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Über den Verfall der öffentlichen Vernunft

»Postfaktisch« – das Wort des Jahres 2016 wirft seinen Schatten auf unsere verunsicherte Gegenwart. Für viele ist es das Schlüsselwort unserer Epoche: Wir leben, lesen und hören wir allenthalben, in »postfaktischen« Zeiten. Aber was heißt das eigentlich? Gilt auf einmal die harte Realität, die nüchterne Anerkennung der Tatsachen, nichts mehr? Ist uns die Wahrheit schnuppe, zählt immer und überall nur noch die Meinung, das Bauchgefühl? Und wurde im guten alten Zeitalter des bürgerlichen Anstands und der angeblich so reibungslos funktionierenden parlamentarischen Demokratie, das nun leider zu Ende geht, immer nur um die Wahrheit, die ganze und reine Wahrheit gerungen? Gilt nicht auch in unserer parlamentarischen Demokratie seit eh und je der Grundsatz »Mehrheit ist Mehrheit«, egal, ob sie mit hieb- und stichfesten Argumenten oder mit Halbwahrheiten und Meinungsmache erzielt wurde?

Wer heute wie vor 156 Jahren Ferdinand Lassalle behauptet, »Alle große politische Action besteht im Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit«, der muss damit rechnen, dass er von politischen Insidern und professionellen Politikauguren als Dilettant und Traumtänzer belächelt wird. Haben nicht alle Parteien in einem politischen Konflikt oft ihre je eigenen Fakten, die zu möglichst schlüssigen Erzählungen zusammengefasst oft die mühsame Begründung der eigenen Politik erübrigen sollen? Und ist nicht Medienpräsenz für den Erfolg eines Politikers seit Langem allemal wichtiger als Sachkompetenz?

Was ist eigentlich ein Faktum, eine Tatsache? Es gibt Tatsachen, die man nicht leugnen kann, wie die Glastür, an der man sich den Kopf blutig stößt, obwohl man sie (oder besser: weil man sie) nicht gesehen hat, oder wie das Fluorid im Trinkwasser oder das Kohlenmonoxid in der Luft, das man weder sehen noch riechen noch schmecken kann und das trotzdem schädlich, zuweilen sogar tödlich ist. Und es gibt den durch die Übereinstimmung nahezu aller ernsthaften Wissenschaftler bestätigten Befund, dass die Menschheit drauf und dran ist, durch ihre falsche Produktions- und Lebensweise einen katastrophalen »Erdsystemwandel« zu erzeugen, der nur durch eine entschlossene ökologische Wende noch abgewehrt werden kann. In diesem Punkt kann sich das störrische Verleugnen des Faktischen durch Personen wie Donald Trump als lebensgefährlich für die Menschheit erweisen. Dennoch, nicht von ungefähr heißt das lateinische factum dem Wortsinn nach »das Gemachte«, Fakten sind also nicht einfach da, existieren nicht völlig für sich. Sie existieren in einem Kontinuum von Wirklichem, und werden erst durch unser Zutun, durch Abstraktion und argumentative Bearbeitung, zu Tatsachen.

Die Fakten, die unserem gemeinschaftlichen Weltverständnis zugrunde liegen, auch die, die in der demokratischen Willensbildung trotz aller Tendenz zur Inszenierung heute immer noch eine wichtige Rolle spielen, werden in einem Verständigungsprozess etabliert, bei dem alle Beteiligten idealerweise eigene oder glaubhaft vermittelte Erfahrung zu Rate ziehen. Erfahrung, nicht flüchtige Eindrücke, Wünsche und Gefühle. In unserer modernen Gesellschaft greifen wir, um diese Objektivität zu erreichen, immer öfter auf die Ergebnisse der Wissenschaft zurück, weil komplexe Sachverhalte oft nicht mit dem gesunden Menschenverstand allein erfasst werden können. Allerdings, auch die Ergebnisse der Wissenschaft sind keine unverrückbaren Wahrheiten, sie können bezweifelt werden, werden nicht selten eine Zeit lang allgemein akzeptiert und dann durch neuere Erkenntnisse modifiziert, in Frage gestellt oder widerlegt. Auch quantifizierte Fakten, auch mit vielen Zahlen gespickte Umfragen und Statistiken, können, wie wir mittlerweile aus Erfahrung wissen, täuschen, und auch sie eignen sich zur Manipulation. Einige der strahlendsten Lügengebäude wurden und werden auf dem Fundament solcher quantifizierter Fakten errichtet.

Öffentliche Vernunft ist aber mehr als kalte, rechenhafte Rationalität. Wenn Verständigung über das Faktische gelingen soll, müssen sich die Teilnehmer am Verständigungsprozess auch verständigungsorientiert verhalten, d. h. sie müssen den anderen als vernünftigen Partner akzeptieren, seine Argumente als Beitrag zur gemeinsamen Wahrheitsfindung achten, ihm ein Mindestmaß an Empathie entgegenbringen, weil sonst der Austausch von Erfahrungen und Argumenten nicht gelingen kann. Die Etablierung von Fakten ist also ein höchst voraussetzungsreicher Prozess, in dem »objektive« und »subjektive« Faktoren eine tragende Rolle spielen.

