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Über den demokratischen Marxisten Peter von Oertzen

»Soziale oder sozialistische Demokratie?« – so war die von Freunden 1989 herausgegebene Festschrift zu seinem 65. Geburtstag überschrieben, manchen Beiträgen entsprechend immerhin mit einem Fragezeichen versehen. Dennoch ist mit diesem Titel das Wesentliche dessen markiert, für das der geehrte Peter von Oertzen (1924–2008) bis heute steht, nämlich dass »marxistische Gesellschaftsanalyse« und »authentischer, ursprünglicher, freiheitlicher, wirklicher« Sozialismus auch nach der Verabschiedung des Godesberger Programms 1959 in der SPD möglich sind. Dafür, dass der Spannungsbogen zwischen libertär-rätedemokratischen Traditionen der Arbeiterbewegung, zwischen weitreichender sozialistischer Zukunftsperspektive und dem Realismus sozialdemokratischer Reformregierung, dem »mühsamen Schneckengang«, wie es bei Günter Grass hieß, nicht abreißt. Dafür, dass der Spagat zwischen der Reformpartei SPD und linkeren Bewegungen und Zusammenhängen (bei von Oertzen von der Zeitschrift Sozialistische Politik der 50er Jahre bis zur »Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler« der 90er Jahre) integrierend und antreibend wirken kann – und umgekehrt jede progressive gesellschaftliche Mehrheit ohne Einbeziehung der SPD undenkbar erscheint. Sowie dafür, dass der Linkssozialismus, anders als von rechter und konservativer Seite behauptet, sich als »Dritter Weg« immer auch in klarer Abgrenzung zu allen orthodox-kommunistischen und dogmatisch-leninistischen Strategien sah – wobei es höchstens im Dialog mit trotzkistischen Strömungen zu gewissen Grenzüberschreitungen, auch von Peter von Oertzen, kam.

Philipp Kufferath hat jetzt pünktlich zum Marx-Jahr eine umfangreiche »politische und intellektuelle Biografie« über von Oertzen vorgelegt, die durch akademische Genauigkeit beeindruckt und dies mit spannend zu lesenden Interpretationen verbindet. Herausgekommen ist ein facettenreiches Sachbuch, das sich nicht nur dem Lebensweg, der Selbstwahrnehmung, den wissenschaftlichen und politischen Texten, sowie der netzwerkenden Praxis dieses wichtigen »Intellektuellen, Marxisten, Sozialisten und Reformisten« (so verstand er sich selbst) widmet. Sondern, das darüber hinaus, natürlich mit von Oertzen als Kristallisationspunkt, die Zeitläufe politischer Kultur seit den 40er Jahren lebendig werden lässt, das eine Fundgrube der programmatischen und reformorientierten Entwicklung der SPD darstellt und das ein Panorama von Ideen, Diskursen und Organisationszusammenhängen der bundesrepublikanischen Linken entfaltet.

Bereits zu Beginn des Buches, wo die Zeit vor seinem Lernprozess hin zum marxistischen Sozialismus thematisiert wird, kann man anhand von Texten des jungen von Oertzen das unmittelbare Nachkriegsbewusstsein deutlich nachvollziehen, was umso bedeutender ist, da diese Lebensphase bei ach so vielen später wichtig gewordenen linken Demokraten vergessen, beschwiegen, jedenfalls im Dunkeln blieb. Diese ekelhafte Mischung aus pathetischem Nationalbewusstsein, Pflicht- und Opfermythos, Volksgemeinschaftsideologie, Reinwaschen der Wehrmacht, dem Versuch, die Ideen der Nazis zu retten und sich als unschuldig, unwissend, verführt und betrogen darzustellen, war für diese mit Adolf Hitler aufgewachsene Soldatengeneration zunächst typisch.

