Zwischen Tradition und Moderne: Einst wurde sie von Gewerkschaftern gegründet, um Arbeitern Zugang zu Bildung zu schaffen. In Zeiten von BookTok wird die letzte literarische Buchgemeinschaft Deutschlands 100 – und schlägt sich wacker als Lordsiegelbewahrerin des Guten und Schönen.
Als im Oktober 2022 in der Buchhandlung Ludwig im Leipziger Hauptbahnhof die Sektkelche klingen, fällt das der gewöhnlich eiligen Kundschaft kaum auf. Für Alexander Elspas, geschäftsführender Vorstand der Büchergilde Gutenberg, ist es ein besonderer Tag. Mit der Buchhandlung, die im historischen preußischen Wartesaal immerhin rund 1.000 Quadratmeter belegt, hat die Büchergilde kurz vor ihrem 100. Geburtstag wieder einen stationären Anlaufpunkt in der Stadt ihrer Gründung. Nun ist Ludwig eine von 120 Partnerbuchhandlungen der Büchergilde in Deutschland; in Leipzig gehört sie – nicht allein durch die großzügigen Öffnungszeiten – zu den frequenzstärksten. Das Ende der Gutenberg-Galaxis, von Marshall McLuhan bereits 1962 prophezeit, findet hier vorerst nicht statt.
»Und nun noch ein Glückauf zur ersten Fahrt, junge Büchergilde! Vorwärts – mit heiteren Augen!« – so schließt im Jahr 1924 Ernst Preczang, erster Cheflektor der Büchergilde Gutenberg, das Vorwort der allerersten Büchergilde-Publikation – die Geschichtensammlung Mit heiteren Augen von Mark Twain. 100 Jahre später sollen Preczangs Worte die Büchergilde Gutenberg mit gehörig Schwung in ihr Jubiläumsjahr katapultieren – angesichts Leserschwundstudien und der angespannten Lage am Buchmarkt klingen sie eher nach Pfeifen im dunklen Wald: Die Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt (wbg), eine der größten Buchgemeinschaften im deutschsprachigen Raum, ist nach der Insolvenz des Verlags im Herbst 2023 nur noch ein Imprint des Freiburger Verlags Herder. Auch die Kerngesellschaft der Weltbild-Gruppe hat eben Insolvenz angemeldet, ein Schicksal, das den einstigen Buchklubfilialisten Weltbild schon 2014 ereilte.
Vorsichtig optimistisch
Alexander Elspas hat solche Bewegungen im Blick, gibt sich aber optimistisch: »Seit rund vier Jahren ist die Anzahl unserer Mitglieder stabil. Wir verlieren, jährlich saldiert, um die 3.000, die sich jedoch nicht in digitale Welten verabschieden, sondern schlicht das Zeitliche segnen.« Der Büchergilde gelinge es jedoch, so der Verleger, in gleicher Zahl neue, jüngere Mitglieder zu werben – auch wenn die Altersstruktur der Büchergilde »deutlich 50+« sei. Während vor Jahren noch diskutiert wurde, ob die Bezeichnung »Gilde« einer jungen Generation noch vermittelbar sei, strahlt das Wording für Elspas inzwischen einen gewissen Retro-Charme aus. Derweil rührt man die Werbetrommel auf Instagram und TikTokund freut sich über »Schockverliebte« ins gute, alte Leitmedium.
Als im Sommer 1924 der Bildungsverband der Deutschen Buchdrucker im Leipziger Volkshaus tagt, steht für den 29. August als Punkt sieben der Tagesordnung die Gründung einer gewerkschaftlichen Buchgemeinschaft, der Büchergilde Gutenberg. Eingebracht hat das Projekt Bruno Dreßler, 1879 als Sohn eines Handwebers im sächsischen Ebersbach geboren, seit 1908 in Leipzig und inzwischen Erster Vorsitzender des Bildungsverbands. Der Aufbau einer »Gildenpresse« sollte sein Lebenswerk werden. Obwohl sich die wirtschaftliche Lage in Deutschland nach politischen Wirren und Hyperinflation etwas zu bessern scheint, gilt das Buch in den Kreisen von Arbeitern und kleinen Angestellten noch immer als Luxusartikel.
»Inhaltlich gute Bücher in nicht alltäglicher Ausstattung.«
Die Büchergilde versteht sich als Gegenstück zu bürgerlichen Buchgemeinschaften wie dem 1919 gegründeten Volksverband der Bücherfreunde (VdB) oder der ebenfalls 1924 gestarteten Deutsche Buch-Gemeinschaft (DBG). Ihr Zweck ist es, den Mitgliedern »inhaltlich gute Bücher in technisch vollendeter Ausführung und nicht alltäglicher Ausstattung zugänglich zu machen«. Mit einem monatlichen Beitrag von 0,75 Goldmark erwerben die Mitglieder den Anspruch auf jeweils ein Buch pro Quartal.
