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Demokratien im postheroischen Zeitalter Superhelden, adieu!

Der Film Avengers: Endgame soll in der ersten Preview-Nacht im April 2019 in Nordamerika 60 Millionen Dollar in die Kinokassen gespült haben. Damit wurde der bisherige Rekord des Films Star Wars: The Force Awakens aus dem Jahr 2015 (ca. 57 Millionen) gebrochen.

Warum wird ein Film wie Avengers: Endgame aber von Millionen von Menschen unterschiedlicher Herkunft, Klasse oder Religion auf dem gesamten Globus angesehen? Möglicherweise möchte sich das treue Publikum endlich, aber dafür mit Fanfaren und Paukenschlag von einer ganzen Superheldengeneration verabschieden. Es war schön, adieu, goodbye, do widzenia. Es hat Spaß gemacht. Jetzt wollen wir aber alle endlich mal etwas anderes sehen. Die Zeit der Helden neigt sich dem Ende zu.

»Filme sind unsere modernen Mythenmaschinen«, erklärte Nathalie Weidenfeld im Vorwort des Buches Digitaler Humanismus, das sie gemeinsam mit Julian Nida-Rümelin verfasste. Sie seien »nicht nur dramaturgisch so aufgebaut wie klassische Mythen, sondern entwickeln auch eine vergleichbare Prägekraft«. Auch in Deutschland, wo sich Science-Fiction-Literatur bisher einer eher bescheidenen Popularität erfreut, ändert sich das mit steigendem Interesse an den Hollywoodverfilmungen von Comics, Science-Fiction- oder Fantasy-Bestsellern und erfolgreichen Blockbustern, von I, Robot über A.I. bis hin zu Blade Runner 2049 oder Iron Man. Inzwischen nehmen die »modernen Mythenmaschinen« viel stärker Einfluss auf unsere Einstellungen und Vorstellungen, als man es ihnen zugestehen möchte.

Mit den Superhelden, so Dieter Thomä in Warum Demokratien Helden brauchen, erleben wir im Kino »Auszeiten von unserer Schwäche, schalten um von Ohnmachtsgefühl auf Allmachtsfantasie – bis der Film aus ist und das Licht angeht«. Dann seien wir wieder »so klein mit Hut«. In der »postheroischen Gesellschaft« ist jeder und niemand ein Held. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe sucht »echte Alltagshelden« per Anzeige, eine Spielzeugfirma verkauft »Alltagshelden« im Set: Polizistin, Sanitäterin, Feuerwehrmann und Bauarbeiter aus Plastik für 20 Euro. »Liebling, sie haben die Helden geschrumpft«, schreibt Thomä. »Es sieht so aus, als lebten wir in einer Zeit der Heldendämmerung.«

Aber wozu braucht die Demokratie überhaupt Helden, fragt Thomä, wo doch alles ganz gut funktioniert – es gibt Wahlen, und der Staat sorgt für Ordnung. Das Verhältnis zwischen Heldentum und Demokratie sei gewiss keine Liebe auf den ersten Blick: Helden waren »früh dran«, Götter und Heroen der hellenischen Antike gehörten zur Zeit der Gründung der Athener Polis-Demokratie bereits der Vergangenheit an – »Demokraten sind Spätlinge der Geschichte«, erklärt Thomä das ambivalente Verhältnis zwischen Heldentum und Demokratie. Die Helden sind heute entweder alltäglich und klein – oder eben ganz groß: »XXL-Helden gibt es in rauen Mengen – freilich nur im Film. Die wundersame Vermehrung der Superhelden belegt nicht nur die Geschäftstüchtigkeit von Marvel & Co., sondern auch, dass in den Zuschauern ein unstillbares Bedürfnis nach Heldentum steckt.« Denn Demokratie, davon möchte uns Thomä überzeugen, braucht Helden. Und Heldinnen.

Doch dort, wo früher durchtrainierte, stets saubere, gebügelte und adrette Kleidung tragende und im »normalen« Leben ordentlichen Jobs nachgehende Helden waren (Spiderman beginnt seine Karriere als braver Schüler, Captain America ist Soldat, Wonder Woman Sekretärin), treiben sich heute dunkle Charaktere mit zweifelhaftem Humor und ohne feste Beschäftigung herum: Deadpool, Venom, Hancock. Die Zeit der Antihelden ist angebrochen. Jedenfalls in den Kinos.

»Nicht jeder Held ist demokratisch und nicht jede Demokratie braucht Helden«, erklärt Thomä. In einer Demokratie muss das Heldentum sowohl der Bürokratie als auch dem Kapitalismus widerstehen: Während der Kapitalismus »versucht, die große Sache in dessen eigene Sache zu verwandeln«, setzt die Bürokratie »bei der großen Sache an und erklärt den Helden für überflüssig«. Bei den demokratischen Helden – und das ist den Superhelden fremd – »steht das Wachsen an einer Aufgabe im Vordergrund«. Sie würden sich herausheben im Kampf gegen Erniedrigung und riskierten sogar ihr Leben für Frieden, Freiheit und Gleichheit. »Sie setzen sich für politische Ziele und Errungenschaften ein, auf die Verfolgte und Bedrängte aus allen Teilen der Welt ihre Sehnsucht richten.« Thomä unterscheidet zwischen Helden der Verfassung und Helden der Bewegung. Letztere »testen die Grenzen und verstoßen gegen die Regeln«. Sie würden den Status quo herausfordern, seien bereit, sich Ärger einzuhandeln oder ins Visier der Justiz zu geraten. Zu den Helden der Bewegung zählt Thomä u. a. die deutsche Kapitänin Carola Rackete oder die Umweltaktivistin Greta Thunberg.

