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Regierung und Opposition müssen jetzt ihre Prioritäten für das ganze Land klären Stunden der Wahrheit

Dass Wahlkampfzeiten wie im Brennglas die Schwächen offenlegen: Es war gerade wieder zu besichtigen. Zwar wurde im Mai nur im kleinen Bremen gewählt. Aber im Berliner Politikbetrieb schien es phasenweise, als gehe es ums Ganze – so bemüht wurde jede Gelegenheit genutzt, zu punkten. Wochenlanges Bund-Länder-Gerangel um die Finanzierung der Geflüchtetenaufnahme, Skandalisierung der dubiosen Jobverteilung in Robert Habecks Ministerium, vor allem aber das Getöse rund um die unausgereiften Pläne zum Heizungsaustausch: So viel Pulverdampf war vor einer Provinzwahl selten.

Dabei wurde vor allem deutlich: In Berlin verhaken sie sich wieder einmal im kleinteiligen Tagesgeschäft. Weder bei der Regierung noch bei der Opposition sind dabei die Prioritäten für das gesamte Land klar. Unter Friedrich Merz nutzt die Union zwar jedes denkbare Thema, um zu attackieren. Aber ihr eigener Gegenentwurf zur Ampelpolitik wird nicht deutlich. Und da, wo es regierungsseitig wirklich um große Projekte geht wie beim Gebäudeheizen, wirkt das Vorgehen wie reine Amtsstubenpolitik. Realitätstest: nicht ausreichend.

Vor allem die Grünen bekommen dafür die Quittung. Ihr Zauber ist erst einmal dahin, wobei Zauber hier heißt: das wohlige Gefühl, etwas Gutes wählen zu können, das nicht weh tut. In ihren Kernmilieus gibt es inzwischen Abwendung aus noch radikaleren Erwartungen – während sie wegen ökologischer Vorschriftenpolitik in anderen Teilen der Gesellschaft zum Feindbild werden. Nicht ganz unabhängig davon versucht die AfD mit gewissem Erfolg, Anti-Grünen-Stimmungen zu bündeln – zumal die Union zwischen alten rechtskonservativen Leitbildern und neuen schwarz-grünen Machtoptionen schwankt und auch deshalb bislang so wenig eigenes Profil aufbauen kann. Und die Linkspartei, zumal angesichts des Ukrainekrieges, als Hoffnungsträgerin für progressive Enttäuschte komplett ausfällt und über wenige städ-tische Ausnahmen wie das linke Bremen hinaus nur noch als ostdeutsche Regionalpartei auf dauerhafte Regierungsrollen hoffen kann.

Es beginnt innenpolitisch deshalb nun eine Phase, in der im gesamten demokratischen Parteienspektrum das Lavieren zum Problem wird. In Bayern und Hessen muss sich im Herbst zur Halbzeit der Berliner Legislatur zeigen, ob CDU und CSU tatsächlich aus eigener Kraft Führungsrollen ausbauen können, ohne sich klar zwischen konservativer und mittig-lindgrüner Politik zu entscheiden. Da geht es dann tatsächlich schon um die Strategie für die Bundestagswahl 2025, um den Ansatz für den Angriff aufs Kanzleramt. Angesichts der Aussicht, dass bei den Landtagswahlen 2024 die Rechtspopulisten zur stärksten Partei im Osten werden könnten, kommen auf die Union demnächst viele Stunden der Wahrheit zu, bevor klar ist, mit welcher Person und welcher Strategie die Berliner Ampel herausgefordert werden kann.

Regierungsseitig hat die Stunde der Wahrheit längst begonnen. Das Gebäudeenergiegesetz ist dafür das sichtbarste Beispiel. Es reicht nicht, sich ein schönes Klimaziel zu setzen und ausführende Gesetze zu erlassen, wenn dann die Fragen der praktischen Umsetzung nicht nachvollziehbar beantwortet werden können. Muss man das grün-ideologische Hybris nennen, auf die Spitze getrieben mit dem Egotrip der sogenannten Letzten Generation, oder ist es einfach nur bürokratieübliche Blindheit? Wenn der Staat derart eingreifen will in private Lebensfragen, braucht es mehr als die eigene Überzeugung, das Richtige zu tun.

Es ist kein Zufall, dass sich die Zuspitzung immer wieder an einem Themenfeld festmacht: Mobilität. Besonders da geht es in einem Land, in dem die Mobilitätsverhältnisse vor allem zwischen städtischen und ländlichen Regionen extrem unterschiedlich sind, um Steuerungskraft und gleiche Lebensumstände schlechthin. Und es geht um die Rolle der Politik im Spannungsfeld zwischen individueller und gesellschaftlicher Freiheit. Um Vorschriften und Lernprozesse, Vernunft und Unvernunft, um gemeinsame Veränderungen – oder letztlich gar keine. Es geht auch um die Demokratiepraxis.

