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Über die Krise der westlichen Demokratien

Schon seit Längerem, so scheint es, haben wir es mit einer schwelenden Krise der parlamentarischen Demokratie zu tun, die nun zur Entscheidung drängt. In fast allen westlichen Gesellschaften ist das Ansehen von Politikern auf einem Tiefpunkt angelangt. Sie werden mittlerweile von einer Mehrheit der Menschen pauschal als inkompetent und abgehoben betrachtet; die »politische Klasse« – der von Gaetano Mosca geprägte Begriff geistert seit Jahren durch die Medien – gilt weithin als unfähig zur Lösung der drängendsten Probleme und als meilenweit entfernt von den Erfahrungen und Bedürfnissen des »gemeinen Volkes«. Politologen sprechen von einer doppelten Krise der Demokratie und bescheinigen ihr ein ernstes Effizienz- und ein Legitimationsproblem. Parallel dazu haben wir es in allen westlichen Gesellschaften mit einem sich schnell verdichtenden Gemisch aus Angst, Frust und Hass zu tun, das, wenn es von machthungrigen und charismatischen politischen Spielern wie Boris Johnson oder Donald Trump, von geltungssüchtigen Egomanen wie Recep Tayyip Erdoğan oder Viktor Orbán, von Ideologen wie Geert Wilders oder Jarosław Kaczyński oder von vermeintlich biederen Rechtsaußen wie Marine Le Pen genutzt wird, womöglich zur Zerstörung der Demokratie führen kann.

Politikwissenschaftler und Soziologen haben schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Funktionieren der Demokratie, nämlich die sozialstaatliche Garantie einer Begrenzung der durch die Marktökonomie produzierten Ungleichheit, zunehmend erodiert. Ausgerechnet der Liberale Ralf Dahrendorf warnte schon in den 90er Jahren vor den demokratiezerstörenden Folgen des neuen Liberalismus. Heute erkennen wir mit Schrecken, dass seine Warnung vor einem »autoritären Jahrhundert« sehr viel hellsichtiger war, als die damals üblichen euphorischen Erwartungen eines Endsiegs der Demokratie, wie ihn etwa der amerikanische Politikwissenschaftler und Planungschef im US-Außenministerium Francis Fukuyama meinte voraussagen zu können (Das Ende der Geschichte). Für den Soziologen Sighard Neckel steht fest, dass auch das links-liberale Spektrum, also auch die SPD, eine Mitschuld an dem Erstarken des Rechtspopulismus trägt. »Die Einladung zum Ressentiment«, schreibt er, »die heute von autoritären, völkischen bis offen faschistischen Parteien und Politikern ausgeht, wird aber nur deswegen so häufig von den unteren Schichten angenommen, weil das linksliberale Milieu der wachsenden Ungleichheit nur hilflos bis desinteressiert gegenübersteht«.

Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch hat bereits 2004 in seinem Buch Postdemokratie die These vertreten, dass in den westlichen Ländern so etwas wie Demokratie nur noch scheinbar existiere. Unter einem postdemokratischen politischen System versteht er »ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, dass Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.«

Dass diese Analyse nicht aus der Luft gegriffen ist, hat sich in den letzten Jahren u. a. in der Auseinandersetzung um die angeblichen »Freihandelsverträge« TTIP, CETA und TISA gezeigt. Seit Längerem setzen die globalisierten Businesseliten und ihre mächtigen Lobbys alles daran, möglichst alle für das Leben der Bürger wichtigen wissenschaftlich-ökonomisch-technologischen Entscheidungen dem demokratisch-politischen Prozess zu entziehen. Mit Begriffen wie »nichttarifäre Handelshemmnisse« und mit der Einrichtung einer privaten Investitionsschutzgerichtsbarkeit glauben sie ein Mittel gefunden zu haben, ihr Ziel zu erreichen. Als klassische Technokraten halten sie nichts von der Mitsprache der Bürger, sondern sind der Meinung, dass alle wirklich wichtigen Weichenstellungen nach Möglichkeit im kleinsten Kreis von Experten und unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorgenommen werden sollten. Die auf diese Weise dem politischen Prozess entzogenen Entscheidungen werden den Bürgern dann von ihren Regierungen zumeist als »alternativlos« präsentiert. Für Colin Crouch ist genau dies mit dem Begriff »Postdemokratie« gemeint, für Angela Merkel dagegen handelt es sich hier um eine von ihr durchaus positiv gewertete »marktkonforme Demokratie«.

