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Zum 100. Todestag von Max Weber Über die Aktualität eines Gründungsvaters der Soziologie

Max Weber starb am 14. Juni 1920 in München. Zusammen mit Guillaume Apollinaire gehörte der 56-Jährige zu den berühmten Opfern der Spanischen Grippe, die seit 1918 wütete und nun in der dritten Welle zurückkam. Mit Else von Richthofen, der getrennt lebenden Frau seines Freundes und Gönners Edgar Jaffé, hatte Weber einige Jahre zuvor seine große Liebe gefunden. Sie war eine der klügsten und faszinierendsten Frauen ihrer Zeit. Nach vielen Jahren, in denen ihn eine Nervenerkrankung plagte, hatte Weber neue Zuversicht gefunden und erlebte eine Zeit intensiver Produktivität. Die Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie waren im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik erschienen und für die druckreife Fassung des ersten Teils seiner allgemeinen soziologischen Theorie, später bekannt unter den Namen Wirtschaft und Gesellschaft, lagen die Fahnen vor. Seit Kriegsende hatte sich Weber stark in der Politik engagiert und war zu einem führenden öffentlichen Intellektuellen geworden. Mit einem Lehrstuhl für Gesellschaftswissenschaft, Wirtschaftsgeschichte und Nationalökonomie in München sollte er zudem seine akademische Laufbahn wieder aufnehmen.

Aus der Renaissance seines Lebens wurde Weber allerdings plötzlich wieder herausgerissen. In den Wirren der Weimarer Republik geriet seine Person schnell in Vergessenheit. Nur das unermüdliche Engagement seiner Ehefrau Marianne ermöglichte es, sein Werk in gesammelter Form zu veröffentlichen und mit einem monumentalen »Lebensbild« einzuleiten. Wahrscheinlich wäre Weber am historischen Horizont verschwunden wie seine Zeitgenossen Georg Simmel, Ferdinand Tönnies und Ernst Troeltsch, wenn nicht ein junger Amerikaner auf der Suche nach einer »Allgemeinen Theorie der sozialen Handlung« Mitte der 20er Jahre Europa bereist hätte. In Heidelberg stieß er auf die Nachwirkungen der großen Verehrung, die Weber dort unter Intellektuellen genoss. Mit seiner eigenwilligen Rezeption machte Talcott Parsons Webers Werk zur tragenden Säule des »soziologischen Kanons«. So haben Generationen von Spezialisten Weber geliebt oder gehasst, je nachdem wie sie Parsons gelesen hatten. In den letzten 30 Jahren ist die Soziologie allerdings durch die Partikelbeschleuniger Neoliberalismus, French Theory (mit wie auch immer postmodernen und poststrukturalistischen Denkern à la Foucault, Derrida oder Deleuze) und Cultural Studies (mit der interdisziplinären Konzentration auf kulturelle und Identitätsphänomene der Gesellschaft) so verändert worden, dass von ihrer vormals stolzen gesellschaftstheoretischen Haltung kaum etwas übrig blieb. Auch Weber gilt damit ein für alle Mal als tot und begraben. Wollte man trotzdem die Frage nach seiner Aktualität stellen, müsste man Folgendes betrachten.

Kapitalismus

Nach der durch die Finanzkrise 2008 verursachten Rezession und der aktuell einsetzenden großen Depression infolge der Corona-Pandemie scheint die Frage nach dem Bestand des Kapitalismus neues Interesse zu entfachen. Die Epoche der neoliberalen Gesellschaftsvergessenheit neigt sich dem Ende zu. In seinen historisch-soziologischen Studien bot Weber eine der maßgebenden Theorien zu Herkunft, Charakter und Schicksal des Kapitalismus. Sie sollte Marx’ Kritik der politischen Ökonomie nicht widerlegen, sondern vervollständigen. Webers Fragestellung galt dem Kapitalismus auch als Kultur- und nicht nur als Produktionssystem. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts konnte sich in Mittel- und Nordeuropa ein Wirtschaftsmodell durchsetzen, das auf der Kalkulation der Stundenproduktivität von Arbeitern beruht. Sittliche Dispositionen wie Arbeitsdisziplin und eingelebte Zuverlässigkeit gehörten zu seinen Voraussetzungen, die nicht bloß als Ergebnis von Zwang und Hungersnot zu erklären waren. Die Arbeitsethik von Fabrikarbeitern, die sie nach Marx zu Trägern zukünftiger Gesellschaft qualifizierte, wurde damit zu Webers Forschungsgegenstand.

