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© Lex Photography/Pexels

Netzgemeinschaften als Politiklabor Trial und sehr viel Error

Wenn ein Auto beim Rechtsabbiegen beinahe eine Fußgängerin überfährt, wer trägt dann die Schuld: Autofahrerin oder Fußgängerin? Dem schwedischen Verkehrssicherheitsfachmann Matts-Åke Belin zufolge können beide nichts dafür, denn schuld ist das Design der Kreuzung. Vieles, was sich in Netzgemeinschaften beobachten lässt, gleicht dem Geschehen auf so einer schlecht designten Kreuzung: Es treten immer wieder ähnliche Konflikte auf, den Beteiligten fallen ähnliche Lösungsvorschläge ein und diese führen zu neuen, vorhersehbaren Konflikten. Derzeit ist es sehr wahrscheinlich, dass man im Netz undemokratische Erfahrungen machen wird – und zwar auch dort, wo wir nicht einfach Facebook die Schuld an der Misere geben können. Keine Netzgemeinschaft wird als fertige Demokratie geboren, und die meisten zerfallen schon wieder, noch bevor sie ihre undemokratischen Frühphasen hinter sich lassen können.

Über Politik im Netz wird keineswegs zu wenig geschrieben. Auch in dieser Zeitschrift war davon schon oft die Rede. Es geht um große Fragen: Wie soll das Internet als Ganzes reguliert werden? Wie können Parteien das Netz für ihre Selbstdarstellung und womöglich sogar zur Kommunikation nutzen? Wie lässt sich der im Netz entstehende Aktivismus in »reale« politische Tätigkeiten – Wählen, Demonstrieren, Mitgestalten – ummünzen? Oder, wie die Frage seit 2015 eher lautet: Wie kann man das Wahlvolk davon abhalten, mit schlechten Ideen aus dem Netz auf die Straße und an die Wahlurnen zu gehen?

Das Geschehen im Inneren von Netzgemeinschaften bleibt bei dieser Art der Fragestellung unsichtbar. Es ist allenfalls für die Beteiligten ein Thema, und auch die begreifen es nur selten als Politik. Aber politisches Handeln findet auch dort statt, wo man es nicht so nennt. Wer sich an einem gemeinsamen Blog, einem Team in einem Onlinespiel oder einer Facebook-Gruppe zum Thema Gartenbau beteiligt, auf den warten die gleichen Aufgaben wie in der traditionellen Politik: Regeln werden aufgestellt und geändert, Institutionen gestaltet, die Beteiligten haben unterschiedliche Erwartungen, man streitet sich, und ab und zu findet man einen Kompromiss.

»Code is Law«, Programme sind Gesetze, schrieb der US-Verfassungsrechtler Lawrence Lessig vor fast 20 Jahren. Er wird damit bis heute oft zitiert, und seine Aussage ist nicht umstritten. Gleichzeitig herrscht ein merkwürdiges Desinteresse an Fragen der Auswahl und politischen Gestaltung von Software und ihren eingebauten Regeln. Lessigs 2000 erschienenes Buch Code: And Other Laws of Cyberspace behandelt vor allem das Zusammenspiel des Internets mit traditioneller Gesetzgebung. Sein Thema ist die Regulierung des gesamten Netzes von außen, nicht die interne Regulierung von Millionen einzelner Miniaturwelten. Die »Freiheit im Cyberspace«, so erklärt Lessig, entsteht nicht aus der Abwesenheit eines Staates, sondern aus einem neuen, staatsartigen Gebilde, einer Architektur. Mit dieser Architektur des Internets befassen sich ganze Organisationen. Aber die Literatur über die Architektur seiner Einzelteile ist sehr überschaubar geblieben.

Zwischen 1990 und 2005 sind einige detaillierte Beschreibungen der politischen Strukturen früher Netzprojekte erschienen. Danach verlagerte sich die Aufmerksamkeit in Richtung Marketingfragen und zum »Community-Management«. Warum an der Frage geforscht wird, wie sich Unternehmensinteressen im Netz möglichst effizient wahrnehmen lassen, ist nicht schwer zu erklären: Es hat mit Geld zu tun. Daraus ergibt sich ebenfalls schnell die Frage, wie sich diesen Unternehmensinteressen Grenzen setzen lassen. Die Fragestellung, die dazwischen liegt, nämlich »Wie gestalten wir die Orte, an denen wir uns im Netz aufhalten?«, bleibt dabei untererforscht.

