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Todesarten

Vergleicht man die Altersstruktur Deutschlands mit der der Weltbevölkerung, so erkennt man ein bemerkenswertes Missverhältnis. Letztere entspricht noch weitgehend dem, was man als »Alterspyramide« bezeichnet: Auf einer sehr breiten Basis Neugeborener folgen zunehmend schmalere Jahrgänge bis hin zu einer Spitze aus wenigen, die über 100 Jahre alt sind. Die Gruppe der 24–29-Jährigen ist hier freilich schon stärker besetzt als die ihrer Nachrücker. In Deutschland hingegen ist die Pyramide auf dem Weg, sich umzudrehen: Auf einer schmalen Basis von Neugeborenen erhebt sich eine Altersverteilung, die ihre maximale Breite in der Gruppe der 50–54-Jährigen erreicht und erst bei den über 80-Jährigen weniger Menschen aufweist als in der Gruppe der Neugeborenen. So verwundert es auch nicht, dass sich das Verhältnis vieler Menschen in Deutschland zu den Themen Alter, Gebrechlichkeit, Demenz, Pflege und Tod grundlegend gewandelt hat, sieht sich doch ein wachsender Teil der Bevölkerung damit direkt konfrontiert.

Deshalb gilt es, sich von dem Gemeinplatz zu verabschieden, wir hätten den Tod verdrängt. Zwar haben der Jugendkult der letzten Jahrzehnte und die von Barbara Ehrenreich in ihrem Buch Wollen wir ewig leben? als »Wellness-Epidemie« angeprangerte Bewegung diesen Eindruck nahegelegt. Doch das ist kein neues Phänomen. So gab es etwa zu Zeiten, als die Pest wütete, den Decamerone von Giovanni Boccaccio, dessen lebenspralle Geschichten dem allgegenwärtigen Memento mori zu widersprechen schienen. Die »Masse der Film-, Fernseh- und Kriminalromantoten«, die spektakulären Leicheninszenierungen eines Gunther von Hagens und die Beliebtheit von Vampir- und Zombie-Darstellungen sprechen nach Ansicht von Ute Planert und Frank Süß, den Herausgebern einer aktuellen Sozialgeschichte des Todes, auch »weniger für die Verdrängung des Todes als für seine Omnipräsenz und eine vor allem durch die Medien vermittelte Alltäglichkeit«. Dabei stellt sich die Frage nach dem Unterschied zwischen einer unmittelbaren und einer medial vermittelten Alltäglichkeit, denn es ist nicht dasselbe, ob man einen Toten oder Bilder von Toten gesehen hat.

Der Tod als Familiensache

Solch unmittelbare physische Konfrontation mit unserer Sterblichkeit ist uns freilich durch die Auslagerung des Sterbens in Heime und Kliniken und durch umfassende Dienste von Bestattungsunternehmen weitgehend abhandengekommen. Doch war es schon immer so, dass unterschiedliche Leute zu unterschiedlichen Zeiten auch unterschiedlich starben und bestattet wurden. »Zwischen Status, Prestige und Distinktion« hat in der zitierten Sozialgeschichte Anna-Maria Götz ihren Beitrag »Das bürgerliche Familiengrab und der Wandel des Bestattungswesens im 19. Jahrhundert« überschrieben. Ein proletarisches Gegenstück dazu liefert Norman Aselmeyer in seinem Aufsatz »Cholera und Tod. Epidemieerfahrungen und Todesanschauungen in autobiografischen Texten von Arbeiterinnen und Arbeitern«.

