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Bücher zu Führertreue und Appeasement Toxisches Erbe

Aus der Geschichte lernen, heißt oft, aus Fehlern lernen zu wollen. So weist der britische Historiker Tim Bouverie in der Vorbemerkung zu seinem Buch Mit Hitler reden, darauf hin, dass gerade das Scheitern des von ihm umfassend analysierten britischen Appeasement nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer wieder heranzogen worden sei, um Interventionen im Ausland zu legitimieren. Als er im Frühjahr 2016 mit seinen Forschungen dazu begonnen habe, hätten »konservative Kreise in den USA in einer Kampagne gerade das Schreckgespenst von Neville Chamberlain gegen Präsident Obamas Atomabkommen mit dem Iran in Stellung gebracht«. Zugleich verweist Bouverie darauf, dass jenes »Schreckgespenst« wiederum eine verständliche Reaktion auf das Grauen des Ersten Weltkriegs war, weil danach schlichtweg alles, was man Hitler zutraute, besser erschien als ein Zweiter Weltkrieg: »Der Wunsch einen Krieg zu vermeiden, auch wenn man dafür einen Modus Vivendi mit den diktatorisch regierten Staaten Deutschland und Italien finden musste, wurde weit über die Grenzen der Regierung hinaus geteilt.«

Hitlers verheerende Erfolge beruhten zum einen darauf, dass man »den untersetzten kleinen Österreicher mit schlaffem Händedruck, verschlagenen braunen Augen und Charlie-Chaplin-Schnurrbart« (Daily Herald) vor allem im Ausland lange nicht ernst genug nahm, zum anderen darauf, dass man nicht ahnte, welch ein Potenzial an Hass und Fanatismus ihm in seiner Anhängerschaft zur Verfügung stand. Bouverie zitiert den Britischen Botschafter in Berlin, Horace Rumbold, der seinem Außenminister am 30. Juni 1933 mitteilte: »Ich habe den Eindruck, dass die Personen, die die Politik der Regierung Hitler bestimmen, nicht normal sind. Die meisten von uns haben inzwischen den Eindruck, dass wir uns in einem Land aufhalten, in dem Fanatiker, Hooligans und Exzentriker die Oberhand gewonnen hatten.« Noch nicht absehbar war damals, dass diese »nicht normalen« Personen bald »ganz normale Männer« zu unvorstellbaren Verbrechen anleiten würden, wie Christopher R. Browning es schon 1992 in seiner genauso betitelten wegweisenden Studie über »Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die ›Endlösung‹ in Polen« (Rowohlt) beschrieben hat.

Ein Kind der Kriegsniederlage

»Nicht normal« und doch durchaus üblich war in Deutschland allein schon die Tatsache, dass ein aufgrund seines Putschversuches verurteilter Hochverräter es zum unumstrittenen Führer einer Partei gebracht hatte, die nach Berechnungen des deutschen Historikers Jürgen W. Falter zwischen 1925 und 1945 rund 10 Millionen Mitglieder hatte. Nach seinem Buch Hitlers Wähler (1991) legt Falter nun mit Hitlers Parteigenossen eine zweite statistische Studie vor, die zu erklären hilft, warum jene »Fanatiker, Hooligans und Exzentriker die Oberhand« gewinnen konnten. Dieses Werk wird die Forschung noch lange inspirieren und bei der quantitativen Überprüfung von neuen Ansätzen helfen. »Das vielleicht wichtigste Ergebnis«, schreibt der Autor selbst, »ist der weit überproportionale Anteil von Personen unter den Beitretenden, die zwischen 1900 und 1915 geboren wurden, der sogenannten Kriegskindergeneration. Diese Generation dominiert nicht nur unter den bis zur Machtergreifung Eingetretenen, sondern auch unter den ›Märzgefallenen‹ und selbst noch unter den österreichischen ›Illegalen‹ und den 1938 in die NSDAP aufgenommenen sudetendeutschen Mitgliedern«. Dagegen spielte die »in der Literatur oft angesprochene Frontkämpfergeneration, worunter hier die zwischen 1880 und 1900 Geborenen verstanden werden, im Vergleich dazu keine so starke Rolle unter den NSDAP-Beitretenden«.

