Lieber Alexander,
ich kenne Deine Abneigung gegen Geburtstagsfeiern. Ich glaube, Du nimmst den satirischen Satz George Bernhard Shaws sehr ernst: »Nur Narren feiern, dass sie älter werden.« Ich fühle mich diesen Narren zugehörig. Wenn es schon nicht ums Feiern geht, so wirst Du einem alten Weggefährten doch erlauben, einige Worte gegen die verstreichende Zeit niederzuschreiben und Dir auf den Schreibtisch zu legen, ganz nebenbei und ohne Aufwand.
Es ist auffällig, dass in Deinen jüngsten Büchern, auch dort, wo der Name nicht fällt, Immanuel Kants Geist des moralischen Haderns mit der Wirklichkeit einen bestimmenden Raum einnimmt. Wenn ich zurückdenke und die fast 40 Jahre kooperativer Begriffsarbeit überprüfe, dann mag diese Wahrnehmung nichts Erstaunliches an sich haben; immer haben wir, wenn wir zusammen saßen und eigene Texte verfassten, unsere Gedanken daran überprüft, wie weit sie die überlieferungswürdigen politischen Moralia des europäischen Denkens zum Ausdruck bringen. Gemeinsam haben wir immer bei den großen Philosophen nachgeblättert, ob sie vielleicht bessere Antworten auf unsere Probleme haben als die, die gegenwärtig im Umlauf sind oder die wir selbst anbieten können: über Wahrheit und Lüge, über Würde und Erniedrigung.
Kant hat, neben Aristoteles, Karl Marx und Sigmund Freud stets zum lebendigen Traditionsbestand unserer philosophischen Arbeit gehört. Gleichwohl nimmt Kant in diesem Zusammenhang eine Sonderstellung ein. Eingebunden in Dialoge und Kurzgeschichten, übersetzt Du die philosophischen Theoreme Kants in Alltagserfahrungen von Menschen, die in Not sind oder an Strategien der Auswege basteln. Das mag es wohl sein, was an der Persönlichkeit Kants, nicht nur seiner scharfkantigen Philosophie, auf Dich eine besondere Faszination ausübt: Ihr seid euch ähnlich. Ihr seid Bastler, Theorie-Bastler, Handwerker im Umgang mit Lebensgeschichten und Theorien. Es sind Bauelemente und Rohstoffe der Gefühle ebenso wie der Gedanken, womit Du und Dein großer Lehrmeister hantieren. Niemand darf erwarten, dass ihm die Texte in sich stimmig und abschlusshaft mit Lebensempfehlungen präsentiert werden. Alles ist offen, der Leser oder der Zuschauer muss viel Energie aufwenden, den Horizont seines eigenen Lebenszusammenhangs und seiner eigentümlichen Erfahrungswelt, autonom und möglichst ohne Anleitung eines anderen zu einem Ganzen zusammenzusetzen.
In einem wenig beachteten Kapitel der Kritik der reinen Vernunft, der transzendentalen Methodenlehre, skizziert Kant den Sinngehalt und Zweck seiner Kritik. Metaphysik sei die Vollendung aller Kultur der menschlichen Vernunft. Die Hauptarbeit philosophischer Reflexion besteht jedoch nicht darin, auf bestimmte Ziele hinzuarbeiten und Zwecke zu realisieren; die primäre und alles übrige bestimmende Arbeit besteht vielmehr darin, eine Art Architektur der sicheren Fundamente zu entwickeln. Es heißt am Ende der Kritik der reinen Vernunft: »Daß sie (gemeint ist die Metaphysik), als bloße Spekulation, mehr dazu dient, Irrtümer abzuhalten, als Erkenntnis zu erweitern, tut ihrem Werte keinen Abbruch, sondern gibt ihr vielmehr Würde und Ansehen durch das Zensoramt, welches die allgemeine Ordnung und Eintracht, ja den Wohlstand des wissenschaftlichen gemeinen Wesens sichert, dessen mutige und fruchtbare Bearbeitungen abhält, sich nicht von dem Hauptzwecke, der allgemeinen Glückseligkeit, zu entfernen.« Beseitigung der Irrtümer stellt die Basis für eine Lebensgestaltung her, die ein friedensfähiges Gemeinwesen sichert und dadurch der individuellen Würde dient. Deshalb trifft Kant auch die scharfe Unterscheidung zwischen Skeptikern und Kritikern, auf dem Wege der Aufklärung. Die Skeptiker sind eine Art Nomaden, »die allen beständigen Anbau des Bodens verabscheuen«, wie es in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft heißt. Krieg beginnt im Denken; und die Friedensfähigkeit des Denkens ist erst dann gesichert, wenn die Bausteine unserer Lebenswelten richtig zusammengesetzt sind und so eine vernünftige Architektonik ermöglichen.
