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Die immer wiederkehrende Renaissance der Theorien von John Maynard Keynes Totgesagte leben länger

»Auf lange Sicht sind wir alle tot«, dies ist das wohl bekannteste Diktum von John Maynard Keynes, der vor 75 Jahren, am 21. April 1946 starb. Er wollte damit die Argumente jener konservativen Ökonomen entkräften, die vor dem »Strohfeuer« staatlicher Konjunkturpolitik warnten, deren kurzfristige Erfolge aus ihrer Sicht mit langfristigen Kosten erkauft würden. Der Mensch Keynes ist zwar schon lange tot, aber seine ökonomischen Theorien lebten weiter, in den jüngsten Krisen erleben sie gar eine erneute Vitalisierung.

Dabei hatte ihr Urheber zu Lebzeiten auch schon viele wirtschaftspolitische Niederlagen einstecken müssen. Nach dem Studium und einigen beruflichen Umwegen wurde Keynes 1914 Berater des britischen Schatzamtes, für das er an den Friedensverhandlungen von Versailles teilnahm. Mit seinen Vorstellungen für ökonomisch kluge (sprich: maßvolle) Vertragsbedingungen für Deutschland konnte er sich nicht durchsetzen und trat 1919 aus Protest zurück. 1920 veröffentlichte er eine Kritik des Vertrages (The Economic Consequences of the Peace), in dem er auf die perversen Effekte der riesigen Reparationsverpflichtungen hinwies. Sie waren nur zu erfüllen, wenn Deutschland große Exportüberschüsse gegenüber den Gläubigerländern erzielte, die deren eigene Wirtschaft unter Druck setzen mussten. Gleichzeitig untergruben sie die Stabilität der Schuldner (in Deutschland verhalf der Unmut Hitler zur Macht). Diese an sich einfache Logik haben internationale Gläubiger bis heute selten verstanden, von den Schuldenkrisen der 80er Jahre in Lateinamerika und der 90er in Asien und Russland bis zur Eurokrise 2010.

Eine weitere Niederlage musste Keynes ein paar Jahre vor seinem Tod einstecken. 1943 entwickelte er einen Plan zur Neuordnung der Weltwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, der eine globale Kunstwährung, den Bancor, vorsah. Damit sollten hohe Zahlungsbilanzungleichgewichte, insbesondere auch Überschüsse von exportstarken Ländern, erschwert und sanktioniert werden können. In der Bretton-Woods-Konferenz, auf der die Nachkriegsordnung 1944 vereinbart wurde, setzten sich aber die USA mit einem Dollar-Goldstandard durch. Immerhin blieben einige der Ideen von Keynes erhalten, die u. a. nationale konjunkturpolitische Spielräume (z. B. durch das Verbot von grenzüberschreitenden Kapitalströmen) garantieren sollten. So erlaubte das System zwei Jahrzehnte gutes Wachstum, bis die Ungleichgewichte ab den 60er Jahren so stark zunahmen, dass die USA unter Richard Nixon die Vereinbarung aufkündigten. Wieder zeigte sich, dass eine ausgewogene (nicht US-hegemoniale), an Keynes orientierte Ordnung wohl nachhaltiger gewesen wäre.

Zwischen diesen beiden schmerzlichen »Niederlagen«, jeweils am Ende eines Weltkriegs, lag die größte Wirtschaftskrise des 20. Jahrhunderts. Keynes’ Rat in der Großen Depression stieß dabei auch nicht immer auf offene Ohren. So plädierte er 1923 für einen Ausstieg aus dem Goldstandard, dem er die Verantwortung für die Deflation gab. Tatsächlich gaben ihn aber erst in den 30er Jahren langsam immer mehr Länder auf, zu spät und begleitet von einem ähnlich schädlichen Abwertungswettlauf. Sein Aufruf, die Konjunktur mit schuldenfinanzierten Staatsausgaben wieder anzukurbeln, wurde, wenn überhaupt, erst spät und dann in Form von Rüstungsausgaben umgesetzt. In den USA folgte Franklin D. Roosevelt, dem er diese Politik 1933 in einem offenen Brief empfahl, dem Ratschlag nur halbherzig. Die volle Erholung der US-Wirtschaft erfolgte erst mit den gewaltigen Kriegsausgaben ab 1941. Deutschland sparte sich dagegen unter Reichskanzler Heinrich Brüning immer tiefer in die Krise, bis die Nationalsozialisten mit ihrer Rüstungspolitik und anderen Ausgabenprogrammen zu einer de facto keynesianischen Wirtschaftspolitik übergingen.

