Im Zusammenhang mit dem Thema Bildung taucht immer häufiger der Begriff Gamification auf. In diesem Kontext wird darunter ein pädagogischer Ansatz verstanden, bei dem Spielelemente wie Punkte, Abzeichen, Ranglisten, Fortschrittsanzeigen oder Narrationen in nichtspielerischen Lernsituationen eingesetzt werden. Durch spielerische Inszenierung von Lerninhalten kann die intrinsische Motivation, das Engagement und das Durchhaltevermögen von Lernenden gesteigert werden. Sprachen werden etwa über Apps erlernt, welche Fortschritte belohnen. Aber auch für komplexe Themen wie Politik und Wirtschaft kann diese Methode zu einer besseren Vermittlung beitragen. Und auch der Spaß am Lernen kann durch Gamification gefördert werden. Die Kritik an diesem Ansatz ist zwar vielfältig, aber Analysen zeigen auch Steigerungen des Lernerfolgs.
Während in der Spielebranche und im außerschulischen Lernen das Spielen für eine Steigerung des Lernerfolgs bereits seit Längerem eingesetzt wird, tun sich Schulen oft noch schwer damit. Im Folgenden sollen positive Beispiele vorgestellt werden. Um die Vorteile im Unterricht optimal nutzen zu können, bedarf es aber pädagogischer Rahmenbedingungen. Dafür setzt sich etwa das Netzwerk Schule und Spiel mit ihrer Expertise ein.
Mit einem Brettspiel die Demokratie retten?
Auch wenn man bei dem Begriff Gamification meist an digitale Methoden denken mag, es gibt tatsächlich auch noch analoge Spiele, die sich gut im Unterricht einsetzen lassen. Janina Ochantel und Michel Offenberg stellen im Folgenden exemplarisch das Brettspiel Weimar – der Kampf um die Demokratie vor:
»Aktuelle politische Entwicklungen, vor allem das Erstarken rechter Parteien weltweit geben dem Thema ›Weimarer Republik‹ im Schulkanon leider eine neue und gewichtige Bedeutung. Gewisse Parallelen zur Weimarer Zeit lassen sich schwerlich ignorieren. Dennoch tut sich der Geschichtsunterricht bei dieser Zeitspanne häufig schwer. Entweder sind Lehrerinnen und Lehrer mit der Aufgabe der Demokratieerziehung überfordert oder die bisherigen Bemühungen der Lehrkräfte gehen an den Schülerinnen und Schülern vorbei.
»Das Spiel schafft einen neuen und kreativen Zugang, der Wissen und Selbstwirksamkeit vermittelt.«
Weimar – Kampf um die Demokratie liefert hier einen motivierenden und spannenden Ansatz. Es ist bestimmt nicht die Lösung, hat aber im Vergleich zu konventionellen Ansätzen viel Potenzial. Eventuell – das bleibt die Hoffnung – kann es helfen, dass Schülerinnen und Schüler die Wertvorstellungen des Grundgesetzes besser kennenlernen und in ihren Wertekanon übernehmen. Auch wenn das Spiel nur sehr vereinfacht die Komplexität der damaligen Zeit widerspiegelt, so schafft es doch einen neuen und kreativen Zugang, der fernab des Frontalunterrichts Wissen und Selbstwirksamkeit vermittelt. Wichtig ist ferner, dass das Spiel in den gesamten Unterrichtskontext gestellt wird, einschließlich Vor- und Nachbereitung.
In sechs Runden zur Diktatur
In der Entwicklung von einer demokratischen Revolution bis zum Untergang in einer nationalsozialistischen Diktatur, gespielt über sechs Runden, die einen in der Zeit voranschreiten lassen, übernehmen die vier Spieler/innen die Rolle einer Partei jener Zeit und versuchen die Geschicke in ihrem Sinne und zu ihrem jeweiligen Ziel hin zu lenken. Die demokratischen Parteien SPD und das Zentrum versuchen, die junge Demokratie zu sichern. Die radikal linke KPD und die radikal rechte DNVP versuchen beide (wenn auch aus deutlich unterschiedlichen Gründen) den Staat zu stürzen.
Die größten Potenziale liegen in der Förderung sozialer Kompetenzen und vor allem in der Rekonstruktion und Dekonstruktion der politischen Prozesse und ihrer Zwänge während der Weimarer Republik und deren Scheitern. Da Weimar durch seine Spielmechanikkeinen Anspruch darauf erhebt, die Vergangenheit zu rekonstruieren, wird auch nicht der Anschein erweckt, man erzeuge beim Spielen ›die‹ historisch korrekte Vergangenheit. Das Spiel verhindert gar das bloße Nachspielen der historischen Ereignisse. Die Situation wird fiktionalisiert und die Prozesse sowie der Spielraum, den die zeitgenössischen Parteien für ihre Interaktionen hatten, spiegeln sich im Spielen wider.
