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Neuerscheinungen zum Mai 1968 in Frankreich Traum ist Wirklichkeit

Am Anfang war die Frage nach Feuer. Gestellt hatte sie ein Rotschopf namens Daniel Cohn-Bendit dem Minister für Sport und Jugend, François Missoffe, der am 8. Januar 1968 den Universitätscampus von Nanterre besuchte. Erst wenige Wochen zuvor hatte das im Auftrag des Ministers entstandene Weißbuch über die Jugend in Frankreich ein ermunterndes Zeugnis ausgestellt. Von der studentischen Realität der Sorbonne-Filiale Nanterre, einige Kilometer vom Pariser Zentrum entfernt, schien dieser Befund weit entfernt. Und so legte denn auch der inzwischen mit ministeriellem Feuer versorgte Cohn-Bendit gegenüber Misoffe nach: Er habe den gesamten Bericht zwar gelesen, darin allerdings kein »einziges Wort über die sexuellen Probleme der jungen Leute« gefunden. Es folgte ein kurzes Wortgefecht, das dem 22-jährigen Studenten der Soziologie ein Ausschlussverfahren und einen Strafantrag einbrachte, damit aber zugleich zum Initial einer Bewegung wurde, die in den kommenden Monaten beinahe einen Flächenbrand auslösen sollte. So jedenfalls lautet die Meistererzählung, der auch der Historiker Wilfried Loth in seinem aktuellen Buch Fast eine Revolution. Der Mai 68 in Frankreich folgt.

Zwar ließ der Minister nach einem Entschuldigungsschreiben den Strafantrag fallen, das Verweisverfahren gegen Cohn-Bendit blieb allerdings bestehen. Als Ende Januar 1968 in der Universität Fotos von Polizisten auftauchten, die vorgeblich mit der Observierung renitenter Student/innen betraut waren, und diese sich dann den angerückten Polizeikräften entgegenstemmten, gelang ihnen damit ein großer Erfolg. Die erfolgreiche Zurückdrängung der Polizei ließ nicht nur die ideologisch zersplitterten studentischen Gruppen (Anarchisten, Trotzkisten, Maoisten) hinter ihrem damaligen Anführer Cohn-Bendit immer stärker zusammenrücken, sondern verschaffte dem Prostest auch landesweite Aufmerksamkeit. Es folgte eine Zeit unvorhergesehener Dynamik, die eine Frontstellung zwischen Staat und reformwütigen Student/innen hervorbrachte. Die Universität Nanterre wurde zum Schauplatz von Versammlungen und Raumbesetzungen, es folgten Verhaftungen und gewaltsame Zusammenstöße mit der Polizei und der rechtsradikalen Studentengruppe »Occident«. Von nun an wuchsen sich die ehedem bescheidenen Forderungen nach einer Verbesserung des studentischen Lebens zur Systemfrage aus. Im Urteil Loths klingt das wie folgt: »Im Rückblick sind es im Wesentlichen drei Männer, die diese Konfrontation heraufbeschworen haben: der Rektor der Sorbonne (…), der Einsatzleiter der Polizei vor der Sorbonne (…) und schließlich de Gaulle, der ohne großes Verständnis für die Situation der studentischen Jugend gleich dreimal Signale zur Wahrung oder Wiederherstellung staatlicher Autorität gegeben hat«.

Das Bündnis und sein Zerfall

In den ersten Maitagen schwoll der studentische Protest von Tag zu Tag an und sollte bald auch zu einem großen Medienspektakel werden. Nach der Besetzung und späteren Räumung der Sorbonne lieferten sich in den Abendstunden des 3. Mai rund 2.000 Demonstrant/innen mit der Polizei eine Straßenschlacht. Die Sorbonne avancierte zum Symbol des Protests und ließ die Stimmen, die eine Freigabe der Universität forderten, immer zahlreicher werden. Die Dynamik von Gewalt und Gegengewalt entfaltet Loth besonders eindrücklich in dem Kapitel über den 10. Mai, als rund 30.000 Demonstranten und brutal agierende Polizeieinheiten das Quartier Latin in Atem hielten. In dieser lauwarmen Nacht, in der die Demonstrant/innen nicht weniger als 60 Barrikaden errichteten, neuigkeits- und quotenorientierte Journalist/innen sich von dem Geschehen mitreißen ließen und es allmählich dämmerte, dass aus den anfänglichen Provokationen eine politische Ausnahmesituation geworden war, entstand der Mythos vom Mai 68. Diesem Spektakel folgte drei Tage später der Aufruf der Gewerkschaften zum Generalstreik, der Schüler/innen, Student/innen und Arbeiter/innen, immerhin 40 % der Aktivbevölkerung, verband und damit den revolutionären Forderungen noch einmal gesteigerten Nachdruck verlieh. Landesweit fanden über 160 Demonstrationen mit mehreren Zehntausend Menschen statt, in Paris wurden gar 230.000 Teilnehmer/innen gezählt. Loth zitiert den Schriftsteller Cees Nooteboom, der für eine niederländische Zeitung berichtete, mit den Worten, diese Menschenmenge sei die größte gewesen, die »mir je zu Gesicht gekommen ist«.