Als ich über dieses Thema nachzudenken begann, war meine Annahme, dass Netzgemeinschaften als Testsysteme für das menschliche Zusammenleben dienen können. In der traditionellen Politik besiedelt man nur selten unbewohntes Land, indem sich die Regeln für das Zusammenleben ganz neu entwickeln lassen. Im Netz dagegen stehen Pionier/innen jeden Tag vor der Frage, wie sie die Regelwerke ihrer Neugründungen gestalten wollen. Scheitern ist billig, die Gemeinschaften sind zahlreich und experimentierfreudig, sodass die Weiterentwicklung demokratischer Techniken im Netz schneller verläuft als in der Außenwelt. Die Erkenntnisse aus diesen vielen Experimenten werden die Zukunft der herkömmlichen Politik bestimmen, so dachte ich.

Im Laufe der Zeit wurden zwei Probleme der These unübersehbar. Das erste: Gemeinschaften im Netz können nur dann als Politiklabore dienen, wenn die Akteure dort gemeinsam über Entscheidungen nachdenken. Bisher funktionieren sie aber eher wie Labore, in denen jeden Tag neue Mitarbeiter mit den Worten »Aha, zwei Substanzen! Die gieße ich mal zusammen!« an die Arbeit gehen. Wenn alle nachrückenden Forscher glauben, ihre Vorgänger seien Idioten gewesen, die Methode des Zusammengießens der zwei Substanzen aber grundsätzlich solide, dann dauert der Erkenntnisfortschritt sehr lange. Scheitern macht schlechte Laune und führt dazu, dass das Ergebnis der Experimente nur selten analysiert und auf eine für die Nachwelt nützliche Weise aufgeschrieben wird.

Weil das Geschehen in Internetprojekten selten als Politik oder auch nur als erforschungswürdiges Feld verstanden wird, ist es nicht üblich, aus der politikwissenschaftlichen Literatur oder aus vorangegangenen Experimenten im Netz zu lernen. Man begreift alle Herausforderungen als Einzelfälle und experimentiert immer wieder mit denselben Ansätzen, die schon anderswo gescheitert sind.

Das zweite Problem meiner These: Zwar werden im Netz politische Regelwerke in großer Zahl getestet und weiterentwickelt. Nur sind es selten Regelwerke, von denen ich mir wünschen würde, dass die reguläre Politik sie sich zum Vorbild nimmt. Der Wirtschaftswissenschaftler Edward Castronova schreibt in Synthetic Worlds, einem Buch über die Wirtschaft und Kultur von Multiplayerspielen: »Umso seltsamer, dass sich in künstlichen Welten gar nicht viel Demokratie finden lässt. Keine Spur, um genau zu sein. Nicht der Ansatz eines Schattens einer Spur. Sie existiert nicht. Die typische Regierungsform in künstlichen Welten sind Inseln knallharter Diktatur in einem Meer allgemeiner Anarchie.«

Nicht nur in Spielen, auch anderswo im Netz entscheidet man sich immer wieder für Formen des Zusammenlebens, in denen der überwiegende Teil der Nutzerschaft nichts zu sagen hat. Wobei »entscheiden« das falsche Wort ist. Die meisten Systeme ergeben sich, ohne dass jemand verkündet hätte: »Nach reiflicher Abwägung aller Vor- und Nachteile soll dieses Projekt die Form einer freundlichen Diktatur haben. Mitbestimmung ist nicht vorgesehen.«

Das liegt nicht an irgendeiner besonderen Eigenheit des Netzes. Die meisten dort zu beobachtenden Probleme existierten schon, bevor auch nur die erste Telefonleitung verlegt wurde. Man erkennt sie nur leichter, wenn sie in einer überschaubaren Gruppe stattfinden, deren Entwicklung schnell verläuft und gut dokumentiert ist. Demokratie ist langsam, unbequem und ärgerlich. Deshalb ist sie nicht die erste und naheliegendste Organisationsform, auf die man verfällt, sondern eher die letzte, wenn alles andere gescheitert ist.