Im bürgerlichen Zeitalter, so die Herausgeber, sei der Privatisierung des gesellschaftlichen Lebens eine »Familiarisierung des Todes« zur Seite getreten: Der greise Patriarch, der im Kreise seiner Nachkommen letzte Verfügungen trifft, um sich dann lebenssatt und lebensmatt seinem Schöpfer anzuvertrauen; die sterbende Mutter im Kreise ihrer weinenden Kinder, die ihr jüngstes nicht wird aufwachsen sehen – sie beide fanden ihren Platz im Familiengrab. Und beide wurden selbstverständlich komplett und im Sarg beigesetzt. Was von ihrer »sterblichen Hülle« am Ende übrig blieb, waren die Knochen. Und die bilden die materielle Grundlage der biologischen Anthropologie. Historische und prähistorische Knochen- und Zahnfunde belegen die Evolution des Menschen. Funde aus der näheren Gegenwart dienen forensischen Anthropologen bei der Aufklärung von Morden und Kriegsverbrechen. Deshalb treten sie nicht nur in Kriminalromanen, sondern auch als Sachbuchautor/innen häufig auf: Knochenarbeit. Anthropologen auf Tätersuche ist ein Werk betitelt, das der Tübinger Wissenschaftler Joachim Wahl für ein breiteres Publikum verfasst hat.

Wahl berichtet darin anschaulich über Einzelfälle, aber auch über ganze Friedhöfe, die den Forschern erstaunliche Einblicke in Lebens- und Todesumstände von Menschen liefern, die vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden gelebt haben. Während Museumsdirektor/innen aus aller Welt derzeit ihre Bestände nach Knochen aus der Kolonialzeit durchsuchen, die man deren Nachkommen übergeben müsste, scheint solche nachgereichte Pietät für ältere einheimische Tote nicht zu gelten, aber das liegt durchaus im Trend. Feudale und bürgerliche Bestattungskultur waren auf ein Fortleben gerichtet, und auch wenn der Glaube an eine Auferstehung im Fleische sich verlor, spielten die Knochen bei der Frage nach Sein oder Nichtsein doch eine wichtige Rolle. Man wollte keinen Angehörigen »in fremder Erde« bestattet wissen. Solche Kontinuität hatte freilich einen starken lokalen Index. Krieg und Vertreibung, Mobilität und Migration haben die Rasenbank am Elterngrab verwaisen lassen. Und damit löst sich ein letzter Anker, der viele Menschen noch an Transzendenz und Religion gebunden hatte.

Das Grab als Rettung

Die schottische Anthropologin Sue Black ist eine brillante Wissenschaftlerin und bemerkenswerte Persönlichkeit. Als sie 1999 zum ersten Mal zur Aufklärung von Kriegsverbrechen in den Kosovo reiste, standen sie und ihre Mentorin und Freundin Louise Scheuer kurz vor der Veröffentlichung ihres Werks Developmental Juvenile Osteology (2000). Im März jenes Jahres aber war die Familie eines Kosovo-Albaners auf ihrem Anhänger von serbischen Milizen mit einer Panzerfaust beschossen worden. »Elf Verwandte des Mannes hatten auf dem Anhänger gesessen: seine Frau, deren Schwester und alte Mutter und ihre acht Kinder.« Während seine Familie buchstäblich in Stücke gerissen wurde, habe der Mann auf seinem Traktor überlebt, sei aber von einem Scharfschützen ins Bein geschossen worden.

Trotz seiner Verletzung habe dieser Mann ausgeharrt, bis es dunkel wurde, um dann die Leichenteile möglichst vollständig zusammenzutragen um sie provisorisch zu bestatten: »Er erzählte uns, dass er von seiner Frau nur die rechte Seite gefunden habe und die untere Hälfte seiner zwölfjährigen Tochter.« Was Sue Black und ihren Mitarbeitern, nach der Öffnung des Grabes durch die Ermittler, später in einer Leichenhalle vorgelegen habe, lässt sich kaum in Worte fassen. Black macht es dennoch in realistischer und schockierender Weise. Ihre Arbeit zur Entwicklung jugendlicher Knochen habe ihr dann bei der Identifizierung geholfen, aber auch eine Micky-Maus-Weste, sodass am Ende zwölf Leichensäcke zu übergeben waren: elf mit eindeutig zugeordneten, einer mit nicht identifizierten Körperteilen.

