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Dreizehn Improvisationen über Lindy Hop Tanzen als Sprache

2016 veröffentliche ich meinen Debütroman und erkranke an einer Depression. Es wird eineinhalb Jahre dauern, zurück in einen Alltag zu finden, der diesen Namen verdient. Die Depression erzeugt eine umfassende Sprachlosigkeit, ein Symptom, das für eine junge Schriftstellerin mit fragilem Selbstbild vielleicht besonders verstörend ist. Jedenfalls bin ich verzweifelt genug, jeden Rat von Ärzt:innen anzunehmen, und die sind sich einig: Bewegung hilft. Ich gehöre allerdings zu den Menschen, die nie einen Turnbeutel besessen haben und sich nichts aus Sport machen. Es folgt eine langwierige Suche nach einer Bewegungsform, die zu mir passt und weder individualistisch noch kompetitiv sein soll.

1. Sprachlosigkeit

Dann schleppt mich eine Freundin mit in eine »Nachbarschaftsinitiative für und mit Menschen mit und ohne Migrations- und Fluchterfahrung«. Einmal pro Woche lerne ich hier den Paartanz Lindy Hop. Ich verliebe mich sofort in diesen Tanz mitsamt seiner Swingrhythmen, seinen 20er- und 30er-Jahre-Klamotten und seinem clownesken Charme. Ich gehe auf Partys, fahre auf Festivals, lege mir Outfits zu. Es ist ein typischer Anfang für ein neues Hobby: Aus der Notwendigkeit einer Krise lässt man den Körper durch neue Verknüpfungen im Hirn Dopamin und durch Bewegung Endorphine ausschütten. Nach dem Tanzen geht es mir meistens besser und wirklich nie schlechter als vorher. Auf einer Party trägt jemand ein T-Shirt mit dem Aufdruck: Lindy Hop saved my life, und wäre es kein T-Shirt, sondern eine Unterschriftenliste, würde ich sofort den Stift zücken.

2. Außersprachlichkeit

Am Anfang halte ich das Tanzen für eine außersprachliche Erfahrung. Für die Geflüchteten findet der Kurs im Anschluss an den Deutschstammtisch statt, bei dem sie in informellem Rahmen die Sprachkenntnisse anzuwenden üben, die sie in ihren offiziellen Deutschkursen erwerben. Hinterher werden körperliche Aktivitäten angeboten, für die man keine gemeinsame Sprache braucht. Natürlich sprechen die beiden mit uns, die den Kurs leiten, aber schon weil es vielen an basalen Deutschkenntnissen fehlt, funktioniert der Unterricht vor allem über den Körper, über Vorzeigen und Nachahmung.

»Das Tanzen begreife ich als das Gegenteil von Sprache, Schreiben und Denken.«

Ich spreche wenig über das Tanzen und wenn, kommen nur pathetische Plat­titüden heraus, die man auf T-Shirts drucken könnte. Das Tanzen begreife ich als etwas, das ich nur mit dem Körper tue, es kommt mir wie das Gegenteil meines Berufs, wie das Gegenteil von Sprache, Schreiben und Denken vor. Diese Gegenteiligkeit erscheint mir so paradiesisch wie fragil: Ich schwöre mir, niemals übers Tanzen zu schreiben, um mir den Spaß an der Sache nicht durch Intellektualisierung zu ruinieren. Denn Intellektualisierung bedeutet Analyse bedeutet Entzauberung. Und ich brauche das Tanzen sehr dringend als Schutzzauber.

3. Körpersprachen

Lindy Hop wird frei getanzt, es gibt Schritte und Figuren wie Bausteine, die das Tanzpaar zur Musik improvisierend zusammensetzt. Über Berührung und Haltung zweier Körper wird eine gemeinsam ausgeführte Bewegung hergestellt. Es ist eine Form nonverbaler Kommunikation, und wo Kommunikation stattfindet, muss es auch eine Sprache geben, in der kommuniziert wird. Nach einiger Zeit stelle ich also fest, dass ich mich ganz grundsätzlich geirrt habe: Tanzen ist gar keine außersprachliche Erfahrung, denn auch Körpersprachen sind Sprachen. Lindy Hop ist eine von ihnen und man kann sie lesen und sprechen lernen.

4. Versagen

Nach etwa drei Jahren beginne ich, den Anfängerkurs zu unterrichten. Ich stelle mir das einfach vor. Das bisschen Grundschritt, denke ich, unterrichte ich mit links. Es ist ein typisches Unterschätzen von Didaktik, denn nur, weil Deutsch meine Muttersprache ist, kann ich es noch lange nicht unterrichten. Das wird mir schlagartig klar, als ich zum ersten Mal vor dem Kurs stehe und plötzlich zwei linke Füße und einen Knoten in der Zunge habe. Ich kann die Bewegungen zwar ausführen, aber ich kann sie nicht erklären. Oft liegt das schlicht an Ahnungslosigkeit: Spüre ich den Impuls für diese Figur an meiner Hand, an meiner Schulter oder an der Körperhaltung meines Partners? Kommt dieser Schritt initial aus der Hüfte, dem Knie oder dem Fuß? Und wie heißt bloß dieser Teil des Fußes – Hacke, Ferse, Ballen, Spann oder Sohle? Beim Versuch, meine erlernte Körpersprache in gesprochene Sprache zu übertragen, versage ich im Wortsinn.