Die Herausforderungen, die der Einsatz von Weimar im Geschichtsunterricht mit sich bringt, sind der chronische Zeitmangel im schulischen Unterrichtsalltag sowie das hohe Anspruchsniveau des Spiels. Sie erfordern eine gute Planung. Nicht zuletzt sind Erfolg beziehungsweise Lernzuwachs abhängig von der Umsetzung des Spiels durch die Spielenden und die Anleitung und Begleitung durch die Lehrkraft. Die individuellen Voraussetzungen der Schüler/innen hinsichtlich ihres Vorwissens und ihrer persönlichen Einstellungen sowie ihre Motivation sowohl zum Spiel als auch zum Thema müssen mitgedacht werden. Den Spielcharakter einer demokratiefeindlichen Partei zu steuern und sich dabei von den eigenen moralischen Wertvorstellungen zu distanzieren, ist für Jugendliche sicherlich herausfordernd, aber mitunter auch motivierend.«
Lernzugänge neu denken
Ebenfalls noch in geringem Umfang im Unterricht erprobt sind Videospiele. Aber schon 2005 öffnete beispielsweise bereits der Lehrplan Nordrhein-Westfalens für das Fach Deutsch die Tür für deren Anwendung. Zu dem Zeitpunkt existierte das Wort Gamification höchstens in der Wirtschaft(-sforschung). Erst Anfang der 2010er Jahre fand es seinen Weg auch in die Bildungsforschung. Die Praxis war (und ist) der Theorie bei Weitem voraus. Das hat auch zur Folge, dass die Anwendung digitaler Spiele im Unterricht eher punktuell stattfindet und die Forschung an manchen Stellen noch größere Lücken aufweist. Diese sind in den letzten Jahren zwar kleiner geworden, aber in manchen Teilen würde ein höheres Tempo helfen akute Probleme des Schulsystems zu lösen.
So wird noch immer viel zu wenig untersucht, inwieweit Videospiele beim Erlernen neuer Sprachen helfen können. Dabei wäre aus pädagogischer Sicht gerade hier der beste Ansatzpunkt. Schüler/innen spielen zum Großteil ja ohnehin in ihrer Freizeit Videospiele. Ihnen nun ein Spiel anzubieten, das beispielsweise statt der Muttersprache (geringe Vorkenntnisse vorausgesetzt) auf Deutsch gespielt werden soll, könnte die Barriere für eine intensivere Beschäftigung mit der deutschen Sprache absenken.
Das klappt nicht automatisch mit jedem Spiel. Denn ein Spiel, das die (deutsche) Sprache näherbringen soll, sollte entsprechend textlastig sein. Titel wie Final Fantasy, sogenannte Action-Adventure- und Role-Play-Games fallen einem da ein. Der Videospielemarkt ist selbstverständlich vielfältiger. Minecraft etwa ist ein populäres Spiel, das aufgrund seiner Flexibilität und seines kreativen Potenzials auch in der Bildung eingesetzt wird. Minecraft soll zusätzlich zur bisherigen Funktion, den Umgang mit Raum und Ressourcen zu vermitteln, neu gedacht auch abstrakte geistige Konstrukte greifbar machen. Das Spiel besteht aus einer offenen Spielewelt, die von den Spielenden aus würfelförmigen Blöcken frei gestaltet werden kann. In einer einfachen sehr verpixelten Retro-Grafik werden Elemente des Überlebens, des Bauens und der Erkundung kombiniert.
In Minecraft kann im kreativen Modus mit geringer Vorbereitungszeit, in der die Lehrkraft ablenkende Einflüsse abstellt, das Spiel zu einem gänzlich neuen Zugang zur Sprache werden. Ein Kasus, Getrennt- und Zusammenschreibung oder auch die Kommasetzung können für Schüler/innen beispielsweise sehr komplex wirken, insbesondere weil die Rechtschreibung und ihre Regeln sich nicht nur ändern, sondern auch von der Linguistik öfter neu interpretiert und geordnet werden.
Gibt man einer Klasse nun aber die Aufgabe, einen Satz ihrer Wahl in Minecraft darzustellen, erfordert das einen neuen Umgang mit den Inhalten. Neben dem schon genannten Motivationsfaktor, mit dem man auch Schüler/innen anspricht, deren Stärken ansonsten außerhalb des institutionellen Unterrichts liegen, werden Regeln der Sprache zum vielleicht ersten Mal greifbar und sind plötzlich keine abstrakten Konstrukte mehr. Stattdessen stehen sie in einem digitalen und dreidimensionalen Raum vor den Schüler/innen.
Vom Partyspiel zum Unterrichtswerkzeug
Als letztes Genrebeispiel können Partyspiele wohl am einfachsten zum Unterrichtswerkzeug umformiert werden. Mario Party, eine Videospielreihe mit den Charakteren der äußerst beliebten Super-Mario-Reihe, genießt als bekanntester Genrevertreter zwar nicht den Ruf, besonders bildungsverbunden zu sein. Fügt man aber an das Ende eines jeden Minispiels eine Quizfrage, die die Schüler/innen am besten noch selbst erarbeitet haben, so ergibt sich ein anderes Bild.
Die Effektivität digital bezogener Gamification hängt letztlich aber immer auch von der jeweiligen Anpassung an die Lerngruppe ab. Während eine Lerngruppe zum Beispiel besser mit kompetitiven Elementen zurechtkommt, gibt es vielleicht in einer anderen Lerngruppe Schüler/innen, die sich gut mit dem angewandten Spiel auskennen und denen die Aufgabe der Unterstützung anderer übertragen werden kann. Für sie kann es eine ganz neue Wahrnehmung von Selbstwirksamkeit sein. Dies gilt insbesondere bei Schüler/innen, die ansonsten wenig Selbstwirksamkeit im Fach erfahren. So gibt es hier also noch viel ungenutztes Potenzial, das im Lehralltag auch die Lehrkraft entlasten kann, zunächst aber auch deren Kapazitäten zusätzlich in Anspruch nimmt.
(unter Mitarbeit von Frederik Kampe, Nils Kumar und Leon Syllidis)
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