Unter dem Eindruck der großen Krise und Massenarbeitslosigkeit verfasste Keynes sein 1936 erschienenes Hauptwerk General Theory of Employment, Interest and Money (Die allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes). Es gilt als die wichtigste Abkehr von der klassischen Ökonomie, wenn man von Karl Marx absieht. Anders als dieser hielt Keynes am Kapitalismus fest, bezweifelte aber, dass die Marktwirtschaft ihre Krisenprobleme ohne Eingriffe des Staates lösen könnte. Gleichgewichte, zumindest keine sozial akzeptablen, würden sich nicht einfach durch das freie Spiel der Marktkräfte mit Anpassung der Preise, Zinssätze und Löhne ergeben. Insbesondere käme keine Vollbeschäftigung zustande. Stattdessen müsse der Staat in der Rezession die Nachfrage durch schuldenfinanzierte Ausgaben und weiche Geldpolitik wieder in Schwung bringen.

In der akademischen wirtschaftswissenschaftlichen Debatte blieben Keynes’ Theorien umstritten. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten gewannen sie stark an Bedeutung, vor allem in ihrer von John Richard Hicks und Paul A. Samuelson vereinfachten und formalisierten Version. Der so entstandene Keynesianismus (oder eher: die neoklassisch-keynesianische Synthese) dominierte Jahrzehnte das wirtschaftspolitische Denken und Handeln, vor allem im angelsächsischen Raum.

Im Nachkriegsdeutschland blieb der Einfluss des Keynesianismus zunächst schwach (letztlich auch langfristig im Vergleich zu anderen Ländern). Hier herrschte der Ordoliberalismus, prominent vertreten vom langjährigen Wirtschaftsminister und kurzzeitigen Kanzler Ludwig Erhardt. Die ersten Rückschläge im Wirtschaftswunder eröffneten aber der Sozialdemokratie den Weg an die Macht, zunächst in einer Großen Koalition, in der die SPD u. a. mit Karl Schiller, einem erklärten Keynesianer, als Wirtschaftsminister vertreten war. Das unter seiner Ägide 1967 verabschiedete »Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft« war klar keynesianisch inspiriert und verpflichtete den Staat zu einer aktiven Konjunkturpolitik.

Im Kalten Krieg und dem Systemwettbewerb zwischen Kapitalismus und Realsozialismus bot der Keynesianismus ein Konzept des gezähmten Kapitalismus an. Auch wenn viele der Zutaten des Wachstumsmodells nicht direkt auf Keynes zurückzuführen waren (z. B. die fordistische Massenproduktion, der Ausbau des Wohlfahrtsstaates, die Sozialpartnerschaft) so lieferte es doch 30 Jahre mit hohem Wachstum, niedriger Arbeitslosigkeit und relativ geringer Ungleichheit (»Les Trente Glorieuses«). Ohne den von Keynes inspirierten Rahmen eines regulierten Weltwährungssystems und nationaler Globalsteuerung wäre dies nicht gelungen.