Schon Ende 1925 zählt die Büchergilde 18.000 Mitglieder; bis 1933 entwickelt sie sich mit 85.000 Mitgliedern zur drittgrößten Buchgemeinschaft der Weimarer Republik. 1926 bezieht die gewerkschaftliche Buchgemeinschaft neue Räume im Buchdrucker-Verbandshaus in Berlin-Kreuzberg. Zu den Autoren der frühen Büchergilde-Jahre gehören B. Traven, Oskar Maria Graf und Arnold Zweig, es werden Übersetzungen von Martin Andersen-Nexö, Charles de Coster, Upton Sinclair oder Sinclair Lewis produziert, Klassiker wie Dostojewski oder Goethe runden das Programm ab.
Exil in der Schweiz
Am 2. Mai 1933 besetzt die SA das Verlagshaus der Deutschen Buchdrucker in Berlin. Die Deutsche Arbeitsfront übernimmt das Ruder bei der Büchergilde, die zwar unter altem Namen, jedoch im Geist der neuen Machthaber bis zum Kriegsende weitergeführt wurde. Bruno Dreßler, der zwischenzeitlich von den Nazis verhaftet worden war, übernimmt nach seiner geglückten Ausreise in die Schweiz die Geschäftsführung der Zürcher »Genossenschaft Büchergilde Gutenberg«, die sich nach der nationalsozialistischen Machtübernahme von der Berliner Zentrale abgespalten hatte. Bis zum Kriegsende bringt es die Schweizer Buchgemeinschaft auf 100.000 Mitglieder – 1945 ist jeder 30. Eidgenosse Mitglied! Das Exil in der Schweiz ist zentral für das Überleben der Büchergilde während der NS-Zeit – und ihre Entwicklung nach 1945.
Nach Kriegsende treibt Bruno Dreßlers Sohn Helmut (1910–1974) den Neuaufbau der Büchergilde im Westen Deutschlands voran: Nach unzähligen Behördengängen wird die Büchergilde Gutenberg mit Sitz in Frankfurt am Main als Tochtergesellschaft des DGB gegründet. Anfängliches Misstrauen der Besatzungsmächte und Materialmangel gestalten den Anfang schwierig. Doch die gebeutelten Deutschen wissen es zu schätzen, Werke von Nikolaj Gogol, Jack London, Max Frisch, Erich Kästner, Ricarda Huch oder Ernest Hemingway zu günstigen Preisen zu beziehen: Wurden innerhalb der ersten zwölf Monate 36.000 neue Mitglieder aufgenommen, erreichte die Gemeinschaft 1962 mit 300.000 Mitgliedern ihren Allzeit-Höchststand.
Seit Mitte der 50er Jahre betätigt sich die Büchergilde zunehmend wieder als Verlag und bringt Originalausgaben heraus: 1958 erscheinen etwa Golo Manns Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, sowie, ungleich erfolgreicher, das Kochbuch der Büchergilde der promovierten Sprach- und Theaterwissenschaftlerin Grete Willinsky. Zum 40. Geburtstag der Büchergilde reimt Festredner Erich Kästner in der Frankfurter Paulskirche: »Die Gilde und der Gratulant / sind miteinander gut bekannt. / Seit wann? O je. Das Eine weiß ich: / Es war vor 1930... / Entlang an Gräben, / bergab, bergauf, Verlust, Gewinn, / es war nicht immer leicht, na eben. / Der kurzen Rede kurzer Sinn: / Mit vierzig, heißt’s beginnt das Leben? / Dann gratulier‹ ich – zum Beginn.«
Abonniert auf Auszeichnungen um die »Schönsten deutschen Bücher«.
»Über die Existenz von Buchgemeinschaften räsoniert heute niemand mehr«, schrieb die FAZ 1974 zum 50. Geburtstag der Büchergilde. Wirklich? Mit dem Tod von Helmut Dreßler steuert die Büchergilde in unruhigeres Fahrwasser – und scheint doch weiter auf Auszeichnungen beim Wettbewerb um die »Schönsten deutschen Bücher«, der IBA in Leipzig oder des Art Directors Club in New York abonniert. Mit den Jahren entstehen neue Programmlinien, so die »Bibliothek Exilliteratur« oder die »Gutenberg-Presse«, ein Gemeinschaftsprojekt der Büchergilde, des Leipziger Verlags Reclam und der Offizin Haag-Drugulin, auf das die SED-Funktionäre scheel blicken.
Flagschiff gewerkschaftlicher Kulturpolitik
Doch der Buchmarkt ist in Bewegung. Die Büchergilde, das Flaggschiff der gewerkschaftlichen Kulturpolitik, schwächelt in dem Maß, wie sich die Gewerkschaften auf Tarifpolitik und Arbeitskämpfe konzentrieren. Skandale wie der um die »Neue Heimat« färben auch auf die gewerkschaftseigene Buchgemeinschaft ab, die von Mitte der 80er Jahre mit Millionenbeträgen gestützt werden muss. Die Stimmung mau, das Image ramponiert. 1998 wird die Büchergilde im Rahmen eines Management-Buy-out aus der Gewerkschaftsholding BGAG herausgelöst. Erstmals ist die Büchergilde wieder unabhängig, ein Schritt back to the roots. Doch es wird nicht die letzte Häutung bleiben.
