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Ein Schild "documenta fifteen" steht neben Zeichnungen des rumänischen Künstlers Dan Perjovschi auf den schwarzen Säulen am Eingang vom Museum Fridericianum. Die Kunstausstellung geht vom 18.06. bis 25.09.2022 © picture alliance/dpa | Swen Pförtner

Ruangrupa und die documenta fifteen Teilbare Erfahrungen

Ganz egal, wann genau die eigene documenta-Laufbahn begonnen hat: Man erinnert sich vermutlich noch sehr gut an die jeweilige künstlerische Leitung der Weltkunstschau. Bei mir war es Okwui Enwezor, dessen Konzepte ich seinerzeit kaum durchdringen, aber ihre intellektuelle Eleganz zutiefst bewundern konnte. Ebenso die präzise Schärfe, mit der der Wahl-New Yorker, der in Nigeria geboren war und später Direktor des Hauses der Kunst in München wurde, seine Begriffe verwendete.

Auch seine Nachfolgerinnen und Nachfolger sind in guter Erinnerung: Das hochsympathische Duo Ruth Noack und Roger M. Buergel, die die Weltkunstschau gemeinsam führten und keine Lust hatten, »hier nur die Filetstücke der Kunstwelt auf einem Silbertablett zu präsentieren«, wie Buergel in einem Interview mit der Deutschen Welle erklärte. Unter Buergels und Noacks Leitung sollte die documenta radikal zugänglich werden, mit reduzierten Katalogtexten und vorrangig weniger bekannten Künstlerinnen und Künstlern.

Es folgte Carolyn Christov-Bakargiev, die ihren Schoßhund zu Pressekonferenzen mitbrachte und das Wahlrecht für Erdbeeren diskutieren ließ – schon 2012, also durchaus ein Jahrzehnt, bevor Diskurse zwischen den Spezien sowie Tiere und Pilzgewächse vollends in den Ausstellungsbetrieb Einzug gehalten haben. Und dann die documenta 2017 unter Adam Szymczyk, die wohl sehr gut gemeint war, aber vielen auch als besserwisserische, belehrende Schau im Gedächtnis bleibt.

Bei keinem anderen Kunstereignis spielen Personalien eine derart elementare Rolle. Dass alle fünf Jahre ein neuer Name vorgestellt und anschließend unter großer Neugier, aber oft auch einigem Raunen durch die Presse gejagt wird, gehört offenbar zur documenta dazu. Und trotzdem war die Überraschung unter deutschen Medienvertretern wieder groß, als die künstlerische Leitung der documenta 15 bekanntgegeben wurde, die in diesem Juni ihre Tore öffnet: Ade Darmawan, Ajeng Nurul Aini, Daniella Fitria Praptono, Farid Rakun, Indra Ameng, Iswanto Hartono, Julia Sarisetiati, Mirwan Andan, Narpati Awangga und Reza Afisina – oder, wie jeder bald nur noch schreiben würde: Ruangrupa.

Ein zehnköpfiges Kollektiv aus Indonesien, in dem sowohl Künstlerinnen und Künstler als auch Architekten, Musiker, andere Kreative und Kuratoren gemeinsam arbeiten. Ruangrupa hat Projekte auf zahlreichen Großkunstevents kuratiert, Biennalen in Gwangju, Istanbul und São Paulo bespielt und gemeinsam mit anderen Kollektiven einen großen Artists Space in Jakarta entwickelt, der als Zentrum für Kunst, Kultur, Experiment und Austausch fungiert. Für die documenta 15 bzw. fifteen, wie es jetzt kosmopolitisch heißt, stellte das Kollektiv sein lumbung-Konzept vor.

Lumbung bedeutet Reisscheune auf Indonesisch. Nach dem Vorbild der genossenschaftlich genutzten Scheunen im ländlichen Java sollen auch die ausgewählten documenta-Künstler gemeinschaftlich arbeiten und ihre Ressourcen teilen. Budgets gehören einer jeweiligen Gruppe gemeinsam, auf Wunsch können weitere Personen zur Mitarbeit eingeladen werden. Die Teilnehmerliste, die für gewöhnlich unter großem Zeremoniell erst kurz vor Ausstellungsbeginn verkündet wird, ließ das Kollektiv schon vorab veröffentlichen – erstmalig und exklusiv über die Obdachlosenzeitung Asphalt, im Oktober 2021.