So allgemein solche statistisch ermittelten Ergebnisse zunächst anmuten mögen, so erhellend erscheinen sie unter dem Aspekt der Lebenslaufforschung. Anders als die »alten Kämpfer« haben jene Kriegskinder die brutalisierende, Körper und Seelen versehrende Gewalt des Krieges nicht unmittelbar erlebt, sondern nur indirekt, indem sie erfuhren, was dieser Krieg mit ihren Vätern, Müttern, Geschwistern und Familien gemacht hatte. Dass Eltern ihre Traumata an Kinder und Kindeskinder weitergeben, gehört zu den – inzwischen auch durch epigenetische Studien bestätigten – Grunderfahrungen des 20. Jahrhunderts. Als Zugabe erhielten die zwischen 1900 und 1915 Geborenen auch noch den Hass ihrer Eltern auf Kriegs- und Inflationsgewinnler sowie auf die angeblichen Verräter und »Erfüllungspolitiker«, die für ihre Misere verantwortlich gemacht wurden. Der »Führer« Hitler verkörperte für seine fanatisierten Anhänger eine Haltung, die der »Nie-wieder-Krieg«-Maxime diametral entgegenstand.

Dass »der Nationalsozialismus (…) ein Kind des Krieges, mehr noch: ein Kind der Kriegsniederlage« war, bestätigt Ulrich Herbert in seinem unbedingt lesenswerten Buch Wer waren die Nationalsozialisten? und akzentuiert dabei deren »Brennen auf Revanche«. Chamberlain sei daran gescheitert, urteilt Herbert, dass seine deutschen Gegenspieler eine für ihn nicht begreifbare Haltung zum Krieg hatten: »(…) der Krieg nicht als Lehrmeister des Friedens, sondern als Lehrmeister des nächsten Krieges und der Vorbereitung darauf, so kann man diese Deutungen zusammenfassen, die 1919 einsetzten und bis 1945 reichten«.

Was Appeaser und Deutsche unterschied, obwohl beide die Schrecken des »Krieges, der alle Kriege beenden sollte« unmittelbar oder mittelbar erfahren hatten, war die simple Tatsache, dass jene ihn gewonnen und diese ihn verloren hatten. Das Grauen des Krieges wurde in Hitlers Anhängerschaft durch ein Gefühl der Demütigung überboten, das nicht nach Pazifismus, sondern nach Revanche verlangte.

Entscheidend für die »Unfähigkeit des Premierministers, den Hitlerismus richtig einzuschätzen«, war für Bouverie die Herkunft des früheren Bürgermeisters von Birmingham. »Chamberlain«, so zitiert er dessen Mitarbeiter Duff Cooper, »war in Birmingham nie jemandem begegnet, der auch nur die geringste Ähnlichkeit mit Adolf Hitler aufwies. Die Menschen, die er getroffen hatte (...), waren seiner Erfahrung nach nicht sehr viel anders als er selbst – sie waren vernünftig und ehrlich, und es war immer möglich gewesen, mit einem gewissen Maß an Geben und Nehmen eine Übereinkunft zu erzielen, die für beide Seiten zufriedenstellend war.«

Das Trauma der Erniedrigung

Gleichwohl lassen sich die Probleme mit Hitler nicht generell so milieubedingt erklären, wie Coopers Einschätzung es andeutet. Für Deutschland zeigt Falters Untersuchung der NSDAP-Mitglieder das Bild einer sozial breit aufgestellten Partei: »Eines der herausstechenden Ergebnisse ist der relativ hohe Prozentsatz von Arbeitern, die zwischen 1925 und 1933 der Partei beitraten. Wie bei den Wählern befanden sich auch unter den Mitgliedern knapp 40 % Arbeiter, was die Vorstellung, es habe sich bei der NSDAP um eine sich weit überwiegend aus Mittelschichtangehörigen rekrutierende Bewegung gehandelt, klar widerlegt. Tatsächlich war die NSDAP von ihren Mitgliedern her gesehen eine Art Zweigenerationenbewegung mit Volksparteicharakter. Neu ist die Erkenntnis, dass unter den Arbeitermitgliedern der NSDAP Facharbeiter eine wenn auch kleine Mehrheit stellten, wobei diese hauptsächlich in handwerklich geprägten Berufszweigen tätig waren.«