Die Diskursfähigkeit leidet

Das gegenseitige Verstehen ist generell weit schwieriger geworden als früher, weil sich die Lebenswelten auseinanderentwickelt haben – und es viel zu einfach wäre, den Puls der Gesellschaft nur auf der Skala zwischen ökologischem Fortschritt und altbackenem Technikvertrauen zu messen. Dass in einer Zeit, in der nicht mal mehr die Kommunikationstechniken generationsübergreifend die gleichen sind, die gesamte Diskursfähigkeit leidet: So etwas war seit den Jahren rund um 1968 nicht mehr derart massiv zu spüren, als vielfach nur noch Sprachlosigkeit war.

Jetzt ist es auch ein Konflikt zwischen verschiedenen Denkmilieus in einer kommunikativ zersplitterten Welt. Es kommt nicht wirklich überraschend angesichts der realen Zuspitzungen vom Ukrainekrieg bis zur Klimakrise, in denen sich die Parteilinien nicht mehr direkt abbilden, dass der Dialog so schwierig wurde. Doch es erfordert dann allemal einen breiteren politischen Ansatz, als einfach nur Koalitionsvereinbarungen in Gesetze zu gießen. Es braucht wieder den Versuch, Antworten für die gesamte Gesellschaft zu geben. Was unmodern wurde.

Weiß die Politik noch, was sie mit ihren Projekten in den Köpfen bewirkt? Interessiert sie das wirklich? Es ist nicht nur eine dringende Frage an die Grünen, aber an sie besonders. Und es rächt sich, dass sich im politischen System seit Jahrzehnten der Trend verstärkt hat, zunächst einmal immer nur an das eigene Parteiprofil zu denken und erst nach Wahlen zu schauen, welche Mehrheitsoptionen sich ergeben. Das, was als Regierungspolitik herauskommt, wird dann ja oft sogar von den eigenen Anhängern schon von Anfang an kritisch gesehen, geschweige denn gerne verteidigt. Und aus den Umfragen ergibt sich postwendend, wie gering der Rückhalt für die jeweilige Regierungspolitik doch sei. Obwohl Mehrheiten die betreffenden Parteien gerade gewählt haben und auch weiter wählen.

Veränderungen real durchzusetzen ist so schwer geworden, dass eines gar nicht geht: es sich leicht machen. Genau dorthin bewegt sich zu oft die Tagespolitik. Vielleicht ist das beste Sinnbild dafür die Praxis der Staaten vom Balkan bis nach Österreich, Geflüchtete einfach Richtung Norden durchzuwinken. Oder innenpolitisch der eingeübte Reflex der Länder, kommunale Finanzforderungen nicht auch selbst als Herausforderung anzunehmen, sondern sie sofort an den Bund weiterzureichen. Wobei dort wiederum bis in diesen Sommer der Finanzminister, auch hier nur die Klientel im Blick, seine eigene Stunde der Wahrheit ein ums andere Mal nach hinten verschoben hat.

Was noch finanzierbar ist und was nicht: Das wird ab jetzt das ganz große Thema werden. Ob die fiskalpolitische Selbstfesselung der Ampel (das grundsätzliche Nein zu Steuererhöhungen) noch Bestand haben kann, ist völlig offen. Dass die bequeme Routine zu Ende ist, innerhalb der Regierungsressorts immer erst mal nur ans Wünschbare zu denken und nicht ans ressortübergreifend Finanzierbare, ist allerdings absehbar. Spätestens seit den Corona-Hilfspaketen auf Pump ist da etwas aus dem Ruder gelaufen wie seit den 70ern nicht mehr. Prioritäten setzen: In der Welt reiner Fachpolitiker sieht niemand mehr, dass selbst sogenannte Sondervermögen letztlich Schulden sind.

Es mangelt am Zusammendenken. Hinsichtlich der gesellschaftlichen Bedeutung und Wirkung genauso wie hinsichtlich der Kosten und Lasten durch die konkreten Vorschläge. Die Themen gegeneinander abzuwägen, statt Ideen einfach nur arbeitsteilig zu summieren, wäre das Eigentliche kluger Politik. So wie seit Jahren aber die öffentliche Diskussion geführt wird, ist von derlei Klugheit immer weniger zu erkennen. Jedes Thema wird nur für sich selbst betrachtet, so wie auch in der Gesellschaft die verschiedenen Milieus immer seltener noch aufeinander neugierig sind.

Stunden der Wahrheit also, wohin man schaut. Mit der Chance immerhin, und sei es erzwungenermaßen, sich jetzt endlich dem Gesamtbild zuzuwenden. Mit dem Risiko zugleich, dass sich nach den vielen hochgesetzten, oft auch international lautstark verabredeten Zielen noch mehr Enttäuschung breit macht. Und daneben die Radikalisierung von Minderheiten weiter geht, noch mehr Intoleranz inbegriffen. Realistische und zugleich ambitionierte Politik zum Angebot an die ganze Gesellschaft zu machen: Es ist die große Demokratiefrage der Gegenwart.

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