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Sind Mitte-links-Parteien in Europa zu abgehoben? Tonnenschwere Skepsis gegen Alltagsrationalität

Kennen Sie Wile E. Coyote? Es ist eine glücklose Zeichentrickfigur der Film- und Fernsehgesellschaft Warner Bros., die ihr Leben damit verbringt, auf alle erdenklichen Arten dem über die Straßen flitzenden Roadrunner nachzustellen. Am Ende segelt Wile E. regelmäßig auf einer fliegenden Kanonenkugel einem Berg von TNT entgegen – oder endet in einer Staubwolke auf dem Grund eines Canyons. Wile E. Coyote und die deutsche Sozialdemokratie haben derzeit so manches gemeinsam.

Sicher, vom totalen Absturz sind die Sozialdemokraten glücklicherweise noch ein gutes Stück entfernt – doch die generelle Richtung lässt Schlimmes befürchten. Mit der vierten Wahlschlappe bei einer Bundestagswahl in Folge und einer nunmehr dritten als »historisch« bezeichneten Niederlage stellt sich die Frage, wann solche Resultate nicht mehr als Ausnahme, sondern als bedauerliche Normalität verbucht werden müssen. Dies nicht zuletzt, weil sich die deutschen Wahlergebnisse nahtlos in einen europäischen Trend einfügen, in dem – von einigen Ausnahmen abgesehen – sozialdemokratische Parteien derzeit eine desaströse Abmahnung nach der anderen kassieren.

Über die Ursachen ist trefflich zu streiten. Was läuft schief zwischen den Mitte-links-Parteien Europas und den Wahlberechtigten? Stehen die Parteien zu weit rechts? Zu weit links? Zu weit in der Mitte? Sind rechts und links als Kategorien ohnehin überholt oder politische Parteien schlicht obsolet? Sind die Kandidaten zu alt? Zu jung? Zu bärtig oder zu glatt? Zu männlich? Ist die Themensetzung naiv? Oder Wasser auf die Mühlen des Gegners? Ja, nein, vielleicht! So geht das in einer Tour.

Dabei ist anzunehmen, dass einer krisenhaften Entwicklung auf kontinentaler, wenn nicht globaler Ebene eine ebenso umfassende Ursache zugrunde liegt. Der Hauptbefund ist deshalb so schmerzhaft wie banal: Die europäische Sozialdemokratie verliert traditionelle Wähler/innen, ohne in ausreichendem Maße neue Unterstützerschichten zu erschließen. Wie schmerzhaft dies ist, belegt nicht zuletzt die kurzfristige Schulz-Euphorie Anfang des Jahres, als es den deutschen Sozialdemokraten temporär gelang, verlorene Wähler/innen an die Partei zurückzuführen.

Die Ursachen der Krise werden gerne in zu kurz greifenden »Narrativen« ausgemacht oder in fehlendem Mut zu »Visionen und neuen Weltordnungen«. Das mag schon ein Manko sein – immerhin scheinen Jeremy Corbyn und auch Emmanuel Macron mit ihrem Willen zum Enthusiasmus derzeit durchaus ein Bedürfnis zu bedienen.

Vielleicht aber ist all das auch weit weniger kompliziert. Man kann sich politische Parteien in einem simplen Koordinatensystem vorstellen, das aus einer kulturellen und einer ökonomischen Achse besteht. Seit dem Umwerben der »Neuen Mitte« über die »Dritten Wege« hat sich die Position der meisten westlichen Mitte-links-Parteien auf der ökonomischen Achse in Richtung Zentrum verschoben. Zugleich, und in vielen Fällen wohl auch in Reaktion darauf, haben sich die Parteien auf der kulturellen Achse in Richtung des postmaterialistischen Linksliberalismus bewegt.

Diese Koordinatenverschiebung ermöglichte zunächst einige fulminante Wahlerfolge und ergab in der praktischen Politik häufig Sinn. Zugleich aber entspricht sie einer Doppelsalve auf die beiden Säulen, die die linke Mitte über Jahrzehnte in ihrem traditionellen Wählermilieu getragen haben. Im Resultat hat die Sozialdemokratie in kulturellen und ökonomischen Fragen ihre Anschlussfähigkeit an Teile genau der Bevölkerungsschichten eingebüßt, die traditionell ihre loyalste Unterstützerschar ausmachte. Auf den Rückschlag der Verunsicherung, der nicht zuletzt von Furcht vor relativen Statusverlusten in Anbetracht globaler Unwägbarkeit und ökonomischer Polarisierung gespeist wird, reagierte die etablierte Politik dabei allzu oft mit Unverständnis, wenn nicht mit Verachtung.

