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Vereidigung von Gerhard Schröder zum Bundeskanzler durch Bundestagspräsident Wolfgang Thierse am 22.10.2002 © picture-alliance / dpa | Tim Brakemeier

Die Frage der Glaubwürdigkeit im Leben danach – am Beispiel des früheren KanzlersÜber das Amt hinaus

Am Fall des Altkanzlers Gerhard Schröder ist vieles exemplarisch und verdient, unabhängig vom medialen Auf und Ab, einer genaueren Betrachtung. Das fängt mit der Frage an: Können, ja dürfen die zweifelhaften Geschäfte des Altkanzlers Gerhard Schröder jetzt noch, wo er doch so lange schon fern von allen politischen Ämtern, also ein »reiner Privatmann« ist (wie er sagt), überhaupt noch ein ernst zu nehmendes öffentliches Thema sein? Sollten die Öffentlichkeit und die SPD jetzt nicht allmählich über alle Skandalisierungen und Erregungen, an denen die Medien ja stets ein Interesse haben, hinweggehen?

So wäre es wohl gekommen, wären mittlerweile nicht der Ukrainekrieg Putin-Russlands und die damit verbundene existenzielle Erdgaskrise hinzugekommen. Dann wäre wohl vermutlich auch diese »Causa« in den Medienhäusern in Richtung Archiv gewandert und mit ihr auch andere damit verbundene Erinnerungen verblasst, die sie zum exemplarischen Fall machen: Der nahezu postwendende Umzug Schröders aus dem Kanzleramt, in dem er gerade eben noch das umstrittene Pipelineprojekt mit Russland durchgesetzt hatte, auf einen der üppig dotierten Chefsessel in dem dazugehörigen russischen Gaskonzern, der daran im großen Stil verdient, war ja eingerahmt von der Übernahme lukrativer Wirtschaftsposten im ehemaligen eigenen Zuständigkeitsbereich durch mehrere prominente Minister seiner letzten Regierung (wie Wolfgang Clement, Otto Schily und Walter Riester).

Mehr noch als die finanzielle Delikatesse irritierte dann aber im Verlauf der Geschichte Schröders Festhalten an der ostentativen Freundschaft mit dem »lupenreinen Demokraten« Putin, auch noch, nachdem dieser mit beispielloser Brutalität die letzten Reste von Bürgerfreiheit und politischer Öffentlichkeit in Russland ausgemerzt hatte (Kritiker werden »ausgespuckt wie lästige Fliegen«).

Mittlerweile – angesichts von Putins verheerenden Interventionsexzessen in Georgien, Tschetschenien und Syrien eigentlich gar nicht mehr überraschend –, kommt auch noch der flächendeckende Vernichtungskrieg des selbstverliebten Despoten und toxischen Laienhistorikers gegen das ungehorsame »Bruderland« Ukraine hinzu, verbunden mit einer Politik des systematischen Lügens à la Trump.

Schröder nennt Putins Politik inzwischen »einen Fehler« – ein erstaunliches Urteil. Zwar haben die denkwürdigen Kurzsichtigkeiten der deutschen Politik und der NATO ja durchaus eine Reihe von Vorwänden als Trigger dafür geliefert (das waren »Fehler«), aber das Kriegsverbrechen des mörderischen Überfalls auf ein souveränes Nachbarland selbst ist allein Putins Schande. Das ist für den stets selbstgefälligen deutschen Ex-Kanzler eine veritable biografische Katastrophe – aber leider auch für seine Partei ein andauernder medialer und politischer Schaden an Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit.

Wie umgehen mit dieser Bürde, wie den fortwirkenden Schaden begrenzen? Man könnte es mit dem berechtigten Einwand versuchen, dass eben in der politischen Arena deutlicher zwischen Privatleben und Amtshandeln jeder Person getrennt werden sollte. Das sticht aber nicht, weil eine demokratische Gesellschaft erwarten darf, dass die politischen Überzeugungen und programmatischen Verbindlichkeiten, für die repräsentative Politiker ins Amt gewählt worden sind, zumindest nicht durch ihr »Privatleben« dementiert werden dürfen.