Doch mit sozialistischer Lektüre änderte sich dies bei von Oertzen schnell. Er war fast 60 Jahre lang (1946–2005) SPD-Mitglied und hatte bedeutende Ämter inne. Er gehörte 1973–93 dem SPD-Parteivorstand an, war von 1970–1978 Vorsitzender des Landesausschusses der SPD Niedersachsen, 1970–83 SPD-Bezirksvorsitzender in Hannover, war niedersächsischer Landtagsabgeordneter (1955–59, 1967–82) und Kultusminister (1970–74). Und er war nicht zuletzt aktiver Professor der Politischen Wissenschaften (1963–70, 1975–82), von dem Standardwerke bleiben: so seine Dissertation Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus (1953), seine Habilitation Betriebsräte in der Novemberrevolution 1918/19 (1963) oder die grundlegende Studie zu neuen Lebensstilen, Ausgrenzungen und Konfliktlinien Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel (die er 1993 zusammen mit Michael Vester, Heiko Geiling, Thomas Hermann und Dagmar Müller herausbrachte).

Als intellektueller Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Politik kümmerte sich von Oertzen vor allem um programmatische Fragen, innerhalb der SPD wie in Auseinandersetzung mit dem linken publizistischen Umfeld. Bereits dem Godesberger Programm stellte er einen – gegenüber dem Gegenentwurf von Wolfgang Abendroth aber weniger dogmatischen – sozialistischen Alternativvorschlag gegenüber. In den 60er Jahren gab er die »Arbeitshefte« für linke Sozialdemokraten und Gewerkschafter heraus. Von 1973 bis 1975 leitete er die Programmkommission der SPD, die den mittelfristigen »Orientierungsrahmen ’85« entwickelte. Danach war er führend an der SPD-Grundsatzdebatte beteiligt, die 1989 zum Berliner Programm führte, dessen Formulierungen von Oertzen mitbeeinflusst hat. Dazu passt auch, dass er in den 80er Jahren die legendäre SPD-Parteischule August Bebels neu aufbaute und ihr vorstand. Auch die Debatten zur grundlegenden Organisationsreform »SPD 2000« zur Öffnung, Demokratisierung und Professionalisierung prägte er Anfang der 90er Jahre mit. 1994 wurde er Mitherausgeber der spw – Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft. Auch das Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie war von ihm gegründet worden. 1987 hatte er ein allerdings »überdimensioniertes« (Kufferath) Konzept eines »umfassenden Kommunikationsnetzes linker wissenschaftlicher Intelligenz« vorgelegt – heraus kam immerhin ein Wissenschaftsforum, das sich um Forschungs- und Hochschulpolitik, um kritische Wissenschaftsdiskurse, um Techniker und Naturwissenschaftler sowie besonders um den Umbau der DDR-Wissenschaftslandschaft kümmerte.

Seine ständige aktive Einflussnahme als Stratege, Netzwerker und Initiator zeigte sich u. a. in seinen regelmäßigen, schier unüberschaubar vielen, Buchbeiträgen und Zeitschriftenartikeln.

Kufferath bilanziert: Er »nutzte sein analytisches Denkvermögen vornehmlich, um Wahlergebnisse und Meinungsumfragen auszuwerten, das Verhältnis von Reform und Revolution, Wissenschaft und Politik sowie Dimensionen von Rechts- und Wohlfahrtsstaat, Demokratie, Mitbestimmung und Sozialismus auszuloten sowie programmatische Grundsatzpositionen und konkrete Konstellationen der verschiedensten Strömungen der Linken zu beschreiben«.

Peter von Oertzen vertrat seine sozialistische Identität, auch in der bewussten Nachfolge von Rosa Luxemburg, lebenslang ohne große Brüche. Er wollte die Gesellschaftsanalyse von Karl Marx für die SPD nutzbar machen und der SPD im marxistischen Vokabular linksreformistische Vorstellungen und antikapitalistische Perspektiven aufzeigen (sein später Parteiaustritt, aus situativem Protest gegen die Agenda 2010, ändert daran nichts). Einer seiner wissenschaftlichen und politischen Bezugspunkte blieb die Rätedemokratie bzw. die Arbeiterselbstverwaltung als Erweiterung demokratischer Prinzipien auf das Gebiet der Wirtschaft. Sein Sozialismusbegriff hatte durchaus noch mit Wirtschaftskontrolle, Vergesellschaftung, basisdemokratischer gesellschaftlicher Planung und Systemüberwindung zu tun, mit dem Ziel der Aktivierung politischer Mehrheiten für eine andere, bessere Ordnung, wobei für ihn Demokratie und Freiheit jedes Einzelnen unumstößliche Werte darstellten.

