Es ist zu vermuten, dass es keine Taktik der DFB-Verantwortlichen war, die Flick-Meldung kurz vor dem Ende des Basketball-WM-Finales zu verschicken, um einer negativen Nachricht so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zukommen zu lassen. Es liegt vielmehr nahe, dass es einfach niemand mitbekommen hat im DFB, dass eine andere Mannschaftssportart auf dem Weg war zu einem echten sporthistorischen Moment.
Es hat mit dem Selbstverständnis der Fußballverantwortlichen zu tun, dass sie offenbar gar nicht auf die Idee gekommen sind, erst mal zu sichten, was gerade außerhalb der eigenen Welt noch so passiert. Der DFB wurde zwar ordentlich dafür kritisiert, dass er so unsensibel agiert hatte, aber natürlich bringt das eine Sportart wie Fußball nicht im Geringsten aus dem Tritt.
Schließlich kann er seine herausragende Stellung in diesem Land auf viele Pfeiler stützen. Dass Fußball in der deutschen Bevölkerung sehr stark verankert ist, sieht man allein schon daran, dass der DFB mit knapp 7,4 Millionen Mitgliedern der mit Abstand größte Verband im Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) ist. Der Deutsche Turnerbund (DTB) folgt mit knapp 4,8 Millionen Mitgliedern, dann geht es rapide runter. Und im DTB verteilen sich die Aktivitäten auf die olympischen Sportarten Gerätturnen, Rhythmische Sportgymnastik und Trampolinturnen, dazu auf weitere Wettkampfdisziplinen wie Faustball, Mehrkämpfe, Aerobic, Orientierungslauf und einige mehr sowie auf den echten Breiten- und Gesundheitssport vom Kinderturnen über Rückengymnastik bis hin zum Wandern. Das ist in sich ein erfolgreiches Konzept – aber die Verbindung zu einer Sportart, von der der Fußball lebt, kann sich natürlich nicht entwickeln.
»Der Fußball hat einfach eine größere Strahlkraft in die Gesellschaft«, sagt der Kölner Sport- und Medienwissenschaftler Christoph Bertling. Er macht das unter anderem fest an zwei Phänomenen, die er Konsum- und Netzwerkeffekt nennt. »Man konsumiert etwas erst, wenn man viel darüber weiß«, sagt Bertling zum Konsumeffekt. »Und das ist im Fußball extrem ausgeprägt. Viele Menschen kennen sich sehr gut aus.« Dazu kommt der Netzwerkeffekt, der sich zum Beispiel in den berühmten Montagsgesprächen in der Firma nach einem Bundesliga-Spieltag zeigt: »Dadurch, dass es jemand anderes auch anschaut, steigt der Wert des Fußballs nochmal, weil man sich auch darüber austauschen kann«, so Bertling. Bei den sogenannten Randsportarten beschränkt sich beides auf jeweils sehr viel kleinere Fangemeinschaften.
Kein Wunder also, dass auch die Aufmerksamkeit der Medien in erster Linie dem Fußball gilt. Für die meisten Sportarten ist trotz aller digitaler Entwicklungen über Streaming oder Social Media das Fernsehen nach wie vor das Ziel aller Träume. »Fernsehen ist das Leitmedium«, sagt Bertling. »Es schwächt sich zwar ab, da wir in einer Transformationsphase sind. In zehn Jahren kann es ganz anders sein, aber momentan ist Fernsehen die Nummer eins.« Und da steht der Fußball nun mal ganz oben, egal ob Free-TV oder Bezahlfernsehen, öffentlich-rechtlich oder privat.
