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© picture alliance/dpa | Hauke-Christian Dittrich

Auf der Suche nach einem optimalen Wahlsystem Über den Tellerrand schauen

Der größte Bundestag aller Zeiten ist gewählt. Gleichzeitig ist die Debatte zur Reform des Bundestagswahlrechts festgefahren. Das scheint der richtige Zeitpunkt zu sein, um die Frage aufzuwerfen, warum wir eigentlich nicht mal über den Tellerrand blicken. Die Schweiz, Irland, alle skandinavischen Länder und Österreich sowie viele neue Demokratien machen es vor: Man kann ein Persönlichkeitswahlrecht mit einer strikten Proportionalität verbinden, ohne dass Überhangmandate entstehen und darüber hinaus den Wähler*innen die Chance geben, ihre Präferenz-Kandidat*innen persönlich zu wählen.

Immer wieder wird von konservativen Experten das Wahlsystem in Großbritannien und den USA gelobt. Dort wählen die Bürger*innen »ihren« örtlichen Abgeordneten. So gibt es einen persönlichen Bezug. Und wenn sich Abgeordnete durch Stimmverhalten oder durch persönliche Verfehlungen unbeliebt machen, bekommen sie bei der nächsten Wahl persönlich die Konsequenz zu spüren: Sie werden nicht wiedergewählt oder erst gar nicht aufgestellt.

Trotzdem werden fast immer Vertreter*innen von Parteien gewählt. Warum? Nun – die Wähler*innen wollen zwar Personen wählen, die sie kennen. Sie wollen aber auch wissen, welches Programm diese Abgeordneten vertreten und wofür sie gegebenenfalls stimmen werden. In den USA hat das dazu geführt, dass es seit Langem nur zwei Parteien im Parlament gibt – Kandidat*innen von kleinen Parteien oder Minderheiten haben keine Chance. In Großbritannien gibt es zwar mehr Parteien im Parlament, aber dafür gehen noch viel mehr Stimmen verloren. Wenn ein Wahlkreis mit nur 25 Prozent der Stimmen gewonnen wird, was nicht selten vorkommt, dann sind alle anderen Stimmen verloren – »the winner takes it all«. Dadurch sind kleine Parteien auch in England extrem unterrepräsentiert.

Diese Vernachlässigung der Minderheiten stellt für die Akzeptanz der Demokratie ein ernstes Problem dar. Nicht umsonst betonen Vordenker der Demokratie den Schutz und die Berücksichtigung der Minderheiten. Ein gutes Wahlsystem sollte Minderheiten also zumindest eine faire Chance geben, wie es beim Versuch einiger Staaten der Fall war, die eine Verhältniswahl eingeführt haben. Denn dort sind alle Parteien entsprechend ihrer Stimmenzahl proportional im Parlament vertreten.

Aber eine reine Verhältniswahl hat auch erhebliche Nachteile. Es gibt keine Personenwahl mehr und damit keinen persönlichen Bezug zwischen Wähler*innen und Gewählten. Es werden nur noch Parteien gewählt und da nun viele kleine Parteien ins Parlament kommen, haben diese ein großes Erpressungspotenzial, denn sie können dadurch die Berücksichtigung ihrer Sonderwünsche erzwingen – ein typisches Beispiel dafür ist die Situation in Israel.

Deshalb wurde in vielen Staaten eine Sperrklausel eingeführt. Dort braucht man mindestens 5 Prozent (wie in Deutschland) oder sogar 10 Prozent (Türkei), um ins Parlament zu kommen. Das zwingt Minderheiten, die nicht auf die erforderliche Stimmenzahl kommen, mit anderen Minderheiten zusammenzuarbeiten und erleichtert die Mehrheitsbildung im Parlament.

Der faule Kompromiss?

Das deutsche Wahlsystem wurde als Kompromiss konzipiert: Das drückt sich in der Bezeichnung »personalisierte Verhältniswahl« aus. In der Theorie sollte es dafür sorgen, dass ein Teil des Parlamentes aus direkt gewählten Abgeordneten besteht, die ihren Wahlkreis vertreten. Die andere Hälfte besteht aus von den Parteien auf ihrer Liste aufgestellten Kandidatinnen und Kandidaten.

Praktisch funktioniert dieses System aber nicht so wie gedacht. Da die kleinen Parteien kaum Direktmandate gewinnen können, spielt für sie nur der Listenplatz eine Rolle. Das bewirkt, dass die Parteiversammlungen allein bestimmen, wer ins Parlament kommt. Daher wählen viele Bürger*innen taktisch und kreuzen mit der Erststimme einen Kandidaten/eine Kandidatin von CDU oder SPD an – auch wenn sie die oder den nicht so toll finden. Mit Personenwahl hat das wenig zu tun.

Bei den großen Parteien dominieren dagegen die Direktmandate. Das hat dazu geführt, dass die großen Parteien dazu übergegangen sind, nur noch Direktkandidat*innen einen Listenplatz zu geben. So wird auch hier die Wahlmöglichkeit der Wähler*innen weitgehend ausgeschaltet.

Was also ist zu tun? Gibt es eine Alternative? Gesucht wird offensichtlich eine eierlegende Wollmilchsau: Ein Wahlsystem, bei dem Personen gewählt werden und doch Minderheiten angemessen repräsentiert werden. Also eine Personenwahl mit Verhältnisausgleich.