In ihrem Buch Der Unfreihandel hat Petra Pinzler akribisch belegt, wie seit Jahren eine mächtige, weltweit operierende Lobby der großen Konzerne und des Finanzkapitals, gedeckt von den meisten nationalen Exekutiven und von Teilen der Europäischen Kommission, die Entmündigung der Bürger und die Entkernung der Demokratie betreibt. »Es ist der Versuch von Anwaltskanzleien und großen Konzernen«, schreibt sie, »rund um die Welt ein rechtliches Netzwerk zu spannen, durch das sie Staaten vor Schiedsstellen auf milliardenschweren Schadenersatz verklagen können.« Was den großen Konzernen nicht passt, was ihre Macht und ihre Renditeaussichten schmälern könnte, soll durch die Drohung mit Schadenersatzkla-gen von vornherein politisch unmöglich gemacht werden. Die Demokratie wäre, wenn diese Pläne verwirklicht würden, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Politiker, die diese heimliche Machtergreifung der globalen Konzerne fördern oder geschehen lassen, zerstören das Vertrauen in die Demokratie, was wiederum den rechten Populisten zugute kommt.

In dieselbe Richtung zielt die Kritik der beiden Journalisten Markus Balser und Uwe Ritzer, die in Lobbykratie im Detail nachzeichnen, wie weltweit tätige und fürstlich bezahlte Einflussagenten nicht nur die demokratischen Entscheidungen beeinflussen, sondern auch unsere Weltwahrnehmung zu steuern suchen. Ihr Fazit: »Obwohl der unbegrenzte Hochfrequenzhandel die Stabilität der Finanzsysteme gefährdet, gelingt es nicht, eine Transaktionssteuer einzuführen. Obwohl der Einfluss des Menschen auf den Klimawandel seit Jahren erwiesen ist, wurde der Kampf gegen die Erderwärmung verschleppt. Obwohl Rauchen der Gesundheit schadet, die Folgen das Gesundheitssystem Milliarden kosten, wehren sich Tabakkonzerne erfolgreich gegen strengere Vorgaben. Obwohl Autoabgase die Luft verpesten, bleiben Grenzwerte lax. Obwohl der Atomausstieg beschlossen war, verfolgten Energiekonzerne einen ganz anderen Plan. Obwohl es Verluste für Millionen Kunden bedeuten kann, setzen Versicherungen neue Regeln durch. Obwohl gesundheitsschädliche Lebensmittel leicht zu kennzeichnen wären, knickt die Politik gegenüber der Lebensmittelbranche ein. Für manches gibt es nur wenige Erklärungen, die wichtigste heißt aber in all diesen Fällen: Lobbyismus.«

Hier klingt ein Thema wieder an, das in der marxistisch inspirierten Literatur seit Langem eine zentrale Rolle spielt und in seiner gröbsten Fassung auf die These hinausläuft, der bürgerlich-demokratische Staat sei letzten Endes nichts anderes als der »Handlanger« oder der »geschäftsführende Ausschuss des Gesamtkapitals«, und könne auch nie etwas anderes sein, was für Marxisten-Leninisten die Schlussfolgerung nahelegt, diese bloß scheinhafte Demokratie aufzugeben und durch eine sogenannte »Diktatur des Proletariats« zu ersetzen. Heute lässt sie die Rechtspopulisten wieder einmal nach dem »starken Mann« rufen, der ohne Rücksicht auf demokratische Bedenken für Ordnung sorgt. Ulrich Schöler hat in einer unter dem Titel Herausforderungen an die Sozialdemokratie erschienenen Sammlung von Reden und Aufsätzen u. a. den Weg noch einmal nachgezeichnet, den Marxisten in der SPD und viele ehemalige Kommunisten in der Auseinandersetzung mit den Leninisten und Stalinisten gehen mussten, um diese Sackgasse zu vermeiden. Auch Colin Crouch und Petra Pinzler sind klug genug, nicht die Rolle rückwärts in eine angeblich menschenfreundliche Diktatur als Lösung zu präsentieren. Beide sind auch keine Globalisierungsgegner, wie oft unterstellt wird, sondern nur Gegner einer Globalisierung nach der Interessenlage der großen Konzerne und des globalen Finanzkapitals. Sie setzen nicht auf nationalistische Regression, sondern auf Aufklärung und auf die Organisation von Gegenmacht zum Kapital. Crouch deutet am Ende seines Buches die Möglichkeit einer »Vitalisierung der Demokratie« an, bei der neben den Parteien auch soziale Bewegungen sowie eine intensivierte Lobbyarbeit im Interesse größerer Gleichheit eine zentrale Rolle spielen sollten.

