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Die Reportage: Italien unter Georgia Meloni Tutto come sempre

07.00 Uhr, Magliana, Rom Süd. Die »Bangla«, wie bengalische Markthändler hier genannt werden, bauen ihre Stände auf. Kleiderständer, Kisten mit Gummienten, Reinigungsmitteln, Schuhen und Kinderbüchern werden aus den Lieferwagen gezogen. Der Tag dürfte wohl sonnig werden. Also alles wie immer, tutto come sempre?

Die Straße ist um diese Uhrzeit noch nicht allzu dicht befahren. An der Bushaltestelle warten ausschließlich Menschen in Arbeitsmontur, weshalb öffentliche Verkehrsmittel in Rom den Ruf des »Armentransports« haben. Zwischen 1991 und 2022 sind die Reallöhne in Italien nur um rund ein Prozent gestiegen – in der OECD insgesamt durchschnittlich um 32,5 Prozent. Eigentlich dürften also kaum Autos verkehren, doch weil niemand genau sagen kann, wann der Bus kommt, ist die Realität eine ganz andere: Auf 1.000 Einwohner kommen rund 838 gemeldete Autos und als die Stadt vor Kurzem versuchte, die Sperrzone für besonders luftverpestende PKW zu erweitern, waren 100.000 Unterschriften gegen das Vorhaben die Folge.

»Die Wohnungen sollten sie unseren jungen Leuten geben, nicht den Ausländern…«

Das Café neben der Bushaltestelle wird bereits von vielen Rentnern frequentiert. Alle trinken ihren Espresso am Tresen. Dort kostet er nämlich einen Euro, sonst werden 1,20 Euro fällig. Zwei Rentner unterhalten sich über die hohen Mieten. Die Tochter des einen sei vor Kurzem Mutter geworden, doch findet mit ihrem Partner keine bezahlbare Wohnung. »Dann geh du doch ins Altersheim und lass sie bei dir wohnen!«, scherzt der andere. »Die Wohnungen sollten sie unseren jungen Leuten geben, nicht den Ausländern…«, antwortet der andere mit zurückgekehrtem Ernst.

Dass die Argumentation darauf hinauslaufen würde, hatte ich aus Erfahrung schon erwartet. Denn neben den vielen Medienformaten, die Tag ein, Tag aus über die bedrohte Spezies der »Italiener/innen« berichten, haben auch alle drei Parteien der aktuellen »Mitte-Rechts«-Koalition den ethnonationalen Wortschatz bedient, um erfolgreiche Wahlkampagnen zu führen. Alles nicht neu: Schon der ehemalige Lega-Chef Umberto Bossi stellte bereits 2003 klar: »In Mailand werden die Häuser zuerst an die 42.000 Lombarden vergeben, die auf eine Wohnung warten, und nicht an den ersten Bingo Bongo, der ankommt«.

8.00 Uhr, San Paolo, Rom Süd. Am Eingang der Universität stehen wieder die Kommunisten, die ihre Zeitung Lotta Comunista (Kommunistischer Kampf) verkaufen und Leute für den Klassenkampf begeistern wollen. »Ihr seid die Zeugen Jehovas unter den Kommunisten«, kommentiert ein Student beim Vorbeigehen. »Mit eurer lästigen Art werdet ihr niemanden überreden, Lenin zu lesen!«. »Entschuldige bitte, aber wir müssen doch was gegen die imperiale Weltordnung tun!«, reagiert eine von ihnen mit Humor. Ein weiterer Student lehnt das Angebot im raschen Vorbeigang höflich ab: »No, grazie. Ich bin Faschist.«

Haftzentren für Migrant/innen in Albanien haben Vorrang vor der Bildung.

Die Kaffeemaschine, gewissermaßen der zentrale Treffpunkt der Universität, bleibt heute außer Betrieb. Der Techniker kommt erst, wenn er Zeit hat. Zudem müssen wir heute auf das WLAN verzichten, heißt es, und die Steckdosen in der Bibliothek sind aufgrund eines Kurzschlusses ebenfalls nicht nutzbar. Die Vorlesung findet trotz allem vor gefülltem Saal statt. »Es ist nichts Großes ohne Leidenschaft vollbracht worden«, das Hegel-Zitat steht auf der Außenwand des Gebäudes. Dem Bildungsministerium wurden zuletzt um die 57 Millionen Euro gekürzt, weil die Mittel anderswo scheinbar dringender benötigt werden, etwa bei der Errichtung von Haftzentren für Migrant/innen in Albanien. Allein in diesem Jahr sind 142 Millionen Euro dafür vorgesehen, 645 Millionen für die kommenden fünf Jahre.