Sich für Produktivität zu engagieren in vollem Bewusstsein, dass die Arbeitsprodukte abzugeben sind, setzte eine asketische Lebensführung voraus. Solch eine Haltung war auch bei Unternehmern zu beobachten, die sich unter Kasteiung sonstiger Lebensbedürfnisse für die exponentielle Vermehrung ihres Kapitals einsetzten. Eine solche Lebensführung ist dem Menschen nicht eingeboren, sondern das Ergebnis historisch-kulturellen Wandels. Sie macht den Geist des »modernen Kapitalismus« aus. Er unterscheidet sich grundsätzlich von der allgemein verbreiteten menschlichen Neigung zur schnellen Bereicherung und zum darauffolgenden Genuss der Lebensfreuden. Letztere ist das Warenzeichen des »Abenteurerkapitalismus«, der zu jeder Zeit und in jeder Kultur Bestand hat. Stattdessen gründet der moderne Kapitalismus auf der unnatürlichen Vorstellung einer moralischen Verpflichtung jedes Einzelnen zur kontinuierlichen Vermehrung des angehäuften Reichtums unter Aufopferung aller sonstigen sozialen, kulturellen und ökologischen Imperative. Kommt uns der Gedanke bekannt vor?

Diese »Attitüde zu Welt und Leben« (Georg Simmel) setzt nicht nur Disziplinierung sondern vor allem Selbstdisziplinierung voraus. So war es Weber wichtig, die zum Entwicklungsmodell gewordene asketisch-kapitalistische Lebensführung in ihrer Herkunft kulturhistorisch zu erklären. Dies tat er anhand seiner berühmten Studien zu den religiösen Wurzeln des modern-abendländischen »Rationalismus der Weltbeherrschung«. Ihr Fazit war, dass das Kultursystem des modernen Kapitalismus keine anthropologische Konstante ist, sondern das Ergebnis des sich verselbstständigten Rationalisierungsprozesses, der mit der Reformation, insbesondere in ihrer calvinistischen Variante eingesetzt hatte. Implizite Aussage war somit, dass der moderne Kapitalismus als historisches Produkt auch überwunden werden könnte. Obwohl die Lebenserfahrung um 1900 Weber über die Chancen skeptisch stimmte, diesen Wandel zu erleben, stand somit seine Herkunftsgeschichte des Kapitalismus im Einklang mit Marx’ materialistischer Geschichtsauffassung. Es gab jedoch einen wesentlichen Unterschied, der Marx’ geschichtsphilosophische Prognosen infrage stellte. Webers historisch-soziologische Untersuchungen verwiesen nachdrücklich darauf, dass jede Veränderung des modern-abendländischen Entwicklungsmodells eine Frage des kulturellen Wandels und nicht der bloß quantitativen Entwicklung der Produktivkräfte sei. Darin liegt die große Aktualität von Webers Theorie modernen kapitalistischen Geistes.