Auch Petra Pinzler zieht aus ihrer unbarmherzigen Analyse der Machenschaften des globalen Kapitals nicht den Schluss, dass die Demokratie rettungslos verloren sei. Vielmehr sieht sie die Bürger selbst in der Verantwortung, eine Lösung zu finden, und ihre eigene Aufgabe darin, das dafür notwendige argumentative Rüstzeug zu liefern. »Es liegt nicht allein am großen Geld und ein paar ideologisch verblendeten Politikern, dass die Rechte der Konzerne ausgebaut und die Demokratie dafür eingeschränkt wird (…). Möglich wird das alles durch die schweigende Zustimmung oder das Unwissen vieler Bürger.« Aufklärung und Umdenken ist angesagt, und das heißt für sie vor allem, sich von der neoliberalen Ideologie zu befreien. »In vielen Köpfen steckt nämlich immer noch die Idee, dass mehr Markt und mehr Handel grundsätzlich immer noch besser für alle sei als weniger und dass man dafür einfach ein paar Nachteile hinnehmen muss.«

Wie man den ideologischen Nebel durchdringen und ans Licht gelangen kann, zeigen Daniel Baumann und Stephan Hebel in ihrem Buch über die Sprache der Macht unter dem Titel Gute-Macht-Geschichten. »Wenn Politiker ›Reformen‹ sagen«, schreiben sie, »geht es meistens um Lohnverzicht und Rentenkürzung. Den ›Steuerstaat‹ prangern sie an, wenn sie Spitzenverdiener und Vermögende vor einer angemessenen Beteiligung an der Finanzierung des Gemeinwohls schützen wollen. ›Bürokratieabbau‹ heißt übersetzt Abbau des Kündigungsschutzes oder Verzicht auf Kontrolle, zum Beispiel bei Arbeitszeiten und -bedingungen (…).« 75 verschleiernde Kernbegriffe der neoliberalen Ideologie werden von den Autoren in ihrer Funktion und aus ihren Anwendungszusammenhängen heraus erklärt und in eine dem normalen Bürger verständliche Sprache übersetzt. Ein für jeden kritischen Zeitgenossen unentbehrliches Lexikon der Sprache der Macht.

Das Umdenken und damit der Widerstand gegen die perfide Politik der Handelsverträge hat spät eingesetzt, ist aber inzwischen – nicht zuletzt auch durch die Rückkehr der USA zu einer stärker protektionistischen Politik – so stark geworden, dass vorerst die sich hier abzeichnende »schöne neue Weltordnung« der Konzerne wohl nicht etabliert werden wird. Damit ist aber die Zerstörung der Demokratie keineswegs gebannt. Harald Welzer hat in Die smarte Diktatur in beeindruckender Präzision beschrieben, wie die von den meisten Menschen heute fälschlicherweise als Fortschritt begrüßte Digitalisierung des Lebens uns in die radikalste Unfreiheit führen kann. »Die Freiheitsfeinde«, schreibt er, »kommen aus so unterschiedlichen Richtungen wie dem Islamismus und dem Libertarismus. Fundamentalistisch sind beide Sorten von Freiheitsfeinden, bieten sie doch Weltbilder, in denen alles gelöst werden kann, wenn man nur dem rechten Glauben folgt, im einen Fall ist das ein religiös grundiertes Glaubenssystem, im anderen ein technoides. Beide versprechen die Entbindung von Verantwortung, Entlastung von Freiheit.«