Ab den 70er Jahren schien der Erfolg den keynesianisch gezähmten Kapitalismus zu verlassen. Das Ende von Bretton Woods, Ölkrisen, Rezessionen und steigende Inflation waren anscheinend mit staatlicher Nachfragepolitik nicht zu bekämpfen. Sie führte öfter zu Inflation und Leistungsbilanzdefiziten als zu höherer einheimischer Produktion und Beschäftigung. Starke Interessengruppen wollten ohnehin die dank niedriger Arbeitslosigkeit lange Zeit gestiegene Lohnquote wieder zurückdrehen und die Steuerbelastung der Reichen senken. Wachstum sollte nun nicht mehr durch Nachfragesteuerung, sondern durch eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik erzeugt werden, die auf Steuersenkungen, Sozialabbau, Deregulierung und Privatisierung setzte. Ronald Reagan in den USA und Margaret Thatcher in Großbritannien, ihrem Berater Milton Friedman, dem monetaristischen Antipoden von Keynes folgend, verfolgten offensiv diesen Kurs. Ein letzter Versuch, eine sozialistische Alternative durchzusetzen, scheiterte 1984 in Frankreich, als sich François Mitterand zu einem Kurswechsel gezwungen sah.

Obwohl das Wachstum zwischen 1980 und 2000 deutlich schwächer ausfiel und sich Krisen (vor allem Finanz- und Währungskrisen) häufiger einstellten als in den 30 Jahren nach 1945, beherrschte die marktliberale Ideologie das Denken und Handeln der Wirtschaftspolitik. Der Zusammenbruch der realsozialistischen Systeme 1989–91 schien die Überlegenheit der »freien« Marktwirtschaft triumphal zu bestätigen. In der Tat konnte die Inflation halbwegs unter Kontrolle gebracht werden, aber die Arbeitslosigkeit blieb hoch und die Ungleichheit nahm unerbittlich zu. Ansonsten zeigte das neoliberale Programm nur beschränkte Wirkungen: Weder die Sozial- noch die allgemeinen Staatsausgaben gingen langfristig stark zurück.

Das 21. Jahrhundert belehrte die Welt eines Besseren. Zwei gewaltige Krisen erschütterten die globale Wirtschaft: 2008 ausgelöst durch die unterregulierten Finanzmärkte, 2020 durch die Corona-Pandemie. In beiden Fällen wiederholte die Wirtschaftspolitik nicht die Fehler der 1930er Jahre, die zur Großen Depression geführt hatten, sondern reagierte mit expansiver Geld- und Fiskalpolitik, wie Keynes sie wohl empfohlen hätte. Die Renaissance seiner Politikempfehlungen blieb aber nicht unumstritten. Vor allem in der Fiskalpolitik kehrte der Sparzwang 2010 schnell zurück, vor allem in der Eurozone, deren Politik und institutionelle Strukturen ordoliberal geprägt sind. Entsprechend schwach war dort die wirtschaftliche Erholung im Vergleich zu den USA. Die Last der Nachfragestabilisierung fiel einseitig an die Geldpolitik, die gegen hartnäckige Deflationstendenzen zu kämpfen hatte.

In der Pandemie sieht es derzeit erst mal besser aus, obwohl sie im Kern keine »keynesianische Krise« ist, die durch mangelnde Nachfragekaufkraft ausgelöst wird, sondern durch gleichzeitige Einschränkungen bei Angebot und Nachfrage in bestimmten Sektoren wie Tourismus, Einzelhandel, Kultur etc. In allen Ländern versuchte der Staat die Einkommensausfälle zu ersetzen, wozu er sich in historisch beispielloser Weise stark verschuldete, was ihm eine extrem lockere Geldpolitik erleichterte. Die Konjunkturprogramme werden in vielen Ländern auch 2021 fortgesetzt, wenn auch etwas schwächer.

Es bleibt abzuwarten, ob Keynes seine Renaissance überlebt oder ob sich die Politik wieder an anderen Theorien und Interessen orientieren wird. Keynes selbst schrieb 1936 in seinem Hauptwerk: »Praktische Männer, die sich von intellektuellen Einflüssen verschont halten, sind üblicherweise die Sklaven eines toten Ökonomen.« Der heutigen Politik kann man nur zu oft bescheinigen, dass sie nicht intellektuell beeinflusst ist (z. B. Donald Trump trotz seiner richtigen Konjunkturpolitik in der Krise). Man kann nur hoffen, dass sie de facto der Sklave des richtigen toten Ökonomen ist, nämlich von Keynes.

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