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© picture alliance / ZB | Jens Buettner

Musikjournalismus zwischen Krise und Neuorientierung Töne ohne Diskurs?

Trotz des hierzulande oft betonten sozialen und pädagogischen Nutzens musikalischer Bildung beschäftigen sich viele Menschen gerne mit klassischer Musik, ohne dabei an ihre möglicherweise steigende Intelligenz oder verbesserte Teamfähigkeit in Schule und Beruf zu denken. Musikvereine und Musikschulen erfreuen sich in Deutschland großer Beliebtheit. Vielen macht es Freude, Musik zu hören oder ein Instrument zu erlernen und allein oder mit anderen zu musizieren. Sollte man also nicht eher in den Blick nehmen, was Musik an eigenem Reichtum bereithält, an Erfahrungen, Erkenntnissen und Beglückungen, die es nirgendwo anders zu gewinnen gibt?

»Das Kunstwerk bedeutet einen Zuwachs an Sein. Das unterscheidet es von all den produktiven Leistungen der Menschheit in Handwerk und Technik, in denen die Geräte und Einrichtungen unseres praktisch-wirtschaftlichen Lebens entwickelt wurden«, so betont der Philosoph Hans-Georg Gadamer in seinem Buch Die Aktualität des Schönen den Eigenwert der Kunst und fährt dort fort: »Kant hat als erster die Selbständigkeit des Ästhetischen gegenüber dem praktischen Zweck und dem theoretischen Begriff verteidigt. Er tat dies in der berühmten Wendung von dem ›interesselosen Wohlgefallen‹, das die Freude am Schönen sei«.

Am Ende des 19. Jahrhunderts diagnostizierte Oscar Wilde allerdings die latente Kunstfeindlichkeit einer nur am ökonomischen Nutzen orientierten Gesellschaft, der die »schönen, zweckfreien Stimmungen, die die Kunst in uns weckt« suspekt seien. Diese Diagnose scheint auf unsere Zeit eines globalisierten Hyperkapitalismus nach wie vor zuzutreffen. Seit Jahren geht die Beschäftigung mit der Kunstform Musik in den Schulen zurück. An Grund- und Hauptschulen entfallen laut Deutschem Musikinformationszentrum etwa zwei Drittel des Musikunterrichts, an Gymnasien ist es ein Drittel.

Zudem haben sich die tradierten, oft mit Repräsentation und Distinktion verbundenen Rituale des klassischen Konzertbetriebs in den letzten 100 Jahren kaum verändert. Sie gelten besonders bei Jüngeren als erstarrt, verstaubt und dünkelhaft. Dagegen lassen digitale Plattformen wie YouTube oder Spotify einen medienmusikalischen Hyperraum entstehen, der Töne aus allen Stilen und Epochen individuell abrufbar macht.

Auch angesichts dieser rasanten Entwicklung globaler und digitaler Musikmedien mit ihren Such- und Präsentationsmöglichkeiten stellt sich die Frage nach der Zukunft von Musikkultur, von einem öffentlichen und kritischen Diskurs über Musik sowie von einem Musikjournalismus mit Vermittlungs-, Navigatoren- und Bewertungsfunktion.

Im Ende 2021 erschienenen Debattenband Hat Musikjournalismus noch eine Zukunft? widmen sich Akteur*innen aus unterschiedlichen Bereichen des Musiklebens dieser Frage, was sich auch in der perspektivischen Vielfalt ihrer Beiträge spiegelt. So konstatiert Robert Jungwirth, Musikjournalist und Herausgeber des Online-Magazins KlassikInfo ein stilles, kaum wahrgenommenes Verschwinden von Musikjournalismus. Angesichts einer Entwicklung, in der »Artikel und Beiträge weniger und kürzer« werden, fragt er, »warum diese Art der Kulturvermittlung nicht öffentlich gefördert wird«. Schließlich trage Musikjournalismus »in hohem Maße zu einem lebendigen Kulturleben bei, indem er eine öffentliche Debatte über Kunst und Kultur befördert und somit eine Teilhabe am kulturellen Leben«.

Die Pianistin Yaara Tal sieht zudem die Gefahr, dass das, »was aus dem Diskurs verschwindet«, an »Tiefe, Reichtum, Qualität« verliert. Für sie gibt es nach wie vor eine hohe Relevanz für »qualifizierte Bewertung« und einer von »Kenntnis geleiteten Navigation«. Außerdem warnt die Pianistin vor der Gefahr, dass die Branche »zu einer PR-Musikjournalismus-Maschinerie mutiert«.

In ähnlicher Richtung ist für den Komponisten Manos Tsangaris ein Musikleben »ohne kritische Rezension nicht denkbar«, weil so Öffentlichkeit überhaupt erst entsteht und öffentliches Leben, zu dem auch die Kunst gehört, »verhandelt und in die Zukunft hinein entworfen« werden kann. Für den Musikphilosophen Harry Lehmann ist die Krise des Musikjournalismus weniger eine substanzielle als eine institutionelle. Er verweist darauf, dass die ersten Musikkritiken von »enthusiastischen Komponisten und Schriftstellern wie Robert Schumann und E.T.A. Hoffmann verfasst« wurden, ohne dass es dafür »eine Stelle im Feuilleton oder einen Sendeplatz im Rundfunk« gab.

Lehmann vermutet nicht ohne Optimismus, dass es »in Zukunft auch freie Musikkritiker« geben wird, »die mit einer eigenen Sendung auf einem Onlinekanal ihr neues Publikum finden – so wie die Musikkritik vor zweihundert Jahren ihr bürgerliches Publikum gefunden hat«. Der Entwicklung neuer digitaler und multimedialer Wege für Musikjournalismus und -vermittlung versuchen entsprechende Ausbildungsinstitute an Musikhochschulen wie in München oder Karlsruhe Rechnung zu tragen.