Durch die Nutzung der sogenannten »sozialen« Medien, so Welzer, tragen Milliarden von Menschen heute zur Zerstörung der Grundlagen von Freiheit und Demokratie bei, ohne auch nur zu ahnen, was da durch sie und mit ihnen geschieht. Sie machen ihr Selbst für die Sammler und Verwerter der Datenströme und zum Teil auch für jedes andere Mitglied der »Netzgemeinde« transparent und durchlöchern damit selbst immer gründlicher »das zentrale Hindernis für die Durchsetzung totaler Herrschaft«, nämlich die Privatheit. Auch wenn die Institutionen der Demokratie und des Rechtsstaats noch existieren, sind wir inzwischen Objekte einer Technologie geworden, die unser Selbst besetzt. »Diese Besetzung betrifft alles, was wir sind und zu sein beanspruchen: unsere Gedanken, unsere Vorlieben, unser Kaufverhalten, unser Bankkonto, unsere sozialen Beziehungen, einfach alles (…). Längst schon haben andere Formen der Selbstkontrolle Macht über uns ergriffen, längst zensieren wir uns, bevor andere das tun, längst haben wir Angst, dass irgendetwas ›von früher‹ zutage tritt, das heute negativ betrachtet wird, längst sagen wir wirklich Privates, gar Subversives nur noch unter genau geprüften Bedingungen.« Kurz, die Voraussetzungen für die Errichtung diktatorischer Herrschaft sind bereits in unseren rechtsstaatlichen Verhältnissen erfüllt. »Die Auflösung der Demokratie geschieht im Rahmen der Demokratie.«

Richard Meng hat sich in seinem Buch Wir schaffen es (nicht) mit den Veränderungen in der Medienwelt und mit deren Auswirkungen auf die Politik befasst. Wer verstehen will, woher die tiefe Unzufriedenheit mit der Performance unserer Politiker rührt, sollte lesen, was er über die Parzellierung der Öffentlichkeit, den zunehmenden Verlust an Gemeinwohlorientierung durch die forcierte Individualisierung und das um sich greifende Ohnmachtsgefühl von Politikern schreibt, die angesichts der Gefahr eines permanenten Plebiszits durch Demoskopie und Shitstorms vermehrt eine ängstliche Vermeidungspolitik betreiben, statt aktiv und vorausblickend Probleme anzupacken und nach Möglichkeit zu lösen. Besonders verdienstvoll ist, dass Meng seinen eigenen Berufstand, den Journalismus, nicht schont. Die Krise der Demokratie ist für ihn nicht zuletzt auch eine Krise des Journalismus.

»Inzwischen ist die Medienkrise der Normalfall und die vornehme Distanz des Journalismus gegenüber der Reflexion seiner eigenen materiellen Bedingungen hat sich großenteils verflüchtigt. Die Auflagen der Zeitungen sinken kontinuierlich, der Generationenabriss bei der Zeitungsnutzung ist vollzogen.« Dadurch, so Meng, gerieten auch die sogenannten Qualitätsmedien unter Druck, was immer häufiger zur Folge hat, dass man auch hier zum Mittel der Personalisierung und der Sensationsberichterstattung greife. »Gerade dort, wo es früher noch deutlich differenzierteren, analytischeren Journalismus gegeben hat, senkt die wirtschaftliche Defensive auch die Hemmschwelle gegenüber mainstreamigem Hau-Drauf.« Der reale Journalismus, so Meng, laufe Gefahr, »in seiner täglichen Suche nach Kritikpunkten Banales gerade nicht mehr von Relevantem zu unterscheiden, Strukturen hinter Personen nicht mehr zu sehen. Sondern sich den Aktualitäts- und Unterhaltungskriterien auszuliefern. Und im ewigen Exklusivitäts- und Zuspitzungsmodus am Ende keine Bilder mehr zu produzieren, über die sich rational reden ließe – sondern Zerrbilder, häufig auf Einzelpersonen reduziert, die nur Emotionen anstacheln.« Das Ergebnis ist das, was Meng »journalistischen Populismus« nennt.