5. Dolmetschen

Mit dem Unterrichten setzt ein neuer Lernprozess ein. Ich lerne, Körperteile präzise zu benennen. Ich lerne, gleichzeitig zu tanzen und laut den Takt zu zählen. Ich lerne, rhythmische Silbenfolgen zu sprechen, die die Basis-Tanzschritte verbal begleiten: Schu-Oua-Schu-Di-Da-Schu-Di-Da. Ich lerne sprachliche Vergleiche, die sich eines körperlichen Erfahrungsschatzes bedienen, von dem ich glaube, dass ich ihn voraussetzen kann und dass er aufs Tanzen übertragbar ist. Zum Beispiel: Die Körperhaltung im Lindy Hop ist leicht vorgebeugt, als wollten wir jemanden umarmen. Oder: Als Führende bestimmen wir nicht über die Bewegungen der Folgenden wie Chef:innen, sondern laden sie zu der Bewegung ein wie Gäste, die die Einladung auch ausschlagen dürfen. Oder: Wenn wir Charleston tanzen, kicken wir nicht mit der Fußspitze wie beim Fußball, sondern mit der Ferse, als würden wir den Hering eines Zelts in den Boden treten. Ich erarbeite mir eine mündliche Sprache, die ich zeitgleich zu den Tanzbewegungen oder direkt im Anschluss benutze. Ich verdolmetsche die Körpersprache Lindy Hop, mal simultan, mal konsekutiv. Man kann das Wort Körpersprache beim Wort nehmen: Körpersprachen lernt man am besten mit dem Körper und der Sprache.

6. Begabung

Die meisten Geflüchteten sprechen kein Deutsch, Englisch oder Französisch, also keine der drei Sprachen, in denen ich kommunizieren kann, sodass gar kein verbaler Austausch zwischen uns möglich ist. Manchmal tanze ich ein ganzes Jahr wöchentlich mit Menschen, von denen ich nur die Vornamen kenne, bis sie irgendwann genug Deutsch gelernt haben, um mir zu erzählen, wo sie wohnen, welchen Aufenthaltsstatus sie haben, welche Berufe sie mal hatten und welche sie jetzt haben, ob sie Familie haben und über welche Erdteile sie verstreut ist. Davor lerne ich die Menschen ausschließlich über ihre Körpersprache beim Tanzen kennen und meine, dass manche Körper körpersprachbegabter sind als andere.

7. Sozialisierung

Tänzerisch wurzelt Lindy Hop in afrikanischen Tänzen und der europäischen Paartanz-Tradition sowie im Charleston und Stepptanz. Er ist in den 20er- und 30er-Jahren in Harlem entstanden, dem Zentrum afroamerikanischer Kultur in New York. Musikalisch hat Lindy Hop seine Wurzeln im afroamerikanischen Jazz, den die Big Bands zur Swing-Musik weiterentwickelten. Ob wir diese swingtypische Rhythmik nun als kompliziert oder eingängig empfinden, ob sie uns fremd oder vertraut erscheint, hat vor allem damit zu tun, mit welchen musikalischen Rhythmen wir sozialisiert sind. Fürs Erlernen einer Körpersprache noch wichtiger als Begabung sind vielleicht die körpersprachlichen Selbstver­ständlichkeiten des kulturellen Kontextes, aus dem Menschen kommen.

8. Ressourcen

Manchmal beobachte ich einen Anfänger über Wochen bei seinen ersten Tanzschritten und denke insgeheim: Der hat gar kein Körpergefühl, kann den Arm nicht vom Bein unterscheiden, muss schon seit Monaten jede Stunde aufs Neue den Grundschritt lernen, das wird nie was. Und dann gibt es behördliche Neuigkeiten in seinem Leben – endlich der Aufenthaltsstatus, endlich die Arbeitserlaubnis, endlich der Familiennachzug – und plötzlich sitzt der Grundschritt. Als wäre ein Platz für Tanzschritte im Körper frei geworden, der vorher von existenzieller Not besetzt war.

9. Schreiben

Sechs Jahre, nachdem ich zu tanzen und drei Jahre, nachdem ich zu unterrichten begonnen habe, arbeite ich an meinem zweiten Roman und merke, dass ich meinen Schwur brechen und über das Tanzen schreiben muss. Es ergibt sich aus der Geschichte, die an einem bestimmten Punkt unbedingt eine Tanzszene braucht. Ich zögere lange. Ich habe große Angst, mir mein schutzzauberhaftes Hobby dadurch zu ruinieren, dass es eine berufliche Ebene bekommt. Über die Bereitschaft staunend, das Leben der Literatur zu opfern, entscheide ich mich dafür. Die Tanzszene wird zu einer meiner liebsten im Roman. Ich vermute, ohne das Unterrichten wäre sie gar nicht denkbar gewesen, ohne das Dolmetschen hätte es gar keinen sprachlichen Möglichkeitsraum für sie gegeben.