»Bilden Sie wirre Allianzen«, diesen Ratschlag soll Kanzlerin Angela Merkel einem Aktivisten gegeben haben. Das passt sehr gut zu Deadpool, einen Anti(super)helden, der für seine Mission zur Weltrettung Helden per Anzeige sucht und sich im entscheidenden Angriffsmoment weigert, seine auf dem Weg kurzfristig zusammengewürfelte Heldengruppe »X-Men« zu nennen. Das sei sexistisch und diskriminierend, möchte er klarstellen. Deswegen wird sein Angriffstrupp, der leider nicht mal den Absprung aus dem Flugzeug überlebt, X-Force genannt. Ist das wirklich wichtig, wenn die Zukunft der Welt auf dem Spiel steht und die Zeit drängt? Nicht unbedingt. Aber gut, dass wir darüber gesprochen haben.

(Anti-)Helden der Demokratie

Was ist falsch, was richtig? Was ist gut, was böse? Stanisław Lem erklärte in einem Gespräch mit der Zeitschrift Cicero, dass »die Ethik, der wir im Allgemeinen gehorchen«, zu erheblichen Teilen widersprüchlich sei. Es gäbe verschiedene komplizierte und komplexe Situationen, von denen niemand eindeutig sagen könne, wie man handeln darf, muss oder soll. Ethik sei als Wissenschaft unbeweisbar, so Lem, und es gäbe genug moralische Probleme, für die keine eindeutige moralische Lösung existiere. »Wir können nur sehr unterschiedliche Meinungen haben.«

Was Menschen von Maschinen und Algorithmen unterscheidet: Menschen haben, im Gegensatz zu beispielsweise Softwaresystemen, Gründe für das, was sie tun. Lem erklärte, dass er nach der Lektüre des Buches The Life of the Spider versuchte, keiner Spinne mehr etwas zuleide zu tun. »Anders verhalte ich mich aber gegenüber Fliegen, Stechmücken und Würmern«, gab er zu. Oliver Bendel, Professor an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW), entwickelt mit Studierenden autonome Staubsauger, die Insekten verschonen. Wenn der Staubsauger einen Marienkäfer erkennt, bleibt er stehen, erklärt Bendel in seinen Vorträgen (den Spinnen gegenüber sei die Maschine weniger verständnisvoll, besagt das Gerücht). Er zeigt damit, dass man der Maschine Respekt für jedes Lebewesen beibringen kann. Die Entscheidungen der Maschine sind kategorisch, während der Mensch seine Entscheidungen immer wieder aufs Neue revidieren und korrigieren kann.

Währenddessen bedienen sich die Antihelden, ganz anders als etwa Roboter oder Maschinen, bei ihren Entscheidungen einer entwaffnend simplen Logik. Einfachheit ist die Voraussetzung für Zuverlässigkeit, davon ist der Computerpionier Edsger W. Dijkstra überzeugt, wenngleich er das für einen vollkommen anderen Kontext formulierte. Dass es uns gefällt, kommt nicht von ungefähr: »Die Evolution hat uns so geformt, dass wir relativ einfache Aufgaben in unserer damaligen Umwelt lösen konnten, um zu überleben«, sagte Lem. »Es ist schon merkwürdig, dass dieses Erbgut überhaupt ausreicht, um sich mit den komplizierten Fragen der Nanotechnologie oder der Weltraumforschung zu beschäftigen.« Möglicherweise ist die Eigenschaft der Antihelden, sich aus den moralischen Dilemmata möglichst wenig zu machen, ihr Erfolgsrezept. Während Batman von Zweifeln geplagt ist, wie viele Menschen auch immer er rettet, sich stets Vorwürfe macht, dass er nie alle – oder wenigstens nie den richtigen – retten kann, oder Wonder Woman, die den Menschen eigentlich nicht mehr helfen möchte, weil sie stets Kriege führen, es jedoch wider Willen immer wieder tut, folgen Super-Antihelden keiner offensichtlichen Logik – bis auf ihrer eigenen. Sie lassen sich vom Kapitalismus nicht instrumentalisieren und von Bürokratie nicht korrumpieren. Sind sie demokratische Helden? Das müssen sie nicht, um Helden der Demokratie zu sein. Man kann sie mögen, oder nicht. Man muss sie aber nicht verstehen. Sie sind menschlich, wie die antiken griechischen Götter. Aber viel lustiger.

Dieter Thomä: Warum Demokratien Helden brauchen. Plädoyer für einen zeitgemäßen Heroismus. Ullstein, Berlin, 2019, 272 S., 20 €.

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