Einen anderen Aspekt der Demokratiekrise bearbeitet Wolfgang Gründinger in seinem Buch mit dem reißerischen Titel Alte-Säcke-Politik. Für Gründinger ist eine entscheidende Ursache der auffälligen Zukunftsblindheit und Innovationsträgheit unseres politischen Systems die demografische Veränderung und wie wir darauf reagieren. Ihm zufolge liegt die Misere der heutigen Politik in der Bundesrepublik Deutschland vor allem darin begründet, dass die Parteien um kurzfristiger Wahlerfolge willen die Lebensinteressen der Jüngeren und damit die Zukunft unserer Gesellschaft aus den Augen verloren hätten. »Hätte eine Partei sämtliche Wähler unter 21 mobilisiert, hätte das nicht einmal für die Fünf-Prozent-Hürde gereicht. Hätte sie dagegen alle Wähler über 70 auf ihre Seite gebracht, wären dies bereits mehr als ein Fünftel aller Stimmen.« Die Folge, so der Autor, »69 Prozent der Jugendlichen finden, Politiker kümmerten sich nicht darum, was sie denken«.

Im Weiteren listet Gründinger eine große Zahl von Versäumnissen der Politik auf, die kaum jemand ernsthaft bestreiten würde, die er aber nahezu alle gewaltsam auf die »Überalterung der Gesellschaft« und die dadurch angeblich erst erzeugte Zukunftsblindheit der Politik zurückführt. Jedenfalls ist es nicht sehr überzeugend, wenn der Autor zum Beispiel die tatsächlich zu geringe Investitionsquote in Deutschland hauptsächlich auf die zu hohen Renten und Pensionen für eine ständig wachsende Zahl selbstsüchtiger Rentner zurückführt oder als Reform des Wahlsystems vorschlägt: »Junge Menschen sollen wählen dürfen, sobald sie dies selbst können und möchten.«

Dass das parlamentarische System der Bundesrepublik die Jüngeren noch nicht einmal proportional (und damit unter heutigen Bedingungen unzulänglich) repräsentiert, dass die Parteien heute aus wahltaktischen Gründen dazu neigen, auf die Bürger über 60 und ihre (vermuteten) Bedürfnisse besonders Rücksicht zu nehmen, ist sicher richtig. Aber man sollte nicht, wie Gründinger es über weite Strecken seines Buches tut, den Eindruck erwecken, die über 60-Jährigen seien eine mehr oder weniger homogene Masse von satten, nur auf ihren Vorteil bedachten und an der Zukunft ihrer Kinder und Enkel nicht interessierten Verteidigern des Status quo. Gegen Ende seines Buches scheint er sich der Einseitigkeit seiner Betrachtungsweise denn auch bewusst zu werden. Denn nun heißt es überraschenderweise: »Meine Hoffnung ist, dass sie (die Älteren) aufwachen und sich dafür begeistern, was in diesem Land und ihrer Nachbarschaft geschieht – und, vor allem, sich dabei offene Ohren bewahren für die Bedürfnisse der Jungen.«

Einen auf den ersten Blick verblüffenden Vorschlag zur Behebung der Krise der parlamentarischen Demokratie macht der belgische Historiker, Ethnologe und Archäologe David Van Reybrouck in seinem 2013 auf Flämisch und 2016 auf Deutsch erschienenen Buch Gegen Wahlen. Er schlägt vor, nicht länger allein auf Wahlen zu setzen, wenn es darum geht, öffentliche Ämter zu besetzen und politische Repräsentanten zu berufen, sondern der Zufallsauswahl, die bereits in der Antike, besonders in der athenischen Demokratie, eine wichtige Rolle spielte, wieder eine Chance zu geben, wie es in den letzten Jahren in seinem Heimatland Belgien, aber auch in Island und Irland – durchaus mit Erfolg – unternommen wurde.