Italien bleibt in Westeuropa übrigens das einzige Land, in dem weniger als 35 Prozent der Studierenden einen Abschluss machen. Wurden in Deutschland 2018 rund 43 Milliarden Euro in die Universitäten investiert, waren es in Italien nur 13,7 Milliarden. Während es in Deutschland derzeit rund 450.000 Forscher/innen gibt, sind es in Italien gerade einmal 160.000. Bereits 1990 hatte der Kultjournalist Indro Montanelli richtig erkannt, »dass italienische Wissenschaftler, Ärzte, Chemiker, Physiker, wenn sie erstmal über gut ausgestattete europäische Praxen und Labors verfügen, im Ausland glänzen werden.« Zwischen 2002 und 2021 sind jährlich circa 71.000 Italiener/innen, allen voran junge Studienabgänger/innen, ins Ausland aufgebrochen.

11.00 Uhr, Piazza Navona, Rom Zentrum. Ein Kellner nimmt eine Bestellung auf, dreht sich um und flüstert »Turisti de merda« (Scheißtouristen) vor sich hin. Tourismusministerin Daniela Santanché zeigt sich mit ihrer Arbeit zufrieden und unterstreicht, wie gut sich die 100 Milliarden schwere Industrie seit der COVID-19-Pandemie erholt habe. Doch damit die mehr als zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes auch stabil bleiben, muss die Bevölkerung dafür den Preis zahlen. Überfüllte Straßen und überteuerte Restaurants in den Innenstädten, Wohnungsmangel und hohe Mieten aufgrund von unregulierten Plattformen für Kurzzeitvermietungen sind längst Normalität. Strände werden nach und nach privatisiert, allein für den Zugang zum Meer muss vielerorts inzwischen Eintritt bezahlt werden.

Der Frust des Kellners speist sich übrigens vor allem daraus, dass es in Italien nach wie vor keinen Mindestlohn gibt. Offiziell sind um die 2,1 Millionen Italiener/innen direkt im Tourismusgeschäft beschäftigt. Angesichts prosperierender Schwarzarbeit ist von einer viel höheren Dunkelziffer auszugehen. Beschäftigte beschweren sich regelmäßig über Stundenlöhne zwischen vier und sechs Euro, doch es ändert sich nichts. Ein Vorschlag der Sozialdemokraten und der Fünf-Sterne-Bewegung zur Einführung eines Mindestlohns von neun Euro wird von der Parlamentsmehrheit kategorisch abgelehnt.

»Die wollen uns doch alle nur verarschen…«

14.00 Uhr, Piazza Testaccio, Rom Zentrum. Der Friseur Antonio ist nicht gut gelaunt. Hoffentlich lässt er den Frust nicht an meinen Haaren aus, denke ich. »Die wollen uns doch alle nur verarschen…« meint er. »›Wir lassen Euch nicht allein, wir sind bei Euch‹, haben sie gesagt. So ein Blödsinn«. Er redet von der Pandemie. »Einmal 600 Euro habe ich bekommen! Das war’s…«. Er holt seinen Mietvertrag aus der Schublade und klatscht mit der offenen Hand dagegen. »Das reicht nicht einmal für die Miete – und die ist immer gleich hoch geblieben, mit oder ohne Arbeit.« Ob er Meloni gewählt habe, möchte ich wissen. Er nickt. Doch sie wäre genau wie alle anderen, fügt er hinzu.

