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Günther Rühles monumentale Theatergeschichte Theater in Deutschland

Günther Rühle, der im Dezember 2021 im Alter von 97 Jahren starb, repräsentiert wie kein anderer das bürgerliche deutsche Theater in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: als Kritiker, als Theaterleiter, als langjähriger Präsident der Deutschen Akademie der darstellenden Künste, zuletzt als sein unvergleichlicher Chronist. Er war der Herausgeber der Werke des Berliner Kritikers Alfred Kerr und der Werke der Ingolstädter Dramatikerin und Erzählerin Marieluise Fleißer, die von Lion Feuchtwanger und Bert Brecht in den 1920er Jahren entdeckt worden war.

Ihre Bücher und Stücke, im Dritten Reich unerwünscht, erlebten Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre eine Renaissance, was nicht zuletzt Günther Rühle zu verdanken war. Er war der Verfasser zahlreicher Bücher,und noch im Jahr seines Todes veröffentlichte er ein literarisches Kleinod autobiographischen Charakters: Ein alter Mann wird älter. Ein merkwürdiges Tagebuch, worin er über das Alleinsein im hohen Alter und sein Leben für und mit dem Theater nachdachte. Sein Hauptwerk sind die drei fulminanten Bände Theater in Deutschland. Seine Ereignisse – seine Menschen, rund 3.600 Seiten umfassend, die Theaterchronik eines ganzen Jahrhunderts.

Über die Frankfurter Rundschau und die Frankfurter Neue Presse, wo er als »Feld- und Wiesenredakteur« (Rühle) tätig war, kam Günther Rühle 1960 zur FAZ. Hier blieb er fast 25 Jahre, stieg auf zum Chef des Feuilletons, einflussreich und hochgeschätzt vor allem als Theaterkritiker, nicht nur beim lesenden Publikum, sondern auch bei Regisseuren und Schauspielern. Er verehrte Lessing, nach dem »das Theater die Schule der moralischen Welt sein soll«. 1984 trug der Frankfurter Kulturdezernent Hilmar Hoffmann dem inzwischen 60-Jährigen die Intendanz des Schauspiels Frankfurt an, als Nachfolger von Adolf Dresen.

Diese Intendanz war von Beginn an von Skandalen überschattet. Rühles Absicht, Rainer Werner Fassbinders Stück Der Müll, die Stadt und der Tod, in dessen Zentrum ein reicher jüdischer Geschäftsmann steht, uraufzuführen, trug ihm von Seiten seines früheren FAZ-Chefs Joachim Fest den Vorwurf des Antisemitismus ein. Rühle argumentierte, dass die Rolle eines Antisemiten das Stück nicht automatisch zu einem antisemitischen Stück mache.

Die jüdische Gemeinde protestierte trotzdem, mit ihr Tausende vor den Toren des Theaters, obwohl nur wenige das Stück kannten. Was darf die Kunst? Der Regisseur Peter Zadek vertrat die Meinung, das Stück sei zweifellos antisemitisch, gerade deshalb müsse es aufgeführt werden. Es kam aber nur zu einer einzigen, nicht öffentlichen Vorstellung für Kritiker und geladene Gäste. Fassbinders Stück wurde vom Spielplan genommen. Rühle sah darin das Ende des aktiven politischen Theaters.

Ein weiterer Kritikpunkt richtete sich gegen Rühles Engagement für den 1976 aus der DDR in den Westen gekommenen Bühnenbildner, Regisseur und Autor Einar Schleef. Schon Schleefs erste Inszenierung, das Antikenprojekt Die Mütter, gespielt auf weitgehend leerer Bühne vor leergeräumtem Zuschauersaal, erhitzte die Gemüter der Besucher und Kritiker. Schleef, geschult am Drama der Antike mit seiner streng chorischen Struktur, setzte auf die Kraft der Emotion und die Gewalt der Vielen jenseits individueller Psychologie. Der Kritiker Peter Iden meinte darin fanatisches und antiaufklärerisches Sektierertum zu erkennen. Rühle verlängerte seine Intendanz nicht und kehrte zur publizistischen Theaterarbeit zurück.

Ein Jahrhundertbuch

Der wichtigste Ertrag dieser Schaffensperiode sind die erwähnten drei Bände mit dem Titel Theater in Deutschland. Band 1 steckt die Jahre von 1887 bis 1945 ab, vom Kaiserreich über die entfesselten 20er Jahre der Weimarer Republik mit ihrer Spaltung in die konservative und progressive Strömung, wie sie durch Regisseure wie Max Reinhardt und Erwin Piscator verkörpert wurden, bis zur reaktionären Theaterpolitik der Nationalsozialisten. Rühle recherchierte gründlich die Theaterszene jener Zeit vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen und Veränderungen des bürgerlichen Theaters.

