gelingen der sozial-ökologischen Transformation sind massive öffentliche und private Investitionen. Die Defizite des öffentlichen Kapitalstocks sind seit Langem bekannt und wurden mit der Coronapandemie noch stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Sei es der marode Zustand vieler Schulen oder der defizitäre öffentliche Nah- und Fernverkehr, mangelnde digitale Infrastruktur, fehlender bezahlbarer Wohnraum und der lange vernachlässigte Ausbau erneuerbarer Energien.

Bereits im Herbst 2020 haben das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) gemeinsam mit dem Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der HBS den Investitionsbedarf auf 50 Milliarden Euro jährlich für die nächsten zehn Jahre geschätzt. Pandemie- und kriegsbedingt dürfte er deutlich höher sein.

Sowohl die EU als auch die Bundesregierung haben die mit verschiedenen Programmen (etwa »Fit for 55«) reagiert, die gemessen an den zukünftigen Bedarfen ausgebaut werden müssen. Es war richtig, dass die Schuldenkriterien des Stabilitätspaktes in der Pandemie ausgesetzt wurden. Um den massiven Ausbau öffentlicher Investitionen mittel- und langfristig zu verstetigen, ist jedoch eine grundlegende Reform notwendig.

Der jüngste Vorschlag der EU-Kommission (November 2022) ist dafür ein erster Schritt, aber zu zaghaft. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat einen weitergehenden Vorschlag bereits im Frühjahr 2021 unterbreitet und unter anderem die Einführung einer »goldenen Regel« angeregt. Um öffentliche Investitionen zur Bewältigung des Klimawandels zu ermöglichen, sollten sie von den Schuldenkriterien ausgenommen werden.

Die Diskussion über eine Reform des Stabilitätspaktes der Wirtschafts- und Währungsunion wird in den Mitgliedstaaten kontrovers geführt. Im Interesse einer effektiven Reform sollte die Bundesregierung ihre zurückhaltende Position aufgeben und zugleich die deutsche Schuldenbremse zumindest aussetzen. Damit bestünde die Chance über ambitionierte öffentliche Investitionen umfangreiche private Investitionen zu stimulieren, die für eine erfolgreiche Transformation dringend notwendig sind.

Die positive Wirkung von massiven Investitionen würden für die Menschen in den Regionen und Kommunen vor Ort erfahrbar werden. Die Verbesserung der Lebensqualität in einer gesunden Umwelt, mit bezahlbaren Mobilitätsangeboten, einer guten kommunalen digitalen Infrastruktur, modernen Bildungseinrichtungen und bezahlbarem Wohnraum, guten Beschäftigungsperspektiven und vielem mehr würde die Menschen überzeugen, dass eine sozial-ökologische Transformation machbar ist.

Europäische und nationale Investitionsprogramme müssten ergänzt und verknüpft werden mit regionalen Transformationsräten oder -bündnissen, in denen die Akteure aus Unternehmen, Verbänden, Gewerkschaften, Zivilgesellschaft und regionaler Politik zusammen Projekte zur Gestaltung einer fairen Transformation entwickeln und umsetzen. Die Regionen sind eine wichtige Handlungsebene für erfolgreiche faire Transformation und sollten gestärkt werden.

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