Über einen solchen intellektuellen Linkssozialismus mag unterschiedlich geurteilt werden: Einerseits ist die SPD gerade deshalb mehr als eine beliebige linksliberale Partei, weil in ihr bis heute beides zu finden ist, pragmatischer Gestaltungswillen und wegweisendes Über-den-Tag-hinaus-Denken. Klar ist die SPD für erfahrbare und schrittweise praktische soziale Verbesserungen zuständig, doch auch für utopischen Überschuss, antikapitalistische Systemkritik und die Sehnsucht nach einer neuen Gesellschaft gleicher Freiheit sollte sie ein offenes Ohr haben. Die besondere Aura der SPD, für die auch Vordenker wie von Oertzen »zuständig« waren, hat genau hiermit zu tun, denn die Vision einer besseren Zukunftsgesellschaft kann Bindung erzeugen, kann Gemeinschaft bilden, was die 20-%-SPD im Übrigen derzeit bitter nötig hätte. Zumindest wäre es höchst unklug, solange linkssozialistische Positionen im akademischen Milieu Anziehungskraft entfalten, diese der Linkspartei zu überlassen.

Andererseits bleibt die Schwierigkeit, dass das Festhalten an einem »eigentlichen« und »wissenschaftlichen« Begriff von Sozialismus und die Praxis des loyalen Mitwirkens an pragmatischer sozialdemokratischer Reformpolitik gewissermaßen nebeneinanderstehen. Auch die zu enge Textgläubigkeit marxscher Schriften und eine säkularisierte Heilserwartung, die immer unrealistischer wird und in weitere Ferne rückt, kann zum Ballast werden. So kann man auch das skeptische Urteil Kufferaths über von Oertzen verstehen: »Der von ihm formulierte intellektuelle Anspruch, sozialistische und antikapitalistische Prinzipien, wissenschaftliche Erkenntnisse, eine pragmatische Reformperspektive und demokratisch-partizipative Strukturen als Bestandteile einer politischen Gesamtstrategie zu begreifen und deren unveräußerlichen Zusammenhang immer wieder geduldig in alle Richtungen auszuverhandeln, dürfte eine außergewöhnlich ambitionierte Identitätskonstruktion sein, die Spannungen und Widersprüche garantiert und kaum über einen längeren Zeitraum zu bewältigen ist.«

Dennoch lohnt die erneute Beschäftigung besonders mit Peter von Oertzens kapitalismuskritischen Beiträgen, denn gerade in der Globalisierung ist die marxsche Erkenntnis von neuer Relevanz, dass die Destruktionskräfte des reinen Kapitalismus umso verheerender wirken, desto reiner die Kapitallogik herrscht. Wie Reformperspektiven weltweit wiedergewonnen werden können, wie der Kapitalverwertung die Logik der sozialen Einsicht und Vorsicht, der kulturellen und demokratischen Einbindung wieder erfolgreicher entgegengesetzt werden kann, darum geht es. Ob man das schließlich Soziale Demokratie oder demokratischen Sozialismus nennt, mag dann zweitrangig sein – nur von sozialistischer Demokratie, dem Legitimationsbegriff der kommunistischen Herrschaft, sollte man nun wirklich die Finger lassen.

Philipp Kufferath: Peter von Oertzen (1924–2008). Eine politische und intellektuelle Biografie. Wallstein, Göttingen 2017, 797 S., 49,90 €.

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