Gemeinschaftliche Ressourcennutzung

Ruangrupas Nominierung erweist sich als geradezu prophetische Wahl: Das indonesische Kollektiv verkörpert so viele aktuelle Diskurse und Tendenzen, dass es einem fast unheimlich werden könnte. Das Prinzip der Gruppe gewinnt gegenüber dem Typ Einzelkämpfer schon länger an Attraktivität – ob tatsächlich mehr Leute im Kulturbetrieb derzeit im Kollektiv beziehungsweise auch als Duo arbeiten oder ob die Aufmerksamkeit für gemeinschaftliche Arbeit bloß ein wenig geschärft worden ist, sei einmal dahingestellt. Nach zwei Jahren weltweiter Pandemie, die erstmals wieder so etwas wie eine teilbare globale Erfahrung erschaffen konnte, kommt Ruangrupas Plädoyer für die Zusammenkunft jedenfalls vielen documenta-Besuchern sicherlich gelegen. Mit dem »ruru-Haus«, einem neu belebten Betonklotz in der Kasseler Innenstadt, hat das Kollektiv der Weltkunstschau zudem einen Ort der Begegnung beschert, an dem Lesungen und Diskussionen organisiert werden.

Die Umnutzung bestehender baulicher Strukturen ist ein weiterer Punkt, der derzeit überall auf der Agenda steht und von Ruangrupa konkret vorangetrieben wird. »Wir wollen Räume schaffen, die die Beziehungen zwischen Stadtzentrum und Peripherie neu definieren. Es geht darum, Stadterfahrung zu dezentralisieren und die unterschiedlichen urbanen Räume – wie das Nebeneinander von Industrie- und Wohngebieten – und die verschiedenen hier lebenden Menschen miteinander zu verbinden«, erklärte das Kollektiv. Nun wird die documenta unter anderem auf ein ehemaliges Firmenareal sowie ein benachbartes Hallenbad im Kasseler Osten ausgeweitet.

Gemeinschaftliche Ressourcennutzung, die Stadt neu denken, nachhaltig handeln, Konflikte gemeinsam lösen, gar das Versprechen auf Heilung durch die Kunst: All das hallt derzeit durch die Ausstellungskataloge und klingt auch an im Programm zur documenta fifteen. Allerdings definiert Ruangrupa all dies erst einmal ohne gigantischen ideologischen Überbau, sondern eher pragmatisch. Das Kollektiv ist wie viele Kulturschaffende Südostasiens krisengeschüttelt, gegründet zu einer Zeit, in der sich das postkoloniale Indonesien gerade aus Haji Mohamed Suhartos brutaler Militärdiktatkur befreite.

Die Freiheit halten seine Mitglieder, und das steht nicht im Widerspruch zum Credo der Gemeinschaft, für das höchste Gut. Identitätspolitische Ansprüche pariert man mit elegantem Witz: Wo die Berlinale unter Dieter Kosslick noch strebermäßig (mit fast manischer Kategorisierungslust) in jeder Pressemail die genaue Quote unterschiedlicher Herkunftsländer der vertretenen Filmemacher auflistete, als ob die allein schon mehr aussagen würde als beispielsweise deren sozioökonomischer Background, gab es von der documenta fifteen ursprünglich nur einen Hinweis: die Zeitzone, in der die Ausstellenden leben und arbeiten.

Gleichwohl spielten biografische Eckdaten durchaus eine Rolle bei der Auswahl der Teilnehmenden, die in kleinen Arbeitsgruppen, sogenannten majelis, zusammenwirken (die Wortneuschöpfungen und -Adaptionen sind ein weiteres Merkmal dieser documenta; es gibt ein komplettes Glossar mit idiomatischen documenta-15-Begriffen). Es sind viele Kollektive dabei, Künstlerinnen und Künstler aus Afrika, dem Nahen Osten, Südamerika und Asien, afroamerikanische Gruppen und eine aus Budapest, das unabhängig vom ungarischen Staat arbeitet. Aber auch zum Beispiel Graziela Kunsch, die Kunstvorhaben mit Müttern, Babys und Kindern entwickelt, oder das britische Kollektiv Project Art Works, das mehr Neurodiversität einfordert. Humor soll eine ebenbürtige Rolle spielen, erklärt Ruangrupa in einer Video-Reihe; man betrachte ihn als strategisch. Ebenso wie Großzügigkeit, Unabhängigkeit, Transparenz, Genügsamkeit und Regeneration, zum Beispiel durch »Rumhängen«. Dazu später mehr.

Dem Prozess folgen

Gemeinsam arbeiten, gemeinsam Kunst schaffen, das ist natürlich gar nicht so neu, weder in den Agrargenossenschaften noch in den Künstlerateliers und Artists Spaces dieser Welt. Aber so wie das indonesische Kollektiv hat die documenta eben auch noch niemand zuvor künstlerisch betrieben. Und womöglich auch selten so konsequent. Was erstaunlich genug ist. Statt großer Satelliten-Ausstellungen, die bei aller gut gemeinten Absicht wohl auch dem kuratorischen Ego dienten, konzentriert man sich 2022 ganz auf den Ur-Standort Kassel und auf dessen Möglichkeiten. Ganz getreu der Losung »Trust the process!«, im Vertrauen darauf, dass künstlerische Prozesse ihre eigene Dynamik entfalten.