Wie könnte ein solches System aussehen? Hierzu lohnt sich ein Blick ins südliche Nachbarland. Bis 1919 gab es auch in der Schweiz das Mehrheitswahlsystem wie in Großbritannien. Deshalb waren im Parlament überwiegend die bürgerlichen Freisinnigen vertreten. Dann wurde in einem Volksentscheid eine Verhältniswahl durchgesetzt – aber eben nicht für die gesamte Schweiz, sondern für jeden Kanton. Außerdem können Stimmen für die einzelnen Kandidat*innen abgegeben werden und Kandidat*innen, die auf der Liste stehen, gestrichen werden.

Im Ergebnis entstand ein Wahlsystem mit einer ganzen Reihe von Neuigkeiten: Jeder Kanton wählte »seine« Abgeordneten. Es handelt sich also wie in Großbritannien um eine Persönlichkeitswahl. Da aber fast alle Kantone mehrere Abgeordnete wählen, sind mehr oder weniger alle Parteien entsprechend ihrer Stärke im Parlament vertreten.

Neu »erfunden« wurde auch, dass man mehrere Stimmen für die Kandidat*innen seiner Partei abgeben konnte. Damit konnte man innerhalb der Kandidaten der Partei, die man bevorzugt, einzelne Kandidat*innen auswählen, zu denen man besonders viel Vertrauen hat. Dieses Schweizer Wahlsystem schuf also eine Persönlichkeitswahl, bei der im Unterschied zu dem System in Großbritannien jede Stimme zählt. Man hat zwischen den Kandidat*innen der eigenen Partei eine Auswahl oder wählt sogar Kandidat*innen mehrerer Parteien!

Es ist also kein Wunder, dass solche Wahlsysteme, bei denen jeweils mehrere Abgeordnete in einem Wahlkreis gewählt werden »Mehrpersonenwahlkreisen«, zunehmend beliebt geworden sind. Unter den 15 Staaten, die im Demokratie-Index der Zeitschrift Economist am besten abschneiden, haben mittlerweile die Hälfte ein solches Wahlsystem: Irland, Dänemark, Norwegen, Island, Österreich, Finnland, Schweden und die Schweiz. Weltweit wurde dieses System mittlerweile zu einem der meist verbreiteten: Über 70 Staaten wählen ihre Abgeordneten überwiegend in Mehrpersonenwahlkreisen.

Ein Nachteil dieses Systems bestand darin, dass die Chancen für kleine Parteien oder gar Einzelbewerber*innen sehr ungleich sind, wenn die Wahlkreise unterschiedlich groß sind. So brauchte eine Partei in Zürich bei der Kantonswahl in dem einen Wahlkreis nur fünf Prozent der Stimmen um einen Sitz zu bekommen, in einem anderen Wahlkreis aber ein Drittel. Bei der Wahl zum Nationalrat in der Schweiz gibt es Kantone, die sogar nur einen Abgeordneten wählen.

Pukelsheim oder der Doppelproporz

Aber auch dafür wurde mittlerweile eine Lösung gefunden. Wieder mal war der Schweizer Kanton Zürich Vorreiter. Nachdem ihr bisheriges Wahlsystem auf eine Klage der Schweizer Grünen hin für verfassungswidrig erklärt worden war, beauftragten die Abgeordneten einen der führenden Wahlrechtsforscher, den Augsburger Professor Friedrich Pukelsheim, damit, ein optimales Verfahren zu finden. Es sollte die Sitze proportional der Stimmenzahl auf die Wahlkreise verteilen, aber zugleich sollten alle Parteien genau proportional zur Zahl ihrer Sitze im Parlament vertreten sein. Sein Vorschlag: Die »Doppeltproportionale Divisormethode mit Standardrundung«. Da den Stadtvätern bzw. -müttern das zu unaussprechlich war, nannten sie das Verfahren einfach den »Doppelten Pukelsheim« oder den »Doppelproporz«. Mittlerweile haben sechs weitere Kantone dieses System eingeführt.

Wichtig bleibt festzuhalten, dass unser Wunsch nach einem optimalen System in Erfüllung gegangen ist und praktisch funktioniert: Es gibt ein Wahlsystem, das eine echte Personenwahl mit maximalem Einfluss der Wähler*innen auf die Auswahl der Kandidat*innen in ihrem Wahlkreis ermöglicht, das es trotzdem möglich macht, dass die Parteien im Parlament entsprechend ihrer Stimmenzahl proportional vertreten sind. Jeder Bürger und jede Bürgerin hat mehrere Stimmen und kann, so sie oder er will, die Kandidat*innen ihrer Wahl wählen. Und doch sind relevante Minderheiten oder Auffassungen angemessen im Parlament vertreten.

In Deutschland spricht noch ein weiterer Gesichtspunkt für dieses System: Seit Jahren wird die wachsende Zahl der Überhangmandate kritisiert. Seit 2021 besteht der Bundestag aus 736 Abgeordneten, obwohl es nur 598 geben sollte. Das sind fast ein Fünftel mehr, als von der Verfassung vorgesehen sind. Auch dafür wäre das »Pukelsheim-System« eine gute Lösung. Denn es gibt automatisch keine Überhangmandate mehr.

Für eine gute Demokratie sollten wir auch das bestmögliche Wahlsystem benutzen. Und den Egoismus, mit dem sich die Parteien immer wieder an ein gegebenes Verfahren klammern, müssen wir überwinden. Denn ein gutes Wahlsystem wäre ein wichtiger Beitrag für die Demokratie in Deutschland und könnte dazu beitragen, das Vertrauen in die Demokratie zu stärken. Der Dramatiker George Bernard Shaw hat einmal gesagt: »Demokratie ist die Wahl durch die beschränkte Mehrheit anstelle der Ernennung durch die bestechliche Minderheit«.

(Weitere Informationen unter: www.mehr-demokratie.de/themen/wahlrecht/wahlrecht-12816)

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