Van Reybrouck belegt mit vielen Zitaten, dass sowohl in der amerikanischen als auch in der französischen Revolution die Entscheidung für eine elektoral-repräsentative Demokratie ganz bewusst getroffen wurde, weil die Elite der Revolutionäre dem »Volk« misstraute. »Die revolutionären Führer in Frankreich und in den USA hatten keine Lust auf das Losverfahren, weil sie keine Lust auf Demokratie hatten.« Wahlen, so der Autor, seien »aristokratisch«, die Zufallsauswahl dagegen sei »demokratisch«, und dies sei den Begründern unserer repräsentativen Demokratie auch durchaus bewusst gewesen. Bei den frühen Vordenkern der Demokratie aber, zum Beispiel bei Charles de Montesquieu und Jean-Jacques Rousseau, sei der Gedanke, öffentliche Aufgaben per Losentscheid zu vergeben, dagegen noch ernsthaft erwogen worden.

In Deutschland kennen wir das Losverfahren nur im Zusammenhang mit den vom Soziologen Peter C. Dienel vorgeschlagenen und seit den 70er Jahren auch mehrfach mit Erfolg erprobten »Planungszellen« und – allerdings mit vielen einschränkenden Zusatzbestimmungen – bei der Bestimmung von Schöffen in Gerichtsverfahren. In der deutschen Rechtsliteratur wird das Losverfahren interessanterweise als Ausdruck der »Volkssouveränität« und als probates Mittel gewürdigt, das Vertrauen in die Justiz zu stärken. Es läge also durchaus nahe, die offenbare Repräsentativitätsschwäche und das damit zusammenhängende Legitimitätsdefizit unserer parlamentarischen Demokratie durch den ergänzenden Einsatz des Losverfahrens abzumildern, wie es Van Reybrouck vorschlägt. »Wir müssen heute«, schreibt er, »hin zu einem birepräsentativen Modell, einer Volksvertretung, die sowohl durch Abstimmung als durch Auslosung zustande kommt. Beide haben schließlich ihre Qualitäten: die Sachkompetenz von Berufspolitikern und die Freiheit von Bürgern, die nicht wiedergewählt zu werden brauchen. Das elektorale und das aleatorische Modell gehen also Hand in Hand.« Vielleicht ist das ja in der Tat eine bessere Idee, als, wie es neuerdings auch die CSU macht, auf bundesweite Referenden zu setzen, die unter den gegebenen Umständen zumeist, was die Beteiligung angeht, auch kaum repräsentativer sind als Wahlen und nicht selten, erst recht wenn in einem Klima politischer Stimmungsmache das argumentativ-deliberative Moment zu kurz kommt, zu höchst bedenklichen Ergebnissen führen.

Markus Balser/Uwe Ritzer: Wie die Wirtschaft sich Einfluss, Mehrheiten, Gesetze kauft. Droemer-Knaur, München 2016, 368 S., 19,99 €. – Daniel Baumann/Stephan Hebel: Gute-Macht-Geschichten. Politische Propaganda und wie wir sie durchschauen können. Westend, Frankfurt/M. 2016, 256 S., 16 €. – Wolfgang Gründinger: Alte-Säcke-Politik. Wie wir unsere Zukunft verspielen. Gütersloher Verlagshaus, 2016, 224 S., 17,99 €. – Richard Meng: Wir schaffen es (nicht). Politik und Medien in der Vermeidungsgesellschaft. Schüren, Marburg 2016, 240 S., 19,90 €. – Petra Pinzler: Der Unfreihandel. Die heimliche Herrschaft von Konzernen und Kanzleien. Rowohlt, Reinbek 2015, 288 S., 12,99 €. – Ulrich Schöler: Herausforderungen an die Sozialdemokratie. Klartext, Essen 2016, 440 S., 29,95 €. – David Van Reybrouck: Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist. Wallstein, Göttingen 2016, 200 S., 17,90 €. – Harald Welzer: Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit. S. Fischer, Frankfurt/M. 2016, 320 S., 19,99 €.

 

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