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© Reiner Zensen

Über Grenzen denken

Der Philosoph Julian Nida-Rümelin hat vor Kurzem in der edition Körber-STIFTUNG sein neues Buch »Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration« vorgelegt. Hoffnungslosigkeit, Hunger, Unterdrückung und Krieg treiben weltweit Millionen von Menschen in die Flucht. Aber ist eine Politik der offenen Grenzen die richtige Antwort? Diese Ansicht hat viele Fürsprecher. Julian Nida-Rümelin gehört nicht dazu. Er ist überzeugt, dass offene Grenzen das Elend nicht mildern, die Herkunftsregionen aber weiter schwächen würden. Er plädiert für eine funktionierende Staatlichkeit. Die Fragen stellte Thomas Meyer.

 

NG|FH: In der aktuellen philosophischen und politischen Debatte rund um das Thema Flucht wird meist zwischen kosmopolitischen und kommunitaristischen Ansätzen unterschieden. Sie sprechen in Ihrem neuen Buch von liberalistischen und kommunitaristischen Ansätzen und konstatieren, dass dieser Gegensatz überzogen oder zumindest etwas einseitig zugespitzt sei.

 

Julian Nida-Rümelin: Diese Gegenüberstellung ist in der Tat manchmal irreführend. Ein Beispiel ist Michael Walzer, der als einer der bedeutendsten Kommunitaristen gilt. Er vertritt anti-universalistische, auch zum Teil anti-liberalistische Positionen, macht aber immer deutlich, dass dies nicht als Alternative zur liberal geprägten Ordnung gedacht sei, sondern lediglich als Korrektiv. Wir dürften (bei ihm geht es zunächst einmal nicht um Migration) zum Beispiel die Mobilität nicht auf die Spitze treiben: Wenn Menschen permanent umziehen müssen, entsteht keine Solidarität in der Nachbarschaft; wenn Menschen permanent ihre Weltanschauung, Glaubensgemeinschaft etc. ändern, entstehen auch keine gemeinsamen praktischen Erfahrungen durch die Zugehörigkeit zu solchen Gemeinschaften.

Meine Position ist insofern kosmopolitisch, als dass mir die globale Gerechtigkeitsfrage zentral zu sein scheint, da man ohne eine Gerechtigkeitsperspektive nicht zu Fragen der internationalen Politik Stellung nehmen kann. Die Interessen einer Nation, einer Bürgerschaft oder auch einer Region reichen auf keinen Fall aus, um solche Fragen zu beantworten, aber – und das ist der Unterschied zu manch anderen Kosmopoliten oder Liberalen – wir müssen berücksichtigen, dass die Menschen ihr Leben als Mitglieder von Staaten, von institutionell verfassten Solidargemeinschafen – dazu gehört der Sozialstaat in den entwickelten sozialen Demokratien –, aber auch als Mitglieder von kulturellen Gemeinschaften organisieren. Und dies darf sich in einem globalen Markt der individuellen Rechte nicht alles auflösen oder irrelevant werden.

 

NG|FH: Beim Gebrauch dieser Begriffe gibt es oft ein Missverständnis. Kann man nicht auch einen liberalen Kommunitarismus vertreten, der überschaubare Gemeinschaften und eine übereinstimmende Zivil- oder politische Kultur braucht, aber keine ethnische oder religiöse Identität? Letzteres ist doch im Begriff des Kommunitarismus nicht notwendigerweise angelegt.

 

Nida-Rümelin: Ich sehe den Kommunitarismus etwas kritischer. Er war von Beginn an gegen eine universalistische Ethik gerichtet und vertritt bis heute die zentrale These, dass die moralische Identität einer Person durch seine Zugehörigkeit zu Gemeinschaften entsteht. Laut Michael Sandel gibt es »no unencumbered selves«, keine nicht-eingebetteten Selbste. Das ist ein schiefes Bild. Als Individuen navigieren wir gewissermaßen zwischen unterschiedlichen Gemeinschaftszugehörigkeiten, dabei müssen wir sehen, dass wir unsere Identität wahren, den Erwartungen der jeweiligen Gemeinschaft unter Umständen auch entgegentreten müssen. Dazu gehört Zivilcourage und die liberal und sozial verfasste Gesellschaft sollte sicherstellen, dass die Individuen das auch können, dass sie nicht unter den Gemeinschaftsdruck und in Abhängigkeit geraten. Gerade angesichts eines wiedererstarkten Fundamentalismus ist das sehr aktuell.

 

NG|FH: Wenn eine Gesellschaft als liberale, rechtsstaatliche und soziale Demokratie funktionieren soll, ist es dann nicht wichtig, großes Augenmerk auf den Erhalt und die Stärkung einer allen gemeinsamen Sozial- und Zivilkultur zu richten? Der britische Migrationsforscher Paul Collier hat ja darauf hingewiesen, dass dies dann nicht gewährleistet werden kann, wenn von außen zu schnell zu viele Menschen aus Gesellschaften hinzukommen, in denen sich die entsprechenden Zivilkulturen nicht ausbilden konnten – was übrigens mit der Frage der unterschiedlichen Religionszugehörigkeiten gar nichts zu tun hat.