Welche Achse ist bedeutsamer und welche Entfremdung akuter? Pauschal dürfte sich das kaum beantworten lassen. Doch angesichts der in Teilen praktizierten, in Teilen in Aussicht gestellten Rückabwicklung der Agenda-Reformen erscheint gerade die kulturelle Achse für den deutschen Kontext entscheidend. Weshalb, das belegt nicht zuletzt die jüngst wieder aufgekochte Debatte um eine »deutsche Leitkultur«.

In sich progressiv wähnenden Kreisen dürfte derzeit kaum ein Beitrag zum Thema ohne vorausgestellte Distanzierung auskommen. In dieser wird zunächst die Debatte selbst als unsinnig abqualifiziert und alsdann unterstrichen, um was für einen »schwierigen Begriff«, ja um was für eine verwerfliche Idee es sich beim Konzept Leitkultur handele. Norbert Lammert, Heribert Prantl, Robert Habeck, Herfried Münkler, die Jungen Liberalen, Jürgen Habermas – die Liste ließe sich fortsetzen und sie alle kommen zum gleichen Befund: »Leitkultur? Geht ja gar nicht!« Undefinierbar, spaltend, schädlich, wenn nicht gar verfassungsfeindlich.

Sicher, teils ist das Dialektik. In dem Maße, in dem der Begriff »Leitkultur« von der Rechten zum Gegenentwurf des Multikulturalismus aufgebauscht wurde – angefangen von Friedrich Merz bis zum Parteiprogramm der AfD – distanzierten sich progressive Kräfte. Zugleich ist ebenfalls klar, dass die Skepsis nicht aus der Luft gegriffen ist: Die Kritiker mögen ja mit ihrem Zweifel an einer einheitlichen deutschen Kultur weitgehend recht haben. Und kaum jemand wird Thomas Oppermann widersprechen, wenn dieser eine Leitkultur zurückweist, weil der Staat der Bevölkerung in Bezug auf »religiösen Glauben, politische Meinung oder sexuelle Präferenz nichts vorzuschreiben« habe. Recht so!

Aber ist das wirklich die Frage, um die es den Menschen geht? Oder werden hier unter ein und demselben Begriff Äpfel und Birnen zusammengepackt: ein politisch-normativer Elitendiskurs und ein alltagsbezogen-rationaler Anspruch der Bürgerinnen und Bürger, der per e alles andere als chauvinistisch ist?

Denn so groß das Unbehagen manch eines Progressiven mit »Etabliertenvorrechten« und Assimilationsforderungen an Einwanderer, so klar erscheint doch die Mehrheitsmeinung der Öffentlichkeit. Diese nämlich begreifen »Leitkultur« in ihrer Lebensrealität als weitgehend unproblematisch, wenn nicht als selbstverständlich. Laut einer aktuellen Umfrage von YouGov äußern gerade einmal 25 % der Bundesbürger/innen grundsätzliche Vorbehalte gegen eine »Leitkultur«. Eine Insa-Untersuchung aus dem Jahr 2014 kommt zu noch deutlicheren Zahlen: Ihr zufolge erwarten 90 % der Befragten von nach Deutschland kommenden Ausländern eine Anpassung an die »hier übliche Leitkultur«. (Die Quote sinkt übrigens gerademal um 1 %, wenn ausschließlich die SPD-Wählerschaft in den Blick genommen wird.) Zu ganz ähnlichen Ergebnissen gelangen Meinungsinstitute, wenn Deutsche mit Migrationshintergrund in den Blick genommen werden: Auch hier erwartet eine Mehrheit von 83 % – so eine Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung aus dem vergangenen Jahr – eine »Anpassung an deutsche Kultur«.