Andernfalls könnten nicht nur die Partei, in deren Namen sie antreten, sondern auch die politische Klasse als Ganze oder gar die Demokratie selbst grundlegend in Zweifel gezogen werden. Dass politische Repräsentanten mit ihrer Kandidatur für Ämter oder Mandate auch dafür eine Verantwortung übernehmen, ist in der Demokratie die unausgesprochene Voraussetzung ihres Handelns und der Unterstützung durch ihre Wähler.

Die Ausrede mit dem »Privatleben« eines Pensionärs, das doch bitte schön die Öffentlichkeit nichts angehe, ist eine brüchige Krücke. Speziell mit dem Amt des Kanzlers sind hierzulande nachwirkende Ansprüche verbunden, rechtliche und politisch-moralische. Der geringste davon ist noch der, in offiziellen Zusammenhängen lebenslänglich mit dem Kanzlertitel angeredet zu werden. Für die Unantastbarkeit der fortwirkend äußerst üppigen Ausstattung dieses »unverjährbaren« Amtes mit Personal, Diensträumen, Dienstwagen und Fahrern, geht dieser »Ex-Kanzler« ja soeben selbst mit juristischen Mitteln vor. Er sieht da eine rechtliche Verbindung, die allerdings sein Einverständnis voraussetzt, weiterhin mit der Kanzlerrolle identifiziert zu werden. Für was denn sonst der teure Aufwand?

Die Mitgliedschaft in der SPD steht auf einem anderen Blatt. Ihre Bedingungen sind teils ebenfalls rechtlicher, überwiegend aber politischer Natur. Wie auch immer man das gegenwärtige Handeln dieses Ex-Kanzlers bewerten mag, »parteischädigend« sei es jedenfalls nicht – urteilte die zuständige Schiedskommission in erster Instanz. Berufung dagegen wurde eingelegt. Nun muss man freilich einräumen, dass die SPD diesem mehr als eigenwilligen Zögling schon immer so gut wie alles hat durchgehen lassen, mehrfach bis an die Grenze der Selbstverleugnung. Seinen steilen Weg nach oben hat er ja auf jeder Station durch hemdsärmelige Profilierung gegen sie geebnet, im Kanzleramt dann notfalls mit offenen Drohungen. Er hat dabei eben gelernt, dass das ganz gut funktioniert.

Freilich hat zur langen Misere der Sozialdemokratie neben der sozialen Schieflage der Agenda 2010 und ihrer missglückten Kommunikation von oben herab auch Schröders rascher Wechsel von der Sozialdemokratie zum großen Geld einiges beigetragen. Ich selbst wurde Zeuge dieser Negativwirkung, als eine bekannte Autorin aus einer alten sozialdemokratischen Familie im persönlichen Gespräch eine Anfrage zur engeren Mitwirkung an diesem Blatt mit der Begründung ablehnte, das könne sie in ihrem jungen Freundeskreis nicht mehr vermitteln. Denn da gelte »Sozialdemokratie« inzwischen als das, was ihre führenden Personen machen, bevor sie das große Geld verdienen. So sahen es seinerzeit nicht wenige. Schröder hält das in Erinnerung.

Persönliche Glaubwürdigkeit wird immer wichtiger

Und dennoch: Natürlich ist die Vorstellung, die politischen Repräsentanten dürften nichts anderes sein als Abziehbilder der Programme, für die sie öffentlich eintreten, eine weltfremde Illusion, obwohl es immerhin in der Geschichte der Sozialdemokratie mehrere Vorsitzende (und sehr viele Mitglieder) gab, die diesem Ideal sehr nahe kamen, von August Bebel über Otto Wels, Kurt Schumacher, Erich Ollenhauer, Willy Brandt bis zu Hans-Jochen Vogel. Über eine so hohe Latte kann nicht jeder springen. Unverzichtbares Minimum für jede Person, die das öffentliche Bild dieser Partei (mit-)prägen will, ist aber – das sollte wohl Konsens sein –, dass ihr sichtbares Leben nicht in direkten Gegensatz zu ihrer politischen Botschaft gerät.