Vereint durch die unmittelbare und mittelbare Erfahrung einer demütigenden und desaströsen Kriegsniederlage hielten Kriegsteilnehmer und Kriegskinder dann mit wenigen Ausnahmen bis zum bitteren Ende zu ihrem Führer. Man kann Chamberlain sogar zugutehalten, dass jenes mörderische Area Bombing, das alliierte Luftstreitkräfte später gegen Deutschlands Städte und Zivilbevölkerung führten, ein ähnlicher Fehlschlag war wie sein Appeasement. Als »Kind der Kriegsniederlage« war die NSDAP gerade im verheerenden Bombenhagel ganz in ihrem Element. Und sie konnte auf fähige Gefolgsleute zählen, die keineswegs reine Opportunisten waren und auch außerhalb des Hitlerstaates hätten reüssieren können. Wie der von Herbert einleitend porträtierte Ludwig Losacker, der sich als kommissarischer Gouverneur in Krakau bei Hitler persönlich für die Rechte der polnischen Bevölkerung einsetzte, aber »einer der Hauptverantwortlichen für die Ingangsetzung und Durchführung der Ermordung der Juden im Distrikt Lemberg« war.

»Wie konnte einer, der mit dem schlechthin Bösen kooperierte«, fragt Herbert, »dennoch kunstsinnig sein, konservativ, pflichtbewusst – oder auch in manchen Bereichen ein stringenter Gegner der Politik des Regimes?« Eine Antwort sei, dass »er das Regime eben nicht als das schlechthin Böse ansah – oder erst sehr spät –, sondern als eine gewiss mit Fehlern behaftete, aber im Grundsatz positive, ja berauschende und überragend erfolgreiche Bewegung – allemal besser als das Trauma aus Niederlage und Erniedrigung, das man in den Jahren zuvor erlebt zu haben meinte«.

Solch ein »Trauma aus Niederlage und Erniedrigung«, so darf hier vermutet werden, wirkt nicht nur über Jahrzehnte, sondern über Generationen durch Familie und Milieu nach und reproduziert alte Frontstellungen und Feindbilder, sobald es erneut heraufbeschworen wird. Die eigene Traumatisierung kann auch jene absolute Empathielosigkeit erklären, mit der jene »ganz normalen Männer« ihren Opfern begegneten. Dass krankhafte Narzissten wie Adolf Hitler ein besonderes Gespür für solche Kränkungserlebnisse und deren Mobilisierung haben, kann dabei ebenso als Lehre für die Gegenwart herangezogen werden wie der Umstand, dass sich solche Traumata nicht rational wegargumentieren lassen. Ja, die Verbrechen des Dritten Reiches – wie die seiner Anhänger von heute – zeigen, dass sich pathologischer Hass und zweckrationales Handeln keineswegs ausschließen.

In Hinblick auf die gar nicht so neue Rechte in Europa und Amerika und ihre Parolen von Verrat, Diebstahl und Betrug, stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, ob die permanente Selbstvergewisserung und Selbstbestätigung eines demokratischen, toleranten und rechtsstaatlichen Justemilieu nicht auch heute zu fatalen Fehleinschätzungen von Menschen und Bewegungen verleitet, die rationalen und moralischen Argumenten gar nicht zugänglich sind, weil sie darin Zeichen von Schwäche zu sehen glauben.

Tim Bouverie: Mit Hitler reden. Der Weg vom Appeasement zum Zweiten Weltkrieg. Rowohlt, Hamburg 2021, 704 S., 28 €. – Jürgen W. Falter: Hitlers Parteigenossen. Die Mitglieder der NSDAP 1919–1945. Campus, Frankfurt/M. 2020, 584 S., 45 €. – Ulrich Herbert: Wer waren die Nationalsozialisten? C.H.Beck, München 2021, 303 S., 24 €.

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