2014 fällt der Beschluss, die Büchergilde in eine Genossenschaft umzuwandeln. 2015 mit 880 Genossen gestartet, zählt die Verlagsgenossenschaft heute knapp 1.900 Mitglieder, die jeweils mindestens 500 Euro Kapital investieren. »Für uns war dieser Schritt auch ein Garant für den Fortbestand, die Existenz der Buchgemeinschaft«, sagt Alexander Elspas, der 2017 erstmals zum Vorstandsvorsitzenden der Büchergilde Gutenberg berufen wurde. »Wir bekommen das Geld von Freunden und Unterstützern.« Das Spektrum ist breit und reicht von Politikern und Gewerkschaftern über Autoren, Künstler und Buchhändler bis zu ganz »normalen« Leserinnen und Lesern. Obwohl die Büchergilde den Kriterien des Deutschen Verlagspreises nicht entspricht und auch sonst von keiner Institution gefördert wird, kann Elspas ziemlich gut mit dem »exotischen Konstrukt« leben: »Noch vor zehn, fünfzehn Jahren mag eine Genossenschaft ein wenig angestaubt gewirkt haben – für viele Junge ist sie heute eine sehr moderne, quasi urdemokratische Unternehmensform.«
In seiner ersten Amtszeit konzentrierte sich Elspas vor allem auf die Stärkung des exklusiven Charakters der Büchergilde: 2018 wird die verlegerische Tätigkeit der »Edition Büchergilde«, die auf dem gesamten Markt, also auch bei Nicht-Mitgliedern, reüssieren sollte, eingestellt. Heute ist es der Ehrgeiz des Verlegers und seines rund 30-köpfigen Teams, Lizenztitel, wenn möglich, noch schöner und wertiger zu produzieren als die Originalausgaben – und auch selbst mit Originalen auf den Markt zu kommen, die die Herzen von Buch-Afficionados höher schlagen lassen. Handschmeichler wie das große, leinengebundene Balladenbuch mit Holzschnitten von Franziska Neubert, das den Kanon bis zum Indie-Pop von AnnenMayKantereit entgrenzt, oder Remarques Die Nacht von Lissabon, hierzulande seit 1962 nur im Paperback präsent, als bedruckte und geprägte Steifbroschur mit farbigem Vorsatzpapier.
»Bei uns ist der Umschlag schon immer etwas Besonderes gewesen.«
Das Buch als Ganzes denken liegt offenbar im Trend. Auch bei der Büchergilde, wo die Umschlaggestaltung von der Herstellungsabteilung gesteuert wird. Herstellungsleiterin Cosima Schneider hat 14 Jahre bei Eichborn gearbeitet und dort ab 2008 die von Franz Greno geprägten Bände der Anderen Bibliothek betreut. Bei der traditionsreichen Buchgemeinschaft hat sie einen Traumjob gefunden. Anders als in großen Publikumsverlagen ist sie hier bereits in die Auswahl der Titel eingebunden und kümmert sich – vom Kontakt mit den Illustratoren bis zur Druckfreigabe – um das Werden eines jeden Buches. »Bei uns ist der Umschlag schon immer etwas Besonderes gewesen, das hat eine lange Tradition. Es wird viel mit besonderen Ausstattungen gearbeitet, ein großer Pool an Gestaltern und Illustratoren steht in engem Kontakt mit mir.« Mindestens drei Entwurfsvarianten liefern die Gestalter, nicht selten sind es mehr. »Im besten Fall ist ein Cover ein großartiger Kompromiss«, weiß die Münchner Buchgestalterin Marion Blomeyer, die regelmäßig für die Büchergilde arbeitet.
»Marion denkt das Material mit, die Veredelungsformen, sie plant bis in den Vorsatz. Das lässt so ein Buch dann wie aus einem Guss erscheinen«, sagt Cosima Schneider. Die Büchergilde-Ausgabe von Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands ist so ein Fall: Ein imposanter Klassiker – hier mit blauem Schnitt und dünnen, fast durchsichtigen Bibelpapier-Seiten, die beim Umblättern knistern. Oder Das hier ist Wasser von David Foster Wallace, Blomeyers Blaue Mauritius: Heißfolienprägung auf grobes Leinen, die blaue Farbe hielt nicht, wie geplant – am Ende war jedes Buch ein Unikat. Kein Problem, sagt Marion Blomeyer, wenn man »miteinander einen Weg geht«. Also Dinge bespricht, Ideen zulässt, kurz: eng zusammenarbeitet. »Es passiert nicht so häufig, dass man einen Fehler umarmen kann.«
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