Selbstverständlich müsste es doch sein, dass nur solche Personen öffentliche Ämter im Namen ihrer Partei anstreben, deren persönliche Lebensführung, soweit sie eindeutig politische Bezüge hat, im möglichen und sinnvollen Maß bestätigt, wofür sie politisch einstehen möchten. Darum gehört das exzessive Tanzvergnügen der finnischen Regierungschefin Sanna Marin von vornherein nicht zu unserem Thema.

Persönliche Glaubwürdigkeit ist unter den Bedingungen wachsender Unübersichtlichkeit in der modernen Welt noch wichtiger geworden. Zum einen, weil die meisten Bereiche politischen Handelns kaum noch in ausreichendem Maße von den Nicht-Profis verstanden und die Auswirkungen politischen Handelns der Akteure auf deren Entwicklung bewertet werden können. Umso mehr halten sich die politischen »Laien« in ihrem Urteil über das politische Geschehen an das, was sie fast täglich sehen und daher scheinbar auch zu fassen bekommen: Die öffentlich sichtbaren Spitzenpolitiker der Parteien, ihre Erscheinung (Performance) und Berichte über sie wird zur Hauptquelle der Urteilsbildung, denn sie allein erscheint ihnen als vertrautes Terrain.

Die anscheinende Unmittelbarkeit des Auftritts der Politiker in den Massenmedien, im Falle der populärsten Spitzengruppe oft mehrfach in der Woche, vermittelt eine Art sinnliche Gewissheit des Wissens über sie und ihre Partei, eine gefühlte Vertrautheit mit den Betroffenen. Das hat drei Wirkungen: Man bleibt in Bezug auf sie dauerhaft am Ball und nimmt ihre medialen Spuren fast automatisch mit vorgeprägter Aufmerksamkeit wahr.

Das Profil und die Überzeugungskraft der Parteien, mit denen sie identifiziert werden, wird entscheidender durch sie geprägt als durch die verwirrende Fülle der Sachnachrichten. Und: Herausragende parteipolitische »Performer«, mit einer überlegenen Fähigkeit sich in Szene zu setzen, sind für »ihre« Parteien von unschätzbarem Wert (und werden oft exakt deshalb auch ausgewählt). Das Fehlen solcher Botschafter können politische Parteien kaum durch gute und populäre Programmbotschaften »kompensieren«.

Durch diese in der modernen Mediendemokratie forcierte Identifikation von Person, Programm und Glaubwürdigkeit können einzelne »schwarze Schafe« wie Armin Laschet eine Partei ins Stolpern bringen, eine stolpernde Partei aufrichten (wie Gregor Gysi fast täglich an vielen Fronten) oder mit Vertrauenswürdigkeit und Glanz aufwerten (Willy Brandt). Insofern geht der Fall Schröder weit über die Person hinaus.

Was für Freunde er hat, geht keinen etwas an, solange es sich nicht um zentrale Protagonisten der Politik in fundamentalen Konfliktfeldern mit dem Land handelt, dessen »Ex-Kanzler« er immer noch sein möchte. Was noch wichtiger ist, man kann nicht an dessen Politik mitverdienen wollen, wenn sie dem eigenen Land so offensichtlich schadet. Es reicht nicht, sozialdemokratische Politik bei offiziellen Anlässen wie ein guter Anwalt zu vertreten, zumal nicht in einer selbstbezogenen Selektivität. Ein Kanzler sollte sie schon über die Amtsgeschäfte hinaus auch in seiner Person verkörpern. Der Schaden ist sonst für alle zu groß, letztlich auch für die demokratische Ordnung.

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