Genau hier liegen dann auch die realen Grenzen der documenta fifteen. Wo sie gedanklich weit ausufern lässt, Querverbindungen und Assoziationen begrüßt, bleibt sie in ihren Arbeitsprozessen konsequent bis streng. Wird der brutale Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine eine spezifische Rolle spielen auf dieser Weltkunstschau? »Im Zuge der Prozesshaftigkeit der documenta fifteen wird der Ukraine-Krieg möglicherweise direkt oder indirekt auch Eingang in Beiträge von lumbung-Künstler*innen finden«, heißt es dazu auf Nachfrage vieldeutig aus der documenta-Pressestelle. Man verweist auf Teilnehmende, die Erfahrungen mit Krieg und bewaffneten Konflikten auch aus anderen Regionen weltweit teilten, und auf den rumänischen Künstler Dan Perjovschi, der »Stop War, Stop Putin«-Banner am Fridericianum anbringen ließ.

Auch hier also, was eigentlich selbstverständlich ist: Die Autonomie des künstlerischen Prozesses geht vor. Es ist nachvollziehbar, dass die documenta keine Alibifunktion fürs gute Weltgewissen und keine nationale Repräsentation erfüllen möchte. Bemerkenswert auch, dass hier nicht – wie sonst inzwischen fast üblich – die Auffassung vertreten wird, dass nur unmittelbar Betroffene über sich und ihre Verhältnisse künstlerisch berichten können. Gleichzeitig findet eine documenta in der realen Welt statt, in diesem Fall gut 1.500 Kilometer von einem Vernichtungskrieg entfernt, der Millionen Menschen betrifft.

Die Möglichkeit, eines der zahlreichen ukrainischen Kunstkollektive zusätzlich einzuladen, wäre denkbar gewesen (eventuell erfahren wir aber auch erst zur documenta-Eröffnung davon). Vielleicht zeigt sich an dieser Stelle aber auch, was mir der Kiewer Künstler Nikita Kadan, selbst Teil einer Künstlergruppe, erklärte: Die Post-Sowjetstaaten spielen im Kunstbetrieb schlicht kaum eine Rolle. Gerade bei der aktuell beliebten Unterteilung in »Westen« versus »Globaler Süden« fallen sie durchs Raster. Und selbst das Framing »Ost« meint in aller Regel eben vor allem das heutige Russland, nicht das Baltikum, Georgien, die Ukraine, Belarus. Wenn eine globale Betrachtung aber nurmehr fragmentarisch möglich scheint, treten Konflikte aufs Zynischste in aufmerksamkeitsökonomische Konkurrenz. Wovon dann wiederum ebenfalls Kunstschaffende in anderen Kriegsregionen berichten können.

Mit ungeteilten Erfahrungen und Haltungen hat auch dieser Umstand zu tun: Die bis dato erste fundamentalere Kritik erntete Ruangrupa und vor allem das zugeordnete »Artistic Team« Anfang dieses Jahres, als das »Bündnis gegen Antisemitismus Kassel« die israelfeindlichen Aussagen eines an der documenta teilnehmenden »The Question of Funding«-Mitglieds sowie die Unterstützung von Boykott-Israel-Aufrufen und Al-Quds-Protesten in ätzender Polemik auseinandernahm. Claudia Roth kümmerte sich und nahm Stellung gegen Antisemitismus. Der Vorstand des documenta Forum e.V. gab ein Statement ab, in dem er sich auf die Freiheit der Kunst berief und zugleich das Verbot der BDS-Bewegung, die dem Land in Teilen sein Existenzrecht abspricht, kritisierte. Antisemitismus und Rassismus wurden in einem Atemzug verurteilt und damit weder dem einen noch dem anderen Phänomen Rechnung getragen. Ruangrupa selbst blieb im Hintergrund, ein Kollektiv schützt eben auch vor unmittelbarer Positionierung.

Auf einer Berliner Pro-Palästina-Demonstration Ende April 2022, bei der Journalistinnen und Journalisten vulgär antisemitisch beschimpft wurden und bei der es zu gewalttätigen Ausschreitungen kam, waren auch folgende Schlagworte auf Plakaten zu lesen: »Apartheid«, »Boycott« und, nicht zuletzt: »Decolonize Palestine«. Antisemitismus ist ein Kitt, der in viele Richtungen anschlussfähig ist, hier (keineswegs abschließend) an postkoloniale Diskurse.