Um die Friedensfähigkeit eines menschlichen Gemeinwesens geht es in Deinen Geschichten durchgängig; und es ist offensichtlich kaum zufällig, dass Deine literarische Lebensgeschichte mit einer Katastrophe einsetzt, mit einem als Roman verschlüsselten Tatsachentext, der die ganze Armseligkeit und Verlogenheit eines Krieges dokumentiert, in dem es nur Alltagshelden des Überlebens gibt. Aus der großformatigen »Schlachtbeschreibung« werden die zahllosen Schlachtbeschreibungen der Einzelgeschichten. Sie enthalten eine zentrale Botschaft: Die Breitseite der Gewalt produziert, wie der Geschichtsphilosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel sehr wohl erkannte, absolut nichts, was aufbewahrungswürdig wäre. Was Deine Geschichte in diesem Zusammenhang offenbart, ist jedoch ein Kältestrom, der immer wieder, so als gehörte es zum menschlichen Leben, lebendige Beziehungsarbeit, Glück und Wohlstand der Subjekte und des Gemeinwesens hervortreibt. Auch hier erscheint noch einmal Hegel, dessen dialektischen Geist viele Deiner Geschichten atmen: Geschichte sei nicht der Boden des Glücks, sondern eher einer Schlachtbank vergleichbar, auf der das Glück der Völker geopfert werde. Zwar scheint die List der Vernunft aus diesem mörderischen Geschehen etwas an fortschreitendem Freiheitsbewusstsein herauszutreiben, aber die Kälte der menschlichen Beziehungen, die in alle Poren der Gesellschaft einzudringen droht, sobald die Menschen auf Beziehungsarbeit verzichten, ist allgegenwärtige Grundlage Deiner literarisch-philosophischen Produktion. Dass Theodor W. Adorno Dich aufgefordert hat, einen Film über Kälte zu machen, mag durch die Schlachtbeschreibung und die Lebensläufe angestoßen sein.
Als ich die Schlachtbeschreibung, dieses großartige Werk über den »Organisationsaufbau eines kollektiven Unglücks«, zum ersten Mal gelesen habe, war ich erschüttert über den Verfall menschlicher Kultur, und es war, Mitte der 60er Jahre, zum ersten Mal ein Stück Nachkriegsliteratur, das mich zum Nachdenken über das eigene Überleben anregte. Plötzlich war das Königsberg des eisigen Winters wieder in meinem Kopf. Eiswüsten der Abstraktion hatte ich schon mehrere durchschritten; ich wusste viel über Stalingrad, aber das Stalingrad, das ich selbst erlitten hatte, acht Wochen im eingekesselten Königsberg unter Dauerbeschuss auf diese zur Festungsstadt deklarierte total zerstörte Stadtruine – erst Deine Schlachtbeschreibung gab etwas von den Gefühlen frei, die ich verdrängt hatte und die mit dem Nachdenken verknüpft waren, dass es auch anders hätte kommen können; jede einzelne Formulierung Deiner Schlachtbeschreibung konnte ich nachempfinden, zum Beispiel die Differenzierung der Schneearten, die in der Fantasie derjenigen eine Rolle spielte, die Fluchtfahrzeuge organisiert hatten, um auf Nebenpfaden, die unmöglich in den Lagekarten der Roten Armee verzeichnet sein konnten, den immer fester geschlossenen Ring zu durchbrechen.
So wurde jeder fahrbare Karren, jeder Schlitten oder jedes Militärfahrzeug, das sich noch von der Stelle bewegen konnte, zu einem heiß begehrten Fluchtfahrzeug. Die Temperaturen im Stalingradkessel im Winter 1942/43 werden ähnlich niedrig gewesen sein wie in Königsberg im Januar/Februar 1945; alles, was man anfasste, strahlte klirrende Kälte aus. Meine zwei älteren Schwestern, die eine 17 Jahre alt, die andere 15, suchten in diesen schneevereisten Ruinen Königsbergs jene Wege zu ihren jeweiligen Schulen, die sie unter normalen Bedingungen schnell gefunden hätten. Als offiziell registrierte elternlose Kinder hätten wir auch leicht in Kirchen und Hochbunkern Unterkunft finden können.