Die Sorbonne wurde besetzt und ein Betrieb nach dem anderen legte die Arbeit nieder. Mehr als sieben Millionen Arbeiter/innen, gut ein Drittel aller abhängig Beschäftigten, traten in der Zeit vom 14. bis zum 22. Mai in den Ausstand. Paris wurde zu »einem einzigen Ort aufgeregter Debatten und kühner Träume«. Dennoch räumt Cohn-Bendit in der Rückschau ein, dass es ihnen nach dem Beginn des Generalstreiks nicht mehr gelungen sei, eine »politische Debatte herbeizuführen, eine neue Linie zu finden«. Gleichwohl bekam die Staatsmacht die Situation vorerst nicht in den Griff. Während sich der Regierungschef Georges Pompidou versöhnlicher zeigte als Präsident Charles de Gaulle, gelang es zunächst nicht, die Arbeiterbewegung mit Zugeständnissen von der Studentenbewegung zu trennen. Die Unruhen auf den Straßen hielten an, Banken schlossen, das Benzin wurde knapp, Hamsterkäufe setzten ein. Aber während die Hilflosigkeit des Staates die revolutionären Hoffnungen auf einen Regimewechsel weiter belebte, schwanden allmählich die Sympathien der Bevölkerung. Hatten die Demonstrant/innen bislang auf das Verständnis vieler Bürger/innen und Medien setzen können, richtete sich die vielfach undifferenzierte Betrachtung immer stärker gegen die Bewegung selbst. In der öffentlichen Wahrnehmung rückten die Träumer des Absoluten allmählich auf die Seite des Aggressors und ließen bald die bis dahin von den Erfolgen überlagerten Differenzen der Aufständischen aufbrechen.

Die Gegenwehr des Staates, de Gaulles Zweifel, sein zeitweiliges Verlassen Frankreichs, schließlich seine Rückkehr und wiedergewonnene Entschlossenheit, schildert Loth in den hinteren Kapiteln besonders packend. Am 30. Mai wandte sich de Gaulle in einer Radioansprache an das Volk und kündigte für den 23. Juni Neuwahlen an: »Die Republik wird nicht abdanken, das Volk wird sich wieder fangen.« Die Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Am Abend fanden sich 300.000 bis 400.000 Demonstrant/innen zu einer Sympathiekundgebung auf den Straßen der Hauptstadt ein. Das Spektrum war sehr breit und reichte von treuen Anhänger/innen de Gaulles bis zur extremen Rechten, sodass aus dem Zug nicht nur Rufe nach einer Räumung der Sorbonne, sondern auch auf Cohn-Bendit gemünzte antisemitische Tiraden der übelsten Sorte zu hören waren. Damit war der Punkt des Umschlags erreicht. Der Protest zerfiel, und schon bald ließ sich die Arbeiterschaft durch Zugeständnisse zur Rückkehr an die Arbeit bewegen. Aus den Wahlen im Juni gingen de Gaulle und Pompidou als große Sieger hervor; Pompidou übernahm ein Jahr später das Präsidentenamt. Aber auch wenn der Umsturz abgewendet worden war, attestiert der Autor dem Mai 1968 eine enorme Fernwirkung.

Loths Monografie ragt angenehm heraus aus dem Meer verlautbarter Großthesen zu einer Bewegung, deren Reduktion auf eine griffige Jahreszahl immer wieder verzerrende Betrachtungen provoziert hat. Es gelingt dem Autor, die Dynamik weniger Wochen so eindringlich zu beschreiben, dass sich gerade aus dieser Beschränkung die weit darüber hinaus weisende Bedeutung erschließt.

Nicht nur Zaungäste der Revolte

Biografische Konturen bekommt die schiere Protestmasse in Anne Wiazemskys Buch Paris, Mai ’68. Die zeitweilige Ehefrau des Regisseurs Jean-Luc Godard, Hauptdarstellerin des von der chinesischen Kulturrevolution beeinflussten Films La Chinoise, reflektiert über das Jahr 1968 gleichsam im Spiegel ihrer damals noch jungen Ehe. Während Wiazemsky den jugendlichen Aufbruch beinahe belächelt und sich eher beiläufig an den inzwischen berühmten Cohn-Bendit erinnert, der an der Universität mit den Worten »Solidarität unter Rothaarigen« sogar um sie geworben hatte, schien ihr Umfeld von den Ereignissen elektrisiert. An der Seite ihres Mannes geriet sie in den Strudel der Demonstration vom 10. Mai, wobei sie beide bald den Rückzug in ihre Wohnung im Quartin Latin antraten. Es sind die Szenen einer Ehe, Wiazemskys künstlerischer Schaffensdrang und Godards Zweifel am eigenen Tun, die dem Buch Spannung verleihen. Dabei nimmt der Leser Redundanzen und eine eher additive Struktur in Kauf, weil die beschriebenen Personen, darunter Pier Paolo Pasolini, Bernardo Bertolucci und Gilles Deleuze, einen Eindruck vom intellektuellen Fundament der Protestbewegung vermitteln. Am Ende des Berichts werden die Krisen der Ehe und der revolutionären Träume enggeführt; der gescheiterte Selbstmordversuch Godards erhält somit eine überhöhende, fast metaphysische Bedeutung.

Man kann dem Buch Wiazemskys eine wohltuende Distanz zu dem Furor des Mai 1968 zuerkennen. Allerdings bleibt der Verdacht zurück, dass es eher begrenzte schriftstellerische Mittel sind und womöglich auch die hölzerne Übersetzung, die diese Distanz erst ermöglicht haben. Der Text vermag als historische Quelle zu bestehen, nicht aber in seinem literarischen Anspruch.

Wilfried Loth: Fast eine Revolution. Der Mai 68 in Frankreich. Campus, Frankfurt/M./New York 2018, 326 S., 29,95 €. – Anne Wiazemsky: Paris, Mai ’68. Ein Erinnerungsroman. Wagenbach, Berlin 2018, 168 S., 18 €.

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