Die meisten existierenden Werkzeuge und Plattformen machen Alleinherrschaft einfach und Mitbestimmung schwierig, weil ihre Entwickler ebenso fahrlässige Entscheidungen treffen wie ihre Anwender. Auch wenn die technischen Voraussetzungen günstiger wären, bliebe es mühsam. Funktionierende politische Strukturen sind ein Tauschgeschäft, bei dem man Bequemlichkeit zugunsten anderer Vorteile opfert. Sie ergeben sich nicht von allein, nur weil alle Beteiligten guten Willens sind.

Na gut, könnte man annehmen, das Internet ist noch ziemlich neu, im Laufe der Zeit werden wir schon einen Umgang mit diesen Problemen finden. Aber es ist unwahrscheinlich, dass eines Tages alle anfangen, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Das ist erstens mühsam. Ähnlich wie in der traditionellen Politikwissenschaft interessieren sich einfach nicht so viele Leute für die Details. Zweitens wachsen ständig neue Menschen nach, die diese Erfahrungen noch nicht gemacht haben. Und drittens sind die Systeme zu fragil. Je nach Größe der Gemeinschaft kann schon eine einzelne Person, die die Regeln nicht kennt oder bewusst dagegen verstößt, genügen, um das Zusammenleben empfindlich zu stören.

Ich glaube, dass es trotz dieser widrigen Umstände Hoffnung für die Politik in Netzgemeinschaften gibt. Zumindest in einer Hinsicht sind wir heute besser dran als vor 30 oder 40 Jahren: Wir wissen mehr darüber, was nicht funktioniert. Die Texte aus den 90er und Nullerjahren sind voll mit angeblich ganz einfachen Lösungen: Man muss nur Anonymität verbieten! Man muss nur dafür sorgen, dass sich nur die richtigen Leute beteiligen! Man muss nur die falschen Leute alle wieder vor die Tür setzen! Zu lesen ist das alles immer noch, aber zumindest gibt es inzwischen Belege dafür, dass sich dadurch nichts an den Konflikten ändert.

Funktionierende Lösungen oder Linderungsmöglichkeiten für die Probleme werden die Form von Institutionen haben. Mit Institutionen meine ich nicht in erster Linie komplexe Organisationsstrukturen wie die der Wikipedia. Sie können bei bestimmten Problemen helfen, sind aber für den größten Teil der Netzgemeinschaften keine Option. Wer einer Facebook-Gruppe zum Thema Hamsterhaltung beitritt, tut das zum Spaß und nicht, um dort über Organisationsstrukturen nachzudenken. Mit Institutionen meine ich vor allem die Verstetigung von Erkenntnis durch die Vorgaben, die die verwendete Software macht. Die kleinen Fortschritte, die in den letzten Jahrzehnten zu beobachten waren, sind dadurch entstanden, dass Erkenntnisse in Softwareform gegossen wurden, ähnlich wie beim Design einer besseren Straßenkreuzung.

Das Nachdenken über die interne Politik von Netzgemeinschaften ist wichtig, weil nicht alle dieser selbstregulierten Projekte klein sind. Die dort getroffenen Entscheidungen betreffen Gemeinschaften, die die Größe von Städten oder kleineren Ländern haben können. Aber auch dort, wo sich nur zehn oder 100 Leute beteiligen, wirkt das Geschehen auf den Rest der Welt zurück. Menschen, die sonst keiner Partei beigetreten wären und keinen Verein gegründet hätten, sammeln im Netz Erfahrungen mit politischem Handeln und politischen Strukturen. Das Netzgeschehen prägt ihre Vorstellungen von dem, was in der »realen« Politik funktionieren kann – und was nicht. Darin liegt umgekehrt auch eine Chance: Menschen, die einmal in einem Netzprojekt die Erfahrung gemacht haben, dass Mitbestimmung trotz unterschiedlicher Ansichten funktionieren kann, werden auch in der traditionellen Politik eher daran glauben. Sie wissen, dass politische Verfahren anstrengend und manchmal ärgerlich sind, und sie halten das nicht gleich für ein Anzeichen für die Untauglichkeit der Verfahren oder die Unfähigkeit von Politikern.

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