16.00 Uhr, Petersplatz, Vatikanstadt. Beim Souvenirladen meines Vertrauens häng seit Neuestem auch ein Kalender mit Fotos von Silvio Berlusconi. Bei seiner Beerdigung im Juni 2023 sprangen die Trauernden vor dem Mailänder Dom im Takt und sangen im Chor: »Wer nicht springt, ist Kommunist!«

18.00 Uhr, Termini, Rom Zentrum. Ein Mann um die 30 steigt in den halbleeren Bus ein, sieht sich kurz um, reckt den rechten Arm zum römischen Gruß und brüllt: »Presente! Presente! Presente!«. Anwesend. Die Passagiere schauen ihn verblüfft an, er steckt sich seine Kopfhörer in die Ohren und setzt sich. Beim Aussteigen bemerke ich ein Plakat an der Haltestelle: »Presente! Presente! Pre­sente!«. Darunter die Zeichnung einer Frau, die zwei Kleinkinder stillt. Darüber ein Keltenkreuz. Es geht um Acca Larenzia, eigentlich eine frührömische Göttin, und – der Legende nach – die Pflegemutter von Romulus und Remus.

Im Laufe der ersten Republik wurde die Via Acca Larenzia im Osten Roms für den Hauptsitz des neofaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI) bekannt. Fratelli d’Italia, die regierende Partei Giorgia Melonis, hat an dieser Adresse ihre Wurzeln. Jedes Jahr treffen sich dort einige hundert Rechtsextreme, um an die Ermordung zweier Neofaschisten im Januar 1978 zu erinnern. Doch dies ist nichts Neues, die Veranstaltung fand bereits unter den vorherigen Regierungen genauso jährlich und ohne Einschreiten der Polizei statt.

19.00 Uhr, Rom Süd. Die Römer/innen nennen das Viertel »unser Kronjuwel«: Das EUR (Esposizione Universale di Roma, »Weltausstellung Rom«). »1938 erstmals errichtet, sollte hier die Weltausstellung 1942 stattfinden.«, erklärt mir Ludovica, eine Freundin und angehende Kunsthistorikerin. Diese wurde jedoch aufgrund des tobenden Krieges abgesagt. Der Bau wurde in den 50er Jahren vollendet und beherbergt heute in erster Linie Büros. »Viele Römer/innen sagen, es wäre besser gewesen, wenn Mussolini Bürgermeister von Rom geworden wäre, anstatt Duce.«, meint Ludovica. »Die Leute hängen sehr an seiner Stadtentwicklungsarbeit.« Nicht aus Versehen steht deshalb vor dem Olympiastadion ein Obelisk mit der Aufschrift »Mussolini Dux«.

»Seit die Meloni das Bürgergeld abgeschafft hat, kommt hier niemand mehr zum Mittagessen.«

21.00 Uhr, Magliana, Rom Süd. Franco holt die Stühle und Tische von der Terrasse in sein Lokal. Schließzeit. Er winkt mir zu, ich soll kurz vorbeikommen. Die Vitrine ist noch voll mit Artischocken »alla Romana«, Lasagne, gegrillten Auberginen. Ob ich Hunger hätte, fragt er. Immer, sage ich. »Seit die Meloni das Bürgergeld abgeschafft hat, kommt hier niemand mehr zum Mittagessen.«, sagt er. Und das, obwohl er die Gerichte für sechs, sieben Euro anbiete. »Hier hat der Staat uns aufgegeben.«, meint er. »Ich bezahle dieselben Steuern wie ein Restaurant vor dem Kolosseum. Mit dem Unterschied, dass meine Kundschaft kein Geld mehr hat. Wenn das so weiter geht, muss ich in drei Monaten schließen«.

Die Postideologie breitet sich auf Roms Straßen schneller als der Postfaschismus aus. Es geht aber nicht um Gegensätze. Vielmehr ist erstere eine Voraussetzung für den Letzteren. Der Großteil der Menschen, die täglich mit Armut und existenziellen Sorgen konfrontiert sind, glauben nicht länger an den Staat. Weder an den von Giorgia Meloni noch an den von Silvio Berlusconi. »In Rom lebt man nicht«, sagt Franco, »in Rom überlebt man nur«. Bei der Wahl, die Melonis Partei in die Regierung brachte, wählten am 25. September 2022 rund 63,9 Prozent der Italiener/innen. Es war die niedrigste Wahlbeteiligung in der Geschichte der Republik. Aber zumindest hat heute die Sonne geschienen. Oder wie die Leute hier sagen: Alles wie immer in der ewigen Stadt.

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