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Das Werk von Günter Grass in einer neuen Ausgabe Trommelschlag mit Holzkassette

Pünktlich zu seinem Geburtstag am 16. Oktober ist in diesem Jahr eine neue Ausgabe der Werke von Günter Grass erschienen, die Neue Göttinger Ausgabe in 24 Bänden, herausgegeben von Dieter Stolz und Werner Frizen. Sie enthält das gesamte lyrische, dramatische, epische und essayistische Werk von Günter Grass sowie eine umfangreiche Auswahl seiner Gespräche. Frühere Werkausgaben waren 1997 und 2007, zu Grass’ 70. bzw. 80. Geburtstag, vorausgegangen. Hanjo Kesting hat mit Heinrich Detering, einem Kenner des Grass’schen Werks und Leiter der Göttinger Grass-Forschungsstelle, gesprochen.

NG FH: Warum erscheint eine neue Ausgabe der Werke von Günter Grass? Was hat sie notwendig gemacht?

Heinrich Detering: Zunächst muss man sich vor Augen führen, dass seit der »Göttinger Ausgabe« von 2007 ja noch eine ganze Reihe wichtiger Texte entstanden ist, Werke wie Grimms Wörter, aber auch Gedichte, Essays und Gespräche. Grass ist ja buchstäblich bis in seine letzten Lebenstage hinein produktiv geblieben, bis zu seinem letzten, wunderbaren Buch Vonne Endlichkait. Und zweitens ist leider nicht zu beschönigen, dass die Ausgabe von 2007 auch in den Werken unzuverlässig ist, die sie enthält. Aus Gründen, die hier nicht zu erörtern sind, hat sie sich als eine in weiten Teilen zu schnell und ungenau gemachte Sammlung erwiesen, die diverse Lücken und Fehler aufweist. Die neue Ausgabe präsentiert erstmals wirklich das Gesamtwerk in philologisch erarbeiteter Textgestalt.

NG FH: Wartet die neue Ausgabe mit Überraschungen auf? Gibt es darin Texte zu lesen, die man noch nicht kannte? Und hat sich an der Textgestalt der Werke etwas verändert: etwa Korrekturen letzter Hand oder überhaupt Korrekturen?

Detering: Die auffälligste Erweiterung des Textcorpus bietet natürlich der letzte Band mit einer umfangreichen Auswahl an Gesprächen von den allerersten Anfängen bis in die letzten öffentlichen Debatten. Das entscheidende Kriterium der Herausgeber Werner Frizen und Dieter Stolz für die Ausgabe war, das von Grass autorisierte Ganze in möglichst zuverlässiger Textgestalt zu präsentieren. Grass selbst hat in Zusammenarbeit mit seinen Lektoren und den Herausgebern noch bis 2015 Korrekturen vorgenommen.

NG FH: Wie darf man sich die Arbeit an einer solchen Ausgabe vorstellen? Wurden die abgedruckten Texte nochmals mit den Erstausgaben oder mit den Hand- und Maschinenschriften verglichen? Gibt es bei Grass das Problem unterschiedlicher Fassungen, die für den Leser von Interesse sind, unabhängig von der Fassung der Erstausgabe oder der Fassung letzter Hand? Von der Novelle Im Krebsgang zum Beispiel sollen mehrere, zum Teil sehr unterschiedliche Anfänge existieren.

Detering: Alle Texte wurden in mehreren Korrekturläufen sorgfältig durchgesehen und die literarischen Werke zudem (in Zweifelsfällen) mit den Erstausgaben, in Einzelfällen auch mit Archivmaterial verglichen. Ja, bei Grass gibt es im Arbeitsprozess verschiedene Fassungen, die Dokumentation und die Analyse von zweifellos aufschlussreichen Vorstufen bleibt allerdings voll und ganz den Kommentarbänden vorbehalten. Die Neue Göttinger Ausgabe enthält die von Grass selbst freigegebenen Druckfassungen.

NG FH: Enthalten die Bände einen wissenschaftlich-kritischen Apparat, anhand dessen man die Entstehungsgeschichte der Werke, Textvarianten, Rezeption und vielleicht sogar Interpretationsansätze nachverfolgen kann?

Detering: Nein, dies ist eine Leseausgabe, so wie Günter Grass sie sich gewünscht hat. Den kritischen Apparat sollen dann die Kommentarbände bieten.

NG FH: Werkausgabe und Kommentarbände erscheinen getrennt, nicht nur der äußeren Gestalt nach, sondern auch nach dem Zeitpunkt ihres Erscheinens. Warum? Mein Eindruck ist, dass man damit weder den Käufern der Werkausgabe, die sich möglicherweise Kommentare wünschen, einen Gefallen tut, noch den Autoren der Kommentarbände, deren Verkauf sich durch das spätere Erscheinen eher schleppend gestalten dürfte.

Detering: Soweit ich sehe, liegt diese in der Tat nicht wünschenswerte, aber alles in allem hoffentlich zu verschmerzende Trennung der Erscheinungstermine an den sehr unterschiedlichen Entstehungsbedingungen der Kommentarbände. Einige gehen auf bereits früher erschienene, nun durchgesehene und aktualisierte Kommentare zu einzelnen Text-Konvoluten zurück. Andere mussten ganz neu erarbeitet werden. Das führte nicht nur zu unterschiedlichen Bearbeitungsgeschwindigkeiten, sondern machte auch Vereinheitlichungen erforderlich, die sich länger hingezogen haben als die Fertigstellung der Werkausgabe selbst. Das Problem gibt es in vielen kommentierten Klassiker-Ausgaben; ich selbst habe es in der Frankfurter Thomas-Mann-Ausgabe mehrfach erlebt. Nur musste man dort, wo Texte und Kommentare jeweils zusammen ausgeliefert wurden, manchmal eben entsprechend lange auf die Textausgaben warten. Die Göttinger Grass-Ausgabe ist anders verfahren: Sie präsentiert nun auf einen Schlag das gesamte Werk in gesicherter Textgestalt und liefert dann etwa ein Jahr später die kompletten Kommentare zum literarischen Werk in einer zweiten, ebenfalls einheitlich gestalteten und der Werkausgabe auch äußerlich angepassten Form nach. Als Grass-Leser würde ich nicht nur sagen, dass man damit leben kann – ich würde hinzufügen: Das ist ein Grund zur Vorfreude.