 

Nida-Rümelin: Wir alle haben ein Interesse an einer funktionierenden Staatlichkeit, die aber durch die zum großen Teil nicht gesteuerte Globalisierung unter Druck geraten ist. Staaten, vor allem kleine Staaten, definieren sich zunehmend als Standort und stehen in Standortkonkurrenz zu anderen Staaten – Stichwort Sozialdumping. Die Liberalisierung der Weltmärkte, der Handelsbeziehungen, der Güter-, Finanz- und Arbeitsmärkte gerät dadurch in Konflikt mit organisierter Staatlichkeit und das ist nicht im gemeinsamen Interesse der Weltgesellschaft. Zusammenfassend kann man sagen, dass – in guter sozialdemokratischer Tradition – Solidarität vor Mobilität steht, während Liberale und Libertäre eher dazu tendieren, Mobilität vor Solidarität zu setzen.

Sozialstaatlichkeit ist in der Regel über einen sehr langen Zeitraum gewachsen. Im Fall der deutschen Nationenwerdung war der Weg mühsam und erst sehr spät hat sich in Deutschland eine nationale Bürgerschaft konstituiert. Das war nicht 1871 mit dem sogenannten Zweiten Reich bzw. Otto von Bismarcks preußisch beherrschtem Deutschen Reich, sondern eher mit der Reichsversicherungsordnung von 1911 und was darauf folgte, in Abwehr der Sozialisten aber auch zur Bändigung des Kapitalismus. Das heißt, die Bürgerschaft hatte auf einmal etwas Gemeinsames, eine Bindung an den Staat, eine damals noch minimale organisierte Sozialstaatlichkeit, die es galt zu gestalten. Es entstand das Gefühl, nicht nur Objekt zu sein, zum Beispiel von Marktprozessen, und durch politische Kämpfe und Auseinandersetzungen Sozialrechte erarbeiten und erkämpfen zu können, die dann diese Solidargemeinschaft zusammenhalten. Wenn nun der Zu- und Austritt aus diesen Solidargemeinschaften beliebig geöffnet wird, dann sind sie in der Form auch normativ nicht aufrechtzuerhalten, weil die normative Grundlage immer die der Kooperation sein muss. Ich leiste meinen Beitrag wie alle anderen auch, damit, wenn jemand Hilfe nötig hat, dieser auch Hilfe bekommen kann.

 

NG|FH: In unserer heutigen globalen vernetzten Welt gibt es die Position, die Öffnung der Grenzen, ein kosmopolitisches Bürgerrecht und das Recht sich niederlassen zu können, wo man will, zu verlangen.

 

Nida-Rümelin: Also das Recht, den eigenen Staat verlassen zu können, wurde schon von Immanuel Kant in Zum ewigen Frieden von 1795 postuliert. Und er hat das mit einem Welthospitalitätsrecht verbunden, also gewissermaßen der Pflicht für andere Staaten, den heimatlos Gewordenen einen Gaststatus einzuräumen, ohne da ins Detail zu gehen. Der Denkfehler, der nun häufig erfolgt, ist, dass ein Recht, einen Staat zu verlassen, zugleich die Pflicht für andere Staaten beinhaltet, die betreffenden Personen aufzunehmen. Das ist nicht zu Ende gedacht. Das Recht auf etwas beinhaltet noch nicht die korrespondierende Pflicht dazu. Mein Recht zu heiraten, wen ich will, korrespondiert nicht mit der Pflicht aller mich zu heiraten, wenn ich das will. Ich glaube grundsätzlich, dass es zu den kollektiven Rechten einer Bürgerschaft gehört, über die Veränderung ihrer Zusammensetzung zu entscheiden, also über Aufnahmen, jedenfalls im Prinzip, zu entscheiden. Ein Staat kann dann natürlich – auch wieder gestützt auf letztendlich demokratische Entscheidungen – bestimmte Bereiche ausnehmen. Das tut Deutschland in zwei Formen: Zum einen mit dem Artikel 16, nach dem das individuelle Recht auf Asyl die kollektiven Entscheidungsmöglichkeiten massiv einschränkt. Über den Umfang und die Details der Ausgestaltung gibt es naturgemäß Streit. Von diesen beiden Formen der Migration, Asyl und Flüchtlingsstatus, müssen wir vor allem den Blick auf die Migration richten, die sich in Europa besonders aus dem subsaharischen Afrika speist, wo sich Menschen aus völlig legitimen, nachvollziehbaren Gründen ein besseres Leben außerhalb ihres Landes, besonders in den Reichtumsregionen Europas, erhoffen und sie keine andere Chance sehen, um einen Aufenthaltsstatus in Europa zu bekommen. Denn Deutschland ist offiziell kein Zuwanderungsland und Europa verfügt über keine geregelte Zuwanderung.

Die Vorstellung aber, dass wir mit der Öffnung der Grenzen einen wesentlichen Beitrag zur Milderung des Weltelends leisten könnten, ist eine Illusion. Zum einen deshalb, weil die Menschen, die zu den Ärmsten der Welt gehören, etwa im subsaharischen Afrika, angesichts der für sie hohen Kosten, gar nicht kommen werden. Zweitens schließen die Quantitäten auch aus, dass man auf diese Weise einen wesentlichen Beitrag zur Milderung des Weltelends leisten kann, weil nur etwa 800 