Am Ende habe der verwaiste Vater die Kraft gehabt, sich bei ihnen für diese Arbeit zu bedanken: »Woher nimmt jemand die Geistesgegenwart und die innere Kraft, um zu tun, was er getan hat?«, fragt Black: »Die Entschlossenheit, mit der er das Grasland im schwächer werdenden Licht nach den blutigen Überresten seiner Familie absuchte, während er selbst ständig Blut verlor und immer schwächer wurde, ist unvorstellbar.« Und damit war für ihn längst nicht Schluss: »Er wollte Gerechtigkeit für seine Familie und die Familien anderer Kosovo-Albaner, aber befürchtete auch, dass sein Gott nicht zwischen seinen Familienmitgliedern unterscheiden könne und ihre Seelen nicht finden würde, wenn die Körperteile alle durcheinander lagen.«

»Er würde«, so fährt Black fort, »erst dann Frieden finden, wenn er wusste, dass sie bei Gott in Sicherheit wären. Er wollte unbedingt, dass jeder ein eigenes Grab mit Namen bekam, damit ihre Seelen wiedererkannt und vor der Grausamkeit der Welt gerettet würden.« Mochte sein Gott auch ein schlechter Anthropologe sein, so bot er doch Rettung. Und so liefert dieser tragische Fall ein gewichtiges Zeugnis für die Fähigkeit des Glaubens, Widersprüche zu vereinen, Hoffnung aus der Verzweiflung zu gewinnen, Kraft aus deren Verbindung.

Verlust der Jenseitsperspektive

Laut einer Erhebung der »Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland« (fowid) gab es hierzulande im Jahr 2015 67 % Urnen- gegenüber 33 % Erdbestattungen. Im Lichte dieses Trends verliert sich aber die Vorstellung einer auf physischer Evidenz basierenden göttlichen Heilsgarantie. Was seit Milliarden von Jahren geblieben war, fossile Spuren vergangenen Lebens, hätte eine Kremation nicht überdauert. Was heute bleibt, sind Akten und Spuren darin, posthume Steuerklärungen, einsame Kaffeekannen, zahlreiche Bild- und Tonaufzeichnungen – und vor allem Erinnerungen. Der Familiarisierung folgt die Individualisierung des Todes. Mögen die Menschen, die uns geprägt haben auch verschwinden, so bleiben uns doch diese Prägungen. Die Lebenden tragen ihr Bild der Toten noch ein Stück mit sich und vielleicht auch jenen lateinischen Spruch, der da lautet: »Non fui. Fui. Non sum. Non curo.« – »Ich war nicht. Ich war. Ich bin nicht. Ich sorge mich nicht.« Mit der Sorge endet dann auch die Fürsorge, und der Gedanke an eine Vorsorge wird vollends obsolet. Die familiäre, gesellschaftliche, religiöse Bindung, die der Tod einst mit sich brachte, verliert sich mit dessen Eintreten.

Das kann zum Wellness-Hedonismus führen und zum »Nach-uns-die-Sintflut«-Denken. Das Altern unserer Gesellschaft wird das Verhältnis der Einzelnen zur Gemeinschaft, zu Politik und sozialer Verantwortung auch jenseits aller Rentenfragen auf kaum absehbare und vorher nie gekannte Weise verändern, weil sich mit dem Verlust der Jenseitsperspektive auch die Bindung an die Gegenwart ändert. Einer Entwicklung, die einen eines Tages zurücklassen wird, fühlt man sich nicht recht verbunden. Die übermenschliche Kraft, die jener Kosovare zur Rettung seiner verlorenen Familie aufbrachte, sie wird uns fehlen.

Sue Black: Alles, was bleibt. Mein Leben mit dem Tod. Dumont, Köln 2018, 416 S., 24 €. Barbara Ehrenreich: Wollen wir ewig leben? Die Wellness-Epidemie, die Gewissheit des Todes und unsere Illusion von Kontrolle. Kunstmann, München 2018, 240 S., 22 €. Ute Planert/Dietmar Süß/Meik Woyke (Hg.): Sterben, Töten, Gedenken. Zur Sozialgeschichte des Tode. J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2018, 320 S., 22 €. Joachim Wahl: Knochenarbeit. Anthropologen auf Tätersuche. wbg Theiss, Darmstadt 2018, 264 S., 19,95 €.

 

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