Auch wenn man aus guten Gründen dem radikalen Konstruktivismus nicht folgen will, so ist doch zu beachten, worauf Rolf Arnold in seinem Buch Ach, die Fakten! Wider den Aufstand des schwachen Denkens hinweist, dass »sobald wir es mit komplexeren Sachverhalten zu tun haben, die sich uns nicht mit der physischen Eindeutigkeit des Augenscheins mitteilen, die Tatsachen strittig (werden), da sie erst in der Deutung der emotionalen Positionierung sowie in der Interpretation und im Diskurs ihre im konkreten Fall eigentlich tragende Bedeutung und faktische Wirksamkeit zu zeigen vermögen.« Allerdings wäre es ein Rückfall in Obskurantismus, wenn man die »durch evidenzbasierte Forschungen und vernünftiges Denken erkannten und erprobten Wirkungszusammenhänge« ignorierte »und zur Beschwörung magischer Bilder oder zu bloßen Annahmen und zur Meinung« zurückkehrte.

Das Problem, das wir heute mit dem Begriff postfaktisch zu fassen suchen, hat nur zum Teil seinen Grund darin, dass manche Menschen zu faul, zu blind oder zu dumm sind, um zu begreifen, was sie doch bei einiger Anstrengung begreifen könnten. Auch haben wir keinen Grund anzunehmen, dass heute im Alltagsleben und in der Politik mehr gelogen und getäuscht wird als früher. Viel wichtiger ist, dass viele Menschen an dem gesellschaftlichen Verständigungsprozess, der die gemeinsame Faktengrundlage für unser Weltverständnis und für den zivilisierten Streit in der Demokratie erst schafft, von vornherein nicht beteiligt sind, sich davon ausgeschlossen fühlen oder sich ihm bewusst verweigern. Heute sind es vor allem die sich vertiefenden sozialen und kulturellen Spaltungen der Gesellschaft und die von den Gegnern der Demokratie bewusst betriebene Verfeindung, die das empfindliche Geflecht von Überzeugungen und Dispositionen zu zerstören drohen, ohne die Demokratien nicht funktionieren können.

Susan Neiman hat in ihrem Essay Widerstand der Vernunft diesen Prozess für ihr Heimatland USA skizziert. Im Siegeszug des Neoliberalismus sieht sie, ähnlich wie Wendy Brown, den Hauptgrund für den Verfall der Demokratie. »Der Neoliberalismus«, so Neiman, »verbreitet die Idee – ohne sie explizit zu vertreten –, dass echte Werte Marktwerte sind«. Die Evolutionsbiologie schlage in dieselbe Kerbe, indem sie alle Handlungsmotive auf den Willen zur Verbreitung der eigenen »egoistischen« Gene reduziere. »Gemeinsam haben beide Disziplinen die Annahme, dass Wahrheitsansprüche immer Machtansprüche sind. Wenn es überhaupt Fakten gibt, sind es Fakten über Dominanz.« Auch in Teilen der postmodernen Philosophie, vor allem bei Michel Foucault, erkennt sie eine Mitschuld an der Zerstörung der Grundlagen der Demokratie, weil hier allzu leichtfertig und pauschal Moral-, vor allem Wahrheitsansprüche als Machtansprüche denunziert würden.

Nun gibt es freilich tatsächlich Moral- und Wahrheitsansprüche, hinter denen sich Machtansprüche verbergen. Dabei kann es sich wie in traditionellen Gesellschaften um ein Machtgefälle zwischen religiösen und weltlichen Herrschern auf der einen und Gläubigen bzw. Untertanen auf der anderen Seite oder wie in modernen Demokratien zwischen wissenschaftlichen Experten und politischen Insidern und Normalbürgern handeln. Wenn von den Aufklärern die Meinungsfreiheit zu einem unveräußerlichen Grundrecht erklärt wurde, so doch immer mit der Auflage, dass jeder Bürger, jeder Citoyen, der seine Meinung frei äußert, sich dazu verpflichtet, widersprechende Meinungen anderer nicht nur zu dulden, sondern sich an ihnen auch gedanklich abzuarbeiten, seine eigene Meinung in der argumentativen Auseinandersetzung zu bewähren oder sie zu modifizieren bzw. sie um der erkannten Wahrheit willen aufzugeben. Allerdings waren und sind die Voraussetzungen für die Teilnahme an diesem deliberativen Prozess ungleich verteilt.