Träumen diese »Fans der Leitkultur« nun wirklich von einem Weihnachtsbaumdekret oder davon, Einwanderern ihre »religiöse, politische oder sexuelle Präferenz vorzuschreiben«, wie Thomas Oppermann befürchtet? Oder geht es den 90 % tatsächlich um etwas anderes? Zum Beispiel darum, die Herausforderung der Migration auch durch ein Maß an gesellschaftlicher Anpassung der Neueinwanderer zu gestalten, die eben nicht von den Grundrechteartikeln des Grundgesetzes abgedeckt wird? Denn so verdienstvoll die deutsche Verfassung ist: Als Richtschnur für die Bewältigung von migrationsbezogenen Alltagsproblemen dürften sich ihre Artikel in etwa so gut eignen wie ein Globus als Navigationshilfe im Straßenverkehr. Durch diese Brille betrachtet, erscheint die tonnenschwere Skepsis, mit der gerade die linke Mitte dem Konzept »Leitkultur« begegnet, durchaus als Indikator für ein gerüttelt Maß an gesellschaftspolitischer Abgehobenheit.

Denn klar ist doch auch, dass die Leitkulturdiskussion eben nicht im luftleeren Raum stattfindet, sondern einen Baustein in der grundsätzlichen Positionierung der linken Mitte zu dem Überthema Migration-Nation-Heimat bildet. In diesem aber verabschieden sich gerade Europas progressive Parteien überall dort von gesellschaftlichen Mehrheiten, wo sie sich als Triebkräfte einer nur noch kosmopolitischen Migrationsbejahung positionieren. Oder gleich den Nationalstaat als schleunigst zu überwindenden reaktionären Atavismus abqualifizieren.

Im akademisch linksliberalen Milieu der schrumpfenden europäischen Sozialdemokratie kommt heute kaum ein Diskussionsbeitrag ohne den Hinweis auf die Unausweichlichkeit weltweiter Migrationsbewegungen aus, die als quasi natürliche Phänomene politisch hinzunehmen seien. In Kombination mit den Ereignissen des Sommers 2015 und dem zeitweiligen Kontrollverlust der Bundesregierung über die Staatsgrenzen erscheinen diese Positionen dabei allzu oft nicht als Diskussionsbeiträge, sondern eher als Beiträge zum Beenden einer Diskussion.

Besonders erstaunlich erscheint hierbei, dass sich Teile der linken Mitte, die ansonsten die Steuerungsmöglichkeiten von Politik eher über- als unterschätzen, ausgerechnet beim Thema Migration einer »There Is No Alternative«-Perspektive verschreiben. Globale Finanz- und Handelsströme, Klimawandel, Geschlechterrollen, Digitalisierung, politische Diskurse, ja die Sprache selbst: In jedem Feld traut sich die Linke eine Gestaltung nicht nur zu, sondern fordert sie auch ein und zwar zu Recht. Mit einer Ausnahme: Beim Thema Migration herrscht politischer Defätismus. Hier lautet der Konsens: An dem »ob« ist keinesfalls zu rütteln, lediglich das »wie« ist politisch in Nuancen bearbeitbar. Wieso eigentlich trauen sich die ansonsten so mutigen Protagonisten des »Yes, we can!« hier nicht mehr zu – zumal die Wählerinnen und Wähler genau das von ihnen erwarten?

Denn gerade die linke Mitte wäre doch gut aufgestellt, eine Synthese aus internationalistischer Verantwortung und sozialstaatlichen Erfordernissen zustande zu bringen und das Feld eben nicht den Radikalen zu überlassen. Sicher kann es dabei nicht darum gehen, die Rechtspopulisten rechtsaußen zu überholen und gesellschaftlichen Fortschritt rückabzuwickeln, um radikalisierte Ex-Wähler/innen um den Preis der Selbstaufgabe zurückzugewinnen. Doch zwischen den Extrempositionen befindet sich ein Raum, der politisch sehr wohl besetzbar ist und der einen Beitrag dazu leisten kann, den Graben zwischen sozialdemokratischen Parteien und ihren ehemaligen Wählerinnen und Wählern zumindest teilweise zu schließen. Genau darum aber sollte es in den kommenden Monaten gehen, wenn die Sozialdemokratie dem Beispiel des Warner Bros.-Coyoten nicht in letzter Konsequenz folgen will.

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