Selbst bei der umstrittenen WM in Katar 2022, als viele Menschen einen Fernsehboykott ins Auge fassten, erreichten die öffentlich-rechtlichen Sender bei deutschen Spielen Quoten von mehr als 17 Millionen Zuschauenden und einen Marktanteil von mehr als 50 Prozent. Und da sind die Zahlen von Public Viewing und der parallel stattfindenden Übertragung auf Magenta TV noch nicht einmal dabei. Das Basketballfinale mit dem deutschen Erfolg sahen an einem Sonntagnachmittag 4,6 Millionen Menschen, was für eine Sportart außerhalb des Fußballs einen Top-Wert darstellt. »Man sollte sich auch gar nicht am Fußball messen«, rät der Kölner Wissenschaftler, »man muss akzeptieren, dass man zwischen den verschiedenen anderen Sportarten versuchen muss, seinen Platz zu finden«.
Attraktivität der Wintersportarten
Das gelingt einigen besser als anderen, wobei verschiedene Strategien zum Erfolg führen können. Die Wintersportart Biathlon ist derzeit der Zuschauenden liebstes Kind, weil sie sich verändert und kontinuierlich weiterentwickelt hat. Die Regeln wurden angepasst, die Sportart wurde spannender und zuschauerfreundlicher, ohne dass ihr Charakter verloren ging. Wenn dann noch deutsche Erfolge dazukommen, schießen die Quoten in die Höhe. Skispringen hat sich ebenfalls modernisiert, schlug aber vor etwa 20 Jahren noch einen weiteren Erfolgsweg ein. Anfang der Nullerjahre wurden durch den Vertrag mit dem Privatsender RTL die Stars Martin Schmitt und Sven Hannawald aufgebaut. Das ist grundsätzlich etwas riskanter, weil Stars ausfallen können und nie eine so stabile Größe bilden wie die Attraktivität einer ganzen Sportart. Skispringen blieb aber auch in den Jahren mit weniger Stars und Erfolgen attraktiv, auch weil während der Vierschanzentournee rund um die Jahreswende, einem der jährlichen Höhepunkte, der andere Sport weitgehend stillsteht.
»Die Sommersportarten schauen etwas neidisch zu.«
So sind auch die Erfolge der sogenannten Wintersportwochenenden zu erklären – die Konkurrenz fällt weitgehend weg. Die Wintersportarten nutzen diese Lücke optimal. Sie schauten in ihre Kalender und stimmten sich aufeinander ab. So senden ARD und ZDF im Winter wochenweise abwechselnd stundenlang von Rodelbahnen, Skisprungschanzen, Langlaufloipen, Skipisten und Eisbahnen und erfreuen sich durchweg sehr ordentlicher Quoten. Und die Sommersportarten schauen etwas neidisch zu.
Tatsächlich ist es aber im Sommer schwieriger. Zum einen rangeln viel mehr Sportarten um Sendeplätze, sodass eine Abstimmung komplizierter wird. Zum anderen, weil die Menschen im Sommer an den Wochenenden nicht unbedingt vor dem Fernseher sitzen, wenn kein Fußball kommt. Anders ist das bei Olympischen Spielen. Da wird plötzlich in großem Stil Kanu, Tischtennis, Gewichtheben oder Judo geschaut. Bei den Spielen in Tokio 2021 erreichten die TV-Anstalten die größten Reichweiten bei den Wettkämpfen mit 30,8 Prozent Marktanteil beim Olympiasieg des Tennisprofis Alexander Zverev, danach kam aber schon der Bronzekampf des Ringers Denis Kudla mit rund 30 Prozent. »Bei Olympischen Spielen ist es der Eventcharakter«, sagt Christoph Bertling. »Man schaut sich Ringen nicht wegen des Ringens an, sondern weil es zu den Spielen gehört. Das sieht man auch daran, dass Eröffnungs- und Schlussfeiern jeweils mit Abstand die größten Reichweiten haben.«
Das Event steht auch bei den European Championships im Vordergrund. Diese Multi-Europameisterschaften in verschiedenen Sportarten, gemeinsam kreiert von Verbänden und öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern, wurden bisher zweimal ausgetragen. Sie werden als Format hoch gelobt und erzielen auch gute Quoten. »Das hilft zwar den einzelnen Sportarten, wahrgenommen zu werden«, sagt Bertling, der aber daran zweifelt, dass es dann tatsächlich dazu führt, dass die Leute in die Vereine gehen und die länger verfolgen. Wie bei Olympia sind die Sportarten in das Event integriert, fallen aber danach wieder aus der öffentlichen Wahrnehmung.