Band 2 reicht von 1945 bis 1966, vom Ende des Zweiten Weltkriegs über die politische Spaltung in zwei deutsche Staaten und die restaurativen 50er Jahre bis zu den Arbeiten der Remigranten Brecht, Piscator, Kortner und der Politisierung des Theaters in Ost und West in den 1960er Jahren mit Stücken wie Hochhuths Stellvertreter, Peter Weiss‘ Marat/de Sade und Heinar Kipphardts In der Sache J. Robert Oppenheimer.

Der dritte, aus dem Nachlass Rühles erschienene Band reicht von 1967 bis 1995 und ist der 2019 verstorbenen Verlegerin und Mäzenatin Monika Schoeller gewidmet. Dass er Fragment blieb, ist dem Alter und der abnehmenden Seefähigkeit Rühles geschuldet. Fünf Jahre hat er an dem Band gearbeitet, ohne ihn vollenden zu können. Der Dramaturg Hermann Beil und der Theaterwissenschaftler Stephan Dörschel übernahmen auf Bitte des Autors die Durchsicht und Herausgeberschaft. Der Band beginnt mit einer detaillierten Inhaltsskizze der fünf historisch strukturierten und assoziativ kommunizierenden Kapitel: »Die Alten und die Jungen«, »Ein neues Zeitalter beginnt«, »Debakel und Wunder«, »Der Anfang vom Ende« und »Befreites Theater freies Theater?«

Die Titel lassen die Entwicklung des Theaters vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und politischen Veränderungen ahnen. Diese vollzogen sich im Westen stärker als im Osten, wo bis zuletzt die ideologische Bevormundung die Theaterarbeit behinderte, so dass sich zunehmend Theaterleute aus dem Osten in den Westen absetzten und dort auch reüssierten.

Der Umbruch der späten 60er Jahre

Rühle sieht in den politisch bewegten Jahren 1967/68 den großen Umbruch des (west)-deutschen Theaters. In der Bundesrepublik gingen Tausende, vor allem Studenten, auf die Straße, demonstrierten gegen den Vietnam-Krieg, die Notstandsgesetze, den Springer-Verlag und die kapitalistische Wirtschaftsordnung, sie setzten sich für den Frieden ein, für die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit, für betriebliche Mitbestimmung und Gleichberechtigung der Geschlechter. »Die in den sechziger Jahren antretende neue Generation brachte nicht nur neue Themen, vor allem von 1967 an auch andere Spielweisen, um die Konfrontation wiederzugewinnen, mit der das bürgerliche Theater einst mit Lessing und den Stürmern und Drängern angetreten war«, schreibt Rühle.

Die politischen Zuspitzungen, die neuen Stücke und Themen, die veränderte Spiel- und Sprechweise und die mitunter grellen Inszenierungen fanden nicht immer Beifall.

Das weckte zwangsläufig Ressentiments und Widerstände des bis dahin tonangebenden bürgerlichen Publikums, gerade im Umgang mit den Klassikern. Die politischen Zuspitzungen, die neuen Stücke und Themen, die veränderte Spiel- und Sprechweise und die mitunter grellen Inszenierungen fanden nicht immer Beifall und waren oft heiß umkämpft. In den 1970er Jahren gab es einen deutlichen Rückgang der Abonnentenzahlen, da viele Unzufriedene sich in den neuen Stücken und Spielformen nicht wiederfanden. Dem stand die Begeisterung vor allem der Jüngeren für die avancierten Stücke und die mitunter provokanten Aufführungen gegenüber. Von hierher datiert Rühle den Beginn einer fast zwanzig Jahre währenden anregenden und nicht selten aufregenden Phase des Theaters.

In Frankfurt wagte im März 1968 der alte Harry Buckwitz die Aufführung des Viet Nam Diskurses von Peter Weiss, die an das politische Theater der Weimarer Zeit anzuknüpfen suchte. In Stuttgart brachte Peter Palitzsch, der aus der DDR und von Brecht herkam, Tankred Dorsts Stück Toller heraus, worin der Literat Ernst Toller an der Spitze der Münchner Räterepublik von 1919 agiert, mit großer Gebärde und individuellem Versagen. Das Theater stand inmitten der aktuellen Ereignisse der Zeit, saugte sie auf, wurde selbst zum Ort öffentlicher Debatten und Auseinandersetzungen. Rühle, ein engagierter Historiker, liefert zahlreiche politische Verweise, Zusatzinformationen und Analysen. Er zitiert Kollegen, Politiker, Künstler, zuweilen sich selbst – solche Abschweifungen und Einschübe aus dem Fundus eines lustvoll im Theaterleben Stehenden erweitern und vertiefen den Radius des Buches.