Schon im antiken Griechenland haftete der Unterscheidung von Meinung und Wahrheit und dem im Prinzip so einleuchtenden Konzept der freien Deliberation auf der Agora von Anfang an der Verdacht an, dass aus der Sicht der herrschenden Elite, was immer das »gemeine Volk« dachte und aussprach, nur irrelevante Meinung sein könne, während die Wahrheit im Zweifelsfalle immer auf die Seite der bessergestellten und gebildeten Polisbürger gehöre. Dieser Verdacht war im antiken Griechenland, wo nur eine zahlenmäßig kleine Oberschicht am demokratischen Prozess in der Polis teilnehmen durfte, wo also auch die öffentliche politische Verständigung über die relevanten Fakten immer nur die Sache einer zahlenmäßig kleinen Elite war, sicher nicht von der Hand zu weisen. Wenn heute populistische und »völkisch denkende« Politiker die anstrengende Erhellung des Faktischen und die mühsame Erarbeitung der Wahrheit für überflüssig erklären, wenn sie die deliberativen Verfahren der parlamentarischen Demokratie als intrigantes Gesellschaftsspiel einer privilegierten Expertenkaste diffamieren, Politiker zu »Volksfeinden« erklären und gegen die »Lügenpresse« polemisieren und die angeblich authentische und unverblümte »Volksmeinung« dagegen in Stellung bringen, so schließen sie, wahrscheinlich ohne es zu wissen, an diesen Verdacht an.

Das Geschäft der Zerstörung der fragilen Grundlagen der Demokratie wird den populistischen Hetzern heute erleichtert durch die zunehmende Medialisierung der Politik. Hier setzen zynische rechte Ideologen wie Steve Bannon, verantwortungslose Spieler wie Boris Johnson und die sogenannten Trolle an, die im Auftrag von Regierungen und Interessengruppen, ganze und halbe Lügen verbreiten. Vincent F. Hendricks und Mads Vestergaard schildern in ihrem Buch Postfaktisch: Die neue Wirklichkeit in Zeiten von Bullshit, Fake News und Verschwörungstheorien in allen Details, wie diese destruktive Arbeit heute vonstattengeht. In der medialisierten Gesellschaft, so die Autoren, »geht es immer darum, eine gute Geschichte zu erzählen«. Und: »Fiktionen können derart massiven Einfluss auf die Wirklichkeit bekommen, dass die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion – zusammen mit der Unterscheidung zwischen Nachrichten und Unterhaltung mehr oder weniger verschwimmt.«

Ganz neu ist dies alles nicht. Auch die Lügen, die Donald Trump in die Welt setzt, um seine politischen Gegner zu diskreditieren und seine Wähler bei der Stange zu halten, stehen in einer langen Tradition. Nicht nur die erfundene Geschichte vom polnischen Überfall auf den Sender Gleiwitz, die den Nazis als Begründung für den Angriff auf Polen diente, sondern auch die von der Bush-Regierung verbreitete Lüge bezüglich der Massenvernichtungswaffen im Irak, die den zweiten Irakkrieg rechtfertigen sollte, wären hier zu nennen. Hendricks und Vestergaard erwähnen sogar einen Fall aus dem Jahr 1782, als Benjamin Franklin, um bei den anstehenden Friedensverhandlungen mit England die Öffentlichkeit auf die Seite der amerikanischen Revolutionäre zu bringen, in Paris eine gefälschte Ausgabe des Boston Independent Chronicle mit der erfundenen Geschichte über ein Massaker veröffentlichte, bei dem mehr als 700 Männer, Frauen und Kinder auf Befehl der Engländer von Indianern skalpiert worden seien.

Was freilich neu ist, ist die durch die neuen digitalen Medien erheblich erleichterte Möglichkeit zur Verbreitung von Lügen und Verschwörungstheorien und die auffällige Tendenz, sich in digitalen Meinungsblasen vom gesellschaftlichen Verständigungsprozess abzukoppeln und sich so gegen Widerspruch zu immunisieren. Mit bloßen Appellen an die Vernunft, vor allem, wenn diese verengt als »instrumentelle Vernunft« verstanden wird, ist hier Abhilfe nicht zu erwarten. Einer, der sich nicht mit der Beschreibung der Phänomene zufrieden gibt, sondern konkrete Verbesserungsvorschläge macht, ist Bernhard Pörksen. Er bringt in seinem Buch Die große Gereiztheit: Wege aus der kollektiven Erregung die Utopie einer »redaktionellen Gesellschaft« ins Spiel, die »die Normen und Prinzipien eines ideal gedachten Journalismus zum Bestandteil der Allgemeinbildung« macht. Ob der hier vorgeschlagene Weg sich als Königsweg erweist und auf ihm tatsächlich der gegenwärtige Zustand der Verwirrung und der kollektiven Erregung zu überwinden ist, kann sich freilich nur in reformerischer Praxis erweisen, wobei Maßnahmen zur Überwindung der sozialen Spaltung und der Schaffung von mehr realer Gleichheit in der Gesellschaft wahrscheinlich am wichtigsten sind.

Rolf Arnold: Ach, die Fakten! Wider den Aufstand des schwachen Denkens. Carl Auer, Heidelberg 2018, 178 S., 29,95 €. – Vincent F. Hendricks/Mads Vestergaard: Postfaktisch. Die neue Wirklichkeit in Zeiten von Bullshit, Fake News und Verschwörungstheorien. Blessing, München 2018, 208 S., 16 €. – Susan Neiman: Widerstand der Vernunft. Ein Manifest in postfaktischen Zeiten. Ecowin, Salzburg/München 2017, 80 S., 8 €. – Bernhard Pörksen, Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung. Hanser, München 2018, 256 S., 22 €.

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