Es wäre allerdings scheinheilig, die documenta-Leitung und die beteiligten Künstler zu kritisieren und im selben Moment zu verschweigen, dass die Europäische Union und teilweise auch Deutschland Gefahr laufen, auch Organisationen mit antisemitischen Narrativen in den palästinensischen Gebieten finanziell zu unterstützen und damit nicht nur entsprechende Ideologien nähren helfen, sondern ebenso das reale Elend der Bewohnerinnen und Bewohner langfristig manifestieren. Statt zum Beispiel Druck auf Nachbarstaaten wie Ägypten oder Jordanien auszuüben, ihrerseits einen Beitrag zur Verbesserung der Lage in den palästinensischen Gebieten zu leisten.

Israelfeindliche Einstellungen sind (auch) im Kunstbetrieb keine Seltenheit, ganz gleich, ob sich jemand nun selbst dem Westen oder dem Globalen Süden zuordnet. Dieser Absatz soll mit einigen unabgeschlossenen Fragen enden: Hat eine Weltkunstschau besser zu sein als die Welt und ihre politischen Zusammenhänge, die sie auch finanziell zusammenbringen? Gehört zur Sichtbarmachung, die Kunst ja leisten kann, eben weil sie relativ frei ist, auch die Demaskierung entsprechender Gedankenmodelle? Darf man ihrem Prozess vertrauen, im Zweifel klüger, großherziger, ambivalenter zu sein als Ideologien und Ressentiments, die sowohl Künstler als auch ihr Publikum mitbringen? Oder gehen wir damit dem Kunstversprechen auf den Leim? Können falsche Verhältnisse richtige Perspektiven hervorbringen? Ist so eine Weltkunstschau überhaupt der richtige Ort für Ideologiekritik?

Gemeinsam schön rumhängen

Kunst ist kein Ersatz für Politik, und umgekehrt: »Eine politische Haltung genügt nicht, um aus einem aufgeblasenen Schlauchboot Kunst zu machen«, schreibt treffend die Autorin und Kunstwissenschaftlerin Larissa Kikol. Auch bietet eine Weltkunstschau keinen Ablasshandel. Sie kann die berühmten Resonanzräume eröffnen, in denen man sich begegnet, andere Gedanken sicht- und denkbar werden und man sogar Paradoxien nebeneinander existieren lässt. Letzteres ist vielleicht ihre wichtigste Qualität.

Sich in eine Kunstausstellung zu begeben, um die Konflikte der realen Welt durchspielen zu lassen und kathartisch befreit nach Hause zu gehen, bleibt wohl eine naive Vorstellung. Ruangrupas Handlungsfeld ist das der Kunst – dass es allein hier schon eine ganze Menge komplett anders zu machen gibt, weil Arbeitsprozesse und Strukturen im Business bis heute erstaunlich un-kunstig, bürokratisch und hierarchisch sind, belegt die Resonanz auf ihr Konzept. Immer wieder wurde das Kollektiv mit einer mutmaßlich auch rassistisch grundierten Arroganz gefragt, ob es sich denn seiner »Verantwortung« als künstlerische Leitung der documenta überhaupt bewusst sei.

Bleibt die Frage aller Fragen, die jeder documenta vorausgeht: Machen eine interessante Personalie, ein gutes Konzept schon eine gute Kunstschau? Wo das Gefühl der Sackgasse von vielen Menschen weltweit geteilt wird, und wo sich immer mehr Menschen auch aus dem Kunstbetrieb schon seit Jahren fragen, ob so eine selbsternannte Weltkunstschau überhaupt noch zeitgemäß ist, könnte sich Ruangrupas hands-on-Ansatz als eine spielerische, willkommen leichtherzige Perspektive für inhaltlich Eingemachtes herausstellen. In der Hoffnung, dass es sie doch gibt, die teilbaren Erfahrungen, zumindest punktuell.

Was traditionell immer fehlt auf solchen Großveranstaltungen, das sind »echte« Räume. Physische Gelegenheiten zum Sitzen, Ausruhen, Austauschen. Genau die verspricht das Kollektiv den documenta-Besucherinnen und -Besuchern. Man solle, heißt es, auch Zeit zum Nongkrong mitbringen. Eine Art vermeintlich unproduktives Rumhängen, Snacken, Plaudern, vielleicht mit »Muße« treffend übersetzt. Die erste und einzige Ausstellung, die das Kollektiv je als eigenes Kunstprojekt realisiert hat, hieß übrigens »Lekker Eten Zonder Betalen« – Lecker Essen, ohne zu bezahlen. Es fand 2003 in Jakarta statt: Ein Happening. Eine Einladung, genau dies gemeinsam mit Ruangrupa zu tun.

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