Neue Chancen am digitalen Horizont

Um »Relevantes über Musik und Kultur in die Gesellschaft zu tragen«, liegen für Frizz Lauterbach, den Leiter des Münchner Musikhochschul-Studiengangs »Digitale Kommunikation«, im Onlinebereich vielfältige Potenziale, traditionelle journalistische Formen »um die Möglichkeiten und Erzählformen der Digitalwelt« zu erweitern.

Solche Chancen stehen auch für Jürgen Christ am digitalen Horizont. Für den Leiter des Musikjournalismus-Instituts der Karlsruher Musikhochschule bietet der wachsende Markt der Online-Medien weitere »Möglichkeiten der Diversifizierung und Fokussierung auf enge Zielgruppen und damit einen steigenden »Bedarf an Musikjournalisten, die entsprechende qualitätsvolle Inhalte liefern können«. Eine kompetente, unabhängige und kritische Darstellung sollte für Musikjournalismus in jedem Medium, sei es gedruckt oder audiovisuell, linear oder online, die oberste Maxime sein. Angesichts inhaltlich-praktischer Überschneidungen von Musikvermittlung und -journalismus durch die zunehmende multimediale Selbstpräsentation und -vermarktung von Musikern, Opernhäusern oder Festivals braucht es zudem neue Formen einer auch ethisch reflektierten Ausbildung.

Zukunftsweisende Musikjournalismus-Studiengänge wie die der Musikhochschulen in Karlsruhe und München können hier Maßstäbe setzen und auf der Basis medialer, journalistischer und wissenschaftlicher Kompetenz die Rolle von Musikvermittlung in den Bereichen Journalismus oder Marketing hinterfragen und voneinander unterscheiden. Als vielversprechend für den Musikjournalismus erweisen sich zudem die kommunikativen Online-Möglichkeiten.

Interaktivität war ja schon lange vor Beginn des Multimedia-Zeitalters eine wesentliche Forderung der Radiotheorie Bertolt Brechts gewesen. Er imaginierte das Radio nicht allein als Verbreitungs- sondern auch als Kommunikationsmedium. Aber erst die Digitaltechnik und das Internet machen Interaktivitäten in der Medienlandschaft in zuvor nie gekanntem Ausmaß möglich. Sie erschöpfen sich nicht in den immer stärker verfeinerten und individualisierten Formen des Zugriffs auf Medienangebote wie etwa das kommerzielle Musikstreaming von Spotify und ähnlichen Anbietern, sondern erlauben auch die Entwicklung von Plattformen des Austauschs wie das nicht-kommerzielle Klassikportal des Bayerischen Rundfunks mit seiner Rubrik »Meinung – Farbe bekennen, mitdiskutieren«.

Klassikfreunde können sich zudem in Online-Foren im Dialog mit Redaktionen via Facebook oder Twitter über gemeinsame Themen austauschen. Darüber hinaus kann eine mit den Nutzern vernetzte multimediale Musikredaktion für jeden Inhalt – seien es nun aktuelle journalistische Beiträge aus dem Musikleben oder vertiefende Dossiers etwa zu bestimmten Komponisten ­– die passende analoge oder digitale Medienform finden.

»Um die Werke der ernsten Musik wirklich erfahren zu können, muss man sie verstehen, benötigt man Wissen, benötigt man: Bildung!«, schreibt der Konzertagent Berthold Seliger. Sein 2017 erschienenes Buch Klassikkampf ist ein Plädoyer gegen das bloße Konsumieren von Musik. Dafür aber braucht es heute und in Zukunft auch einen engagierten, in allen Kulturmedien präsenten Musikjournalismus.

Hier wächst besonders den großen Zeitungen und den öffentlich-rechtlichen, an einen Informations-, Bildungs- und Kulturauftrag gebundenen Rundfunkanstalten eine wichtige Rolle zu. Sie übernehmen nicht nur die Funktion unabhängiger Wegweiser im digitalen Angebotsmeer, sondern haben das Potenzial eines glaubwürdigen Vermittlungs- und Meinungsforums gegenüber bloßem Marketing.

Und ein unabhängiger, engagierter, in allen Medien präsenter Musikjournalismus ist durchaus gefragt. So nutzen etwa gut zwei Drittel aller Klassikfans laut einer gemeinsamen Umfrage der Hochschule Luzern und der Universität Sheffield im Jahr 2018 professionelle Musikkritiken. Dabei schätzen sie vor allem solche Besprechungen, die konstruktiv, unparteiisch und nachvollziehbar sind. Ideale Musikkritiker sind Experten, Ratgeber und Unterhalter, die sich ihren Themen differenziert und leidenschaftlich widmen.

Neben Bildung, Wissen und der Vermittlung von Musik geht es hier um einen lebendigen Diskurs über Musik, eine öffentliche und kritische Auseinandersetzung mit Konzerten, Opernpremieren, Uraufführungen oder Veröffentlichungen. In der Wochenzeitung Die Zeit vom 9. September 2021 plädierten Olaf Scholz und der Hamburger Kultursenator Carsten Brosda in einem großen Essay gemeinsam für einen offenen Debattenraum zwischen Politik, Kultur und Zivilgesellschaft, den auch die Künstlerinnen und Kreativen »aus ihrem ästhetischen Eigensinn heraus leidenschaftlich mitgestalten«. In eine solche offene und öffentliche Kulturdebatte gehört auch ein präsenter Musikjournalismus mit seinen kritischen Resonanzen auf das Musikleben.

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