Der Band endet 1993 mit dem Rückzug Peter Steins von der Berliner Schaubühne, der dieser Regisseur in den 1970er Jahren zur Weltgeltung verholfen hatte. Nach der Wiedervereinigung, nach all den obsolet gewordenen Ideologien und verlorenen Illusionen, musste auch das Theater ein neues Selbstverständnis suchen, wobei es, wie Rühle vermerkt, nicht selten in der Beliebigkeit stecken blieb. Schlusspunkt war dann der Tod Heiner Müllers am 30. Dezember 1995.

Der Tod Heiner Müllers ist für Rühle ein einschneidendes Ereignis in der Phase eines Generationenwechsels und der Suche nach neuen Perspektiven.

In den Augen des Chronisten war dieser Dramatiker in beiden deutschen Staaten gleichermaßen einflussreich, im Osten lange umstritten und mit Aufführungsverboten und Textänderungen drangsaliert, im Westen immer häufiger gespielt und anerkannt.

Rühle hat Müllers Entree ins westdeutsche Theater 1968 mit dem frühen Stück Philoktet, inszeniert von Hans Lietzau im Münchner Residenztheater, als Kritiker miterlebt. Er skizziert Müller als »Gegen-Aufklärer von dumpfer Stoßkraft, der Selbstdurchlittenes – gebraucht und verstoßen – in autonome Bildprozesse zu verstecken begann«. Als Autor und Regisseur, der sowohl am Berliner Ensemble wie im Bayreuther Festspielhaus arbeitete, blieb Müller eine erratische Figur. Seinen Tod interpretiert Rühle als einschneidendes Ereignis in dieser Phase eines neuerlichen Generationenwechsels und der Suche nach neuen Perspektiven.

Theatergeschichte als Lesevergnügen

Rühles Theatergeschichte über das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts ist für ältere Leser eine unerschöpfliche Fundgrube des Erinnerns, für die Jüngeren eine anregende Dokumentation lebendigen Theaters. Alle namhaften Regisseure sind hier mit ihren bedeutenden Inszenierungen vertreten: Fritz Kortner, Benno Besson, Ruth Berghaus, Peter Palitzsch, Adolf Dresen, B.K. Tragelehn, Claus Peymann, Jürgen Flimm, Dieter Dorn, Hansgünther Heyme, Luc Bondy, das Team Manfred Karge/Matthias Langhoff, Frank-Patrick Steckel, Klaus Michael Grüber, Ernst Wendt, Christoph Marthaler, Wilfried Minks, Hans Neuenfels, Hans Hollmann, Frank Castorf, Niels-Peter Rudolph, George Tabori, Rainer Werner Fassbinder, nicht zuletzt die großen Antipoden Peter Stein und Peter Zadek. Und solche Namenslisten ließe sich anhand des Buches auch für die bedeutenden Dramatiker und die vielen memorablen Schauspieler und Schauspielerinnen dieser Zeit anlegen, um den theatralischen Reichtum dieser Zeit wenigstens anzudeuten.

Das Eintauchen in diese Theaterwelt ist auch deshalb beglückend, weil Günther Rühle sie so anschaulich und erinnerungsdicht vermittelt.

Das gilt nicht zuletzt für die zentralen Themen, die hier ausführlich behandelt werden: das Regietheater, das politische Theater, das Theater der Erinnerung, die kollektiven Theaterexperimente, die Frage von Werktreue und Interpretation. Und das sind nur wenige Stichpunkte eines überbordenden, faszinierenden Buchs, das Aufführungen, Stücke, Ensembleleistungen, schauspielerische Auftritte, Regiearbeiten und Bühnenbilder mitsamt den prägenden Personen und den sich wandelnden Theaterstilen bis in die Details vor Augen bringt. Hinzu kommt ein umfangreicher Anhang mit detaillierten Zeittafeln, der fast zweihundert Seiten umfasst.

Das Eintauchen in diese Theaterwelt ist auch deshalb beglückend, weil Günther Rühle mit seinem grandiosen visuellen Gedächtnis wie kein Zweiter in der Lage war, sie so anschaulich und erinnerungsdicht zu vermitteln. Zu seinem Buch befragt, hat er kurz vor seinem Tod in einem Interview gesagt: »Das, was ich schreibe, wird einmal als Wahrheit gelten.« Das scheint auf den ersten Blick anmaßend, drückt aber nur die simple Erkenntnis aus, dass es Bücher gibt, die schon von ihrem Ansatz her konkurrenzlos sind. Denn wer wird sich nach Rühle noch an ein ähnliches Unternehmen heranwagen? Sein Buch schreibt nicht nur Theatergeschichte, es ist auch ein beständiges Lesevergnügen.

Günther Rühle: Theater in Deutschland 1967–1995. Seine Ereignisse – seine Menschen. (Hrsg. von Hermann Beil und Stephan Dörschel), S. Fischer, Frankfurt/Main 2022, 800 S., 98 Euro.

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