Erfolg allein ist nicht die Währung
Und Erfolg allein ist auch nicht die Währung. »Bei den Olympischen Spielen kommt man ja gar nicht drum herum, sich Schießen anzusehen, denn da gibt es meistens die ersten deutschen Medaillen. Aber wer verfolgt deshalb die Bundesliga?«, fragt Bertling. »Um daran etwas zu ändern, braucht es mehr als ein Event und vor allem die passende Infrastruktur. Am besten klappt das derzeit im Basketball«, hat der Wissenschaftler festgestellt. Neben dem Erfolg der Nationalmannschaft und der professionellen Ligastruktur hilft auch die relativ neue Sportart 3x3 Basketball, die sich aus dem Streetbasketball entwickelt hat und nochmal ein ganz anderes, junges Publikum anzieht.
Aus ähnlichen Gründen hat sich auch das Internationale Olympische Komitee (IOC) geöffnet und Platz geschaffen für sogenannte junge Sportarten, um mehr jungen Menschen die Spiele schmackhaft zu machen. So zählt in Paris in diesem Sommer neben Klettern, Skateboard und Surfen, die bereits in Tokio 2021 olympisch waren, deshalb auch Breakdance zum Programm. Bei den neueren Disziplinen spielt die Verbreitung durch die (eigenen) digitalen Kanäle eine größere Rolle als bei den Traditionalisten, ziehen sie doch vermehrt Menschen an, die per se mehr auf diesen Kommunikationswegen unterwegs sind.
»Der Aufbau einer eigenen Kommunikationswelt ist für Randsportarten Pflichtprogramm.«
Die Möglichkeit, eine eigene Kommunikationswelt aufzubauen, haben mittlerweile alle Sportarten. Viele sehen darin auch gute Chancen und nutzen eigene Kanäle, um sich selbst darzustellen. Gerade für Randsportarten ist das mittlerweile ein Pflichtprogramm, kommen sie doch eher selten zu einem Fernsehauftritt. Doch längst nicht alle Verbände oder Veranstalter sind gut genug aufgestellt, um entsprechende Qualität zu produzieren. Zudem mussten viele schmerzlich erkennen, dass ihre Nicht- oder Wenigbeachtung in den Medien nicht zwingend an bösen Journalisten lag, sondern dass es schlicht an Nachfrage fehlt.
Jedenfalls wollen letztlich alle ins Live-Fernsehen. Snowboarderin Ramona Hofmeister, mehrfache Weltcup-Gesamtsiegerin und damit prominente Vertreterin einer jungen Sportart, beklagte im vergangenen Winter schlechte Fernsehzeiten – Snowboard würde nur sporadisch im Fernsehen gezeigt im Vergleich zu Biathlon und Co. Hinter dem Wunsch stecken natürlich wirtschaftliche Interessen. »Sie wollen den Promotioneffekt, dass sie öffentlich stattfinden und dadurch Sponsoren finden«, sagt Bertling, »aber das ist nicht der Auftrag der Journalisten. Man kann gesellschaftlich argumentieren und von den Sendern Vielfalt einfordern. Die kann aber nur punktuell stattfinden, und das hilft den Sportarten nicht wirklich.«
Die Machtverhältnisse werden also so bleiben, während der Fußball-Europameisterschaft in den nächsten Wochen sowieso. Aufgelöst werden sie nur sporadisch, zum Beispiel zwischen dem 26. Juli und 11. August, während der Olympischen Spiele in Paris. Danach geht es aber wieder in den Bundesligaalltag, auf den auch viele Sportfans sehnlichst warten werden, während sie noch olympische Momente genießen.
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