10. Zeitlichkeit

Martina Hefter beginnt ihren Essay »Tanzen« mit der Beschreibung einer Tanzbewegung. Minutiös beschreibt sie, was genau einzelne Körperteile in welcher Reihenfolge tun, über eine ganze Seite, die zu lesen etwa eine Minute dauert. Sie endet mit dem Satz: »Ungefähr zwei Sekunden sind vergangen.« Hier liegt eine wesentliche Tanz-in-Text-Übersetzungs-Krux: Eine Bewegung von zwei Sekunden braucht das Dreißigfache an Zeit, um mit Worten erfasst zu werden. Die Bewegung sieht schlicht und klar aus, der sie beschreibende Text aber wird wortreich und umständlich. In der Literaturtheorie würde man sagen: Erzählzeit und erzählte Zeit decken sich nicht, wir erzählen Körpersprache zeitdehnend, wie in einer ultralangsamen und ultralangweiligen Zeitlupe.

11. Wissenstradierung

Um meine rhythmische Silbenfolge für den Grundschritt hier aufzuschreiben, spreche ich zwei Stunden lang mit dem Pianisten und Lyriker Daniel Arkadij Gerzenberg darüber, wie ich Schu-Oua-Schu-Di-Da-Schu-Di-Da so aufschreiben könnte, dass Aussprache und Rhythmik maximal präzise rückübersetzbar wären. Ich lerne, dass es sich über eine rhythmische Notation und das Internationale Phonetische Alphabet lösen ließe, das hier aber herzlich wenig helfen würde. Weil ich weder selbst in diesen beiden Schriftsystemen alphabetisiert bin noch die Alphabetisierung bei Leser:innen voraussetzen kann, entscheide ich mich dagegen. Musikalität und Rhythmus gehören zu jenen Aspekten des Tanzens, die sich der Übertragung in meine Schriftsprache verwehren. Die Weitergabe von diesem Körperwissen funktioniert so gut über Stimmlippen, Ohren und die gleichzeitige Präsenz von Körpern in einem Raum, dass eine schriftliche Tradierung schlicht zu umständlich wird.

Swing und Lindy Hop leben von der Improvisation und also vom Moment.

Und wenn ich bedenke, wie sehr Swing und Lindy Hop von der Improvisation und also vom Moment leben, kommt mir mein Versuch, etwas davon dem Moment entziehen und schriftlich verewigen zu wollen, auch reichlich albern vor. Ich komme also zu dem Schluss, dass Körpersprachen überhaupt nicht nach Übersetzung in Schriftsprachen verlangen. Sie verlangen nach Platz, um ausgeführt zu werden, und manchmal verlangen sie nach Betrachtung, um gesehen zu werden. Das ist alles.

12. Raum

Zu den berührendsten Momenten gehörte es für mich, als sich eine Freundin nach einer Swing-Party für den Abend bedankte, der seit Jahren, seit ihrer Flucht aus dem Iran, der allererste unbeschwerte seit Jahren gewesen sei; zum ersten Mal habe sie sich wieder wie eine junge Frau gefühlt, die einfach mit Freunden tanzt und feiert. Die Party fand an einer Location statt, die es inzwischen nicht mehr gibt. In Berlin sind etliche Räume des Tanzens über die Pandemie verschwunden, pleite gegangen oder so teuer geworden, dass wir mit den Geflüchteten nicht hingehen. Tanzschulen, Ballsäle und Clubs müssten kulturpolitisch gefördert und geschützt werden, weil sie einzigartige Räume der Tradierung von Körperwissen sind.

13. Schutzzauber

»Tanzen hat die stärkste anti­depressive Wirkung.«

Entgegen all meiner Befürchtungen hat mir das Schreiben den Spaß am Tanzen nicht ruiniert. Mir scheint sogar, dem Tanzen ist es völlig egal, ob ich darüber schreibe. Es hat eine ausgewachsene Körperlichkeit und Gegenwärtigkeit als Kern, die sich von Intellektualisierung unbeeindruckt zeigt. Hierin liegt vielleicht sein eigentlicher Schutzzauber. Gerade erst hat eine australische Studie gezeigt, dass von allen Sportarten Tanzen die stärkste antidepressive Wirkung hat. Ich bin überzeugt, das liegt auch daran, dass Paartanz als Kommunikationsform und Tanzen als Körpersprache der Sprachlosigkeit der Depression etwas entgegenzusetzen haben. Und weil die Depression auf dem Weg zur Volkskrankheit Nummer eins ist, sollten Tanzkurse von der Krankenkasse übernommen werden.

Mit Dank an den Lindy-Hop-Kurs der Neuen Nachbarschaft Moabit sowie an Daniel Ger­zenberg, Lea Schneider, Christian Dittloff, Theresa Seraphin und Karoline Hippe.

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