Soziologie

Zum guten Ton akademischer Gepflogenheiten gehört heute die blasierte Behauptung, dass alles Meinung sei. Man will ja zeigen, dass man nicht naiv ist. Der Neoliberalismus kann damit sehr gut leben. So schafft sich die kritische Funktion der Gesellschaftswissenschaft selbst ab und nur der Markt entscheidet, welche Meinungen sich durchsetzen. Fazit ist: Wer die Massenmedien beherrscht, kann die öffentliche Meinung sehr gut manipulieren. Im Kaiserreich war die Lage nicht viel anders. Nach mehr als 100 Jahren sind wir somit wieder dort angelangt, wo Webers Reflexion über die Bedingungen ansetzte, um eine Sozialwissenschaft zu etablieren, die zu objektiv begründeten Aussagen fähig ist. Seine soziologische Methodologie bietet einen kontrollierten Stufenablauf für eine Analyse von gesellschaftlichen Erscheinungen, die eine Faktenüberprüfung ermöglicht, an der sich die Fundiertheit von sozialpolitischen Meinungen überprüfen lässt. Dabei macht Weber klar, dass Sozialwissenschaftler*innen nicht auf ihre Meinung verzichten sollen. Es gilt sie vielmehr methodologisch zu explizieren, um sein Erkenntnisinteresse besser zu verstehen. Dann aber dürfen Sozialwissenschaftler*innen nicht einfach im empirischen Material die Zusammenhänge herausselektieren, die ihre Meinung bestätigen. Sie müssen dazu fähig sein, ein Gesamtbild der untersuchten Erscheinungen zu bieten, insbesondere dort, wo ihre Erwartungen leider nicht bestätigt werden. Bestärkt durch diese Erkenntnis, können sie dann sehr wohl in der politischen Arena auftreten, um ihre Meinung zu vertreten. Sie tun das aber als politische Menschen. Weil es wissenschaftliche Aussagen über die Gesellschaft unmöglich macht, hasste Weber die ständige Manipulation von Fakten, um sie vorgefertigten Meinungen anzupassen. Man hat womöglich nie so gut wie heute verstehen können, was er damit meinte.

Gesellschaften warten nicht auf Sozialwissenschaftler*innen, um sich selbst zu deuten. Die Gesellschaftswissenschaft hat somit nur Bestand, solange sie eine Methodologie entwickeln kann, die sie vom sozial-politischen Diskurs kritisch differenziert. Im neoliberalen Zeitalter haben sich immer stärker fragmentierte Sozialwissenschaften den Imperativen der gesellschaftlichen Selbstdeutung allzu sehr untergeordnet. Wer 20 Jahre nach dem Tod Pierre Bourdieus die kritische Gesellschaftswissenschaft trotzdem neu beleben will, findet in Webers methodologischer Fundierung der Soziologie grundlegende Instrumente für seine Arbeit.

In komplexen Gesellschaften gibt es einen grundlegenden Konflikt, den Sozialontologien, die ja nach dem Wesen der sozialen Welt fragen, und Systemtheorien, die sich ja besonders für die immanenten Prozesse interessieren, zu vertuschen versuchen. Die subjektive Logik sozialer Handlung steht immer häufiger im Spannungsverhältnis zur objektiven Logik sozialer Strukturierungsprozesse. Soziale Akteure werden immer stärker durch angebliche Sachzwanglogik qualitativ differenzierter Gesellschaftsbereiche fremdgesteuert. Sie sind somit nicht nur in ihrem wirtschaftlichen Handeln passiv und entfremdet. Zudem drängt die soziale Strukturierungsdynamik die Akteure zunehmend, sich in sozialen Beziehungsnetzwerken zusammenzufinden. Aus diesem kontinuierlichen Widerspruch kommen die Individualisierungsprozesse in der zweiten Moderne nicht mehr heraus. In Zeiten einer beschleunigten kapitalistischen Krisendynamik, wo alles stetem Wandel unterliegt, wird es immer schwieriger eine sinnhafte Synthese zwischen Handlungs- und Strukturlogik zu finden. Diese gesellschaftliche Lage, sowie die dadurch verursachte grundsätzliche Veränderung sozialer Normen und Regeln, man denke nur an den Wandel des Sozialstaates, stellen die Soziologie vor ganz neue Herausforderungen. Dass die Komplexität der strukturellen Konfliktdynamik in qualitativ differenzierten Gesellschaften zur entscheidenden Dimension sozialer Wirklichkeit wurde, müsste die Soziologie erfassen. Dazu passt nicht nur Webers analytisch-deskriptive Feststellung des modernen »Polytheismus der Werte«, sondern auch sein mehrdimensionaler Ansatz zur soziologischen Theoriebildung, der soziale Handlungs- und Strukturtheorie eben nicht gegeneinander ausspielt. Nur eine sich der gegenwärtigen gesellschaftlichen Komplexität bewusste Soziologie kann sich der Herausforderung stellen, diese wiederkehrenden Strukturierungsprozesse zu erfassen, die ja die »beständige Instabilität« gesellschaftlicher Strukturierung in Zeiten eines krisenbehafteten Spätkapitalismus prägen. Auf diesem Weg wird uns Weber noch lange begleiten.

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