NG FH: Die Herausgeber der Werkausgabe, Dieter Stolz und Werner Frizen, an die ich zuerst mit der Bitte um ein Gespräch herantrat, verweigerten die Auskunft über die Edition, ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, wo sie den Ertrag ihrer Arbeit ernten könnten. Offenbar gibt es zwischen Verlag und Herausgebern unliebsame Verwerfungen, die auch für die Öffentlichkeit von Interesse sind.

Detering: Nach allem, was ich als Außenstehender darüber weiß, handelt es sich da um persönliche Auseinandersetzungen, die für die Konzeption dessen, was am Ende in zwei vorzüglich gearbeiteten und schön gestalteten Kassetten vorliegen wird, nicht von Belang sind und die Öffentlichkeit insofern auch nicht interessieren müssen.

NG FH: Der Steidl Verlag ist für seine exquisite Buchherstellung bekannt und besonders der Verleger Gerhard Steidl gilt als leidenschaftlicher Büchermacher. Was zeichnet die Göttinger Grass-Ausgabe in dieser Hinsicht aus?

Detering: Die Gestaltung geht, wenn ich das richtig sehe, in zweierlei Hinsicht auf Grass’ eigene Inspiration zurück. Erstens und grundsätzlich hat er selbst ja zunehmenden Wert nicht allein auf die Texte, sondern auch auf die schöne Gestalt seiner Bücher gelegt, die er gerade in einer Zeit der allumfassenden Digitalisierung auch als handwerkliche Kunst-Stücke sah. Dies war ja ein wesentlicher Grund für seine intensive Zusammenarbeit mit Steidl. Und zweitens verdanken sich auch die Grundzüge der Typografie, der Einbandgestaltung und der Kassette Anregungen von Grass. Die aufwendig gestaltete Holzkassette etwa ist von derselben Firma hergestellt, die auch die schönen, altmodischen Verpackungen der von Grass benutzten Zeichenwerkzeuge gemacht hat.

NG FH: Holzkassette und hochwertige Ausstattung stoßen in den Bereich des Bibliophilen vor, und die Limitierung der Ausgabe auf 1.000 Exemplare deutet an, dass man hauptsächlich an bibliophile Käufer oder Sammler denkt. Ob das im Sinne von Günter Grass ist? Er war zwar seiner Herkunft nach selber ein bildender Künstler, zielte aber als Schriftsteller nie auf ein exklusives Publikum. Hätte ihm das Unternehmen gefallen?

Detering: Ich bin ziemlich sicher, dass es ihm gefallen hätte. Es ist ja nicht so, dass seine Werke mit dieser Ausgabe nicht mehr allgemein zugänglich wären. Es gibt sie, auch bei Steidl, in sehr unterschiedlichen Dosierungen und Darreichungsformen. Aber das Lebenswerk eines Weltkünstlers wie Grass verdient es, auch in eine so elegante, gediegene Form gefasst zu werden. Außerdem ist die Neue Göttinger Ausgabe ja in Einzelbänden über die 1.000 Exemplare hinaus lieferbar.

NG FH: Max Frisch sprach einmal von der »durchschlagenden Wirkungslosigkeit der Klassiker«. Hat Günter Grass mit der Neuen Göttinger Ausgabe diesen Status eines Klassikers auch endlich erreicht? Und wie auch immer Ihre Antwort ausfällt: Welche Werke von Grass sollte man unbedingt kennen? Und welche sind für unsere Gegenwart von besonderem Interesse?

Detering: Den problematischen Klassiker-Status hat Grass wohl spätestens mit dem Literaturnobelpreis erreicht. Und er selbst hat in seinen späten Jahren, manchmal freiwillig, nicht selten auch unfreiwillig einiges dazu beigetragen, diesen Status wieder zu erschüttern. Was ich mir von dieser großen Gesamtschau erhoffe, ist eine Vielzahl neuer Blicke auf sein Werk als dasjenige eines Autors, der – bei aller betonten politischen Zeitgenossenschaft und bei aller pädagogischen Wirkungsabsicht – doch vor allem ein ungemein erfindungsreicher, schöpferischer Künstler gewesen ist, ein Sprachspieler und Wortakrobat und Geschichtenerfinder. Es verhält sich da bei Grass vielleicht so wie vor gar nicht so langer Zeit beim ebenso problematischen Klassiker Bertolt Brecht: Mit wachsendem Abstand werden die zeitgenössischen Scharmützel kleiner und die Vielstimmigkeit, die Farbigkeit, das künstlerische Eigenleben der Texte immer deutlicher erkennbar. Der Künstler Grass ist, glaube ich, noch im Kommen; und diese Ausgabe öffnet dafür einige Fenster und Türen.

Dieter Stolz/Werner Frizen (Hg.): Günter Grass, Werke. Neue Göttinger Ausgabe. Steidl, Göttingen 2020, 10.952 S., 480 €.

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