Wir irrten jedoch, mit Koffern bepackt und polarmäßig gekleidet, in dieser durch Bomben und Artillerie unkenntlich gemachten Stadtlandschaft herum. Wir waren glücklich, dass ein vorbeifahrender Schlitten mit Anhänger plötzlich hielt. Der freundliche Fahrer, der unsere Not erkannte, forderte uns auf, uns auf dem hinteren Schlitten niederzulassen. Es ist merkwürdig, wie verschieden Glückserlebnisse ausfallen können; wir saßen eng und unbequem, trotzdem hatten wir das Gefühl, im Schutzraum einer guten Stube zu sitzen. Das währte jedoch nicht lange, denn nach einer kurzen Wegstrecke spürte eine meiner Schwestern einen Gegenstand in ihrem Rücken, den sie als Hand eines vereisten Toten identifizierte. Wir saßen auf Leichen; es entspann sich zwischen uns eine heftige Diskussion, einige dieser Leichen so umzulagern, dass wir bequem sitzen konnten, oder aber abzuspringen. Ich habe lautstark dafür plädiert, in diesem Schneetreiben, das uns jede Sicht nahm, auf dem Schlitten zu bleiben und die Leichen zu sortieren, dass wir Halt fanden.
Das Versprechen des Schlittenführers, getarnt als Leichenwagen, die russischen Linien durchqueren zu können, hatte sich bald als Irrtum erwiesen; der russische Ring um Königsberg war so fest geschlossen, dass nur noch eine Kreisbewegung möglich war; die Fluchtfahrzeuge kehrten in der Regel an ihren Anfangspunkt zurück. Du warst nicht in Stalingrad; Du hättest dort sein können, wenn Du zwei oder drei Jahre älter gewesen wärst. Umso eindrucksvoller ist es, wie Du in der Schlachtbeschreibung Gefühle und Situationen erfasst und sprachlich zum Ausdruck bringst, wie sie in dieser Intensität und Begriffschärfe eigentlich nur aus realer Erlebniszeit gewonnen werden können.
Ich selbst, damals zehneinhalbjährig, trug die Militäruniform einer Flakkompanie, da meine beiden Schwestern als Küchenpersonal dieses militärischen Notverbandes gebraucht wurden, konnte man den jüngeren Bruder nicht anders integrieren, als dass man ihn mit militärischen Insignien ausstattete. Diese viel zu große Uniform trug ich übrigens bis in die Nachkriegszeit hinein; sie war von bestem Stoff und ließ sich leicht verkleinern.
Krieg ist eine der schlimmsten Formen der Entwürdigung des Menschen. In entscheidenden Punkten der Weltbeurteilung treffen sich die Gedanken Kants mit Deinen Erzählungen; man könnte Dich einen literarischen Kantianer nennen. Kant ironisiert die »leidigen Tröster«, die sich um Hiob sammeln und die Verhältnisse abmildern, die ihn ins Unglück gestürzt haben. Es ist von der Kälte auszugehen. Der Wärmestrom ist dem Kältestrom abgerungen und der Krieg scheint, wie Kant beharrlich festhält, auf die menschliche Natur getropft zu sein. Dass Kant die Ehe systematisch dem auf dingliche Art persönlichen Recht zuordnet, nimmt diese Auffassung der Ehebeziehung nicht die Kälte des Sachenrechts. Ehe ist »die Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Gebrauch ihrer Geschlechtseigenschaften« (Metaphysik der Sitten). Das sind Kälteformulierungen, wie man sie auch in Deinen Erzählungen finden könnte.
Damit hat es aber nicht sein Bewenden. Die praktische Lebensenergie ist unentwegt damit beschäftigt, lebendige Arbeitskraft auf das Suchen und das Finden von Auswegen zu konzentrieren, die Glückserfahrung ermöglichen. Das macht ja die Erzählungen so realitätshaltig, die Du in einer offenen Folge anbietest – ob es nun »350 neue Geschichten« oder »166 Liebesgeschichten« sind. Liebe ist das absolute Gegenprinzip zur Gewalt. Insofern ist der Spannungsbogen Deines reichhaltigen Werkes durch zwei Eckpfeiler bestimmt, die eine Bewegungsrichtung anzeigen, die man als eine Dialektik von weicher und harter Materie bezeichnen könnte. Die Schlachtbeschreibung und Das Labyrinth der zärtlichen Kraft definieren jene Strukturgesetze, ob es nun die der Liebe oder die des Krieges sind – Strukturgesetze, die vielfach bebildert und unendlich variantenreich dargeboten werden. Wie sich die Bausteine Deines Hausbaus der Vernunft zusammensetzen, ist nicht eine Frage objektiver Kriterien, sondern hängt vom Lebensbezug des Lesers und der Leserin ab, die die Bauelemente und den gebotenen Fantasierohstoff in die eigene Lebenswelt übersetzen müssen. Dein Hausbau der Vernunft soll nicht zur Nachahmung verleiten, sondern zum Selbstdenken und zur Erweiterung der autonomen Selbstgesetzgebung anregen, die Grundlage für ein friedensfähiges Gemeinwesen und für individuelle Glückserfahrung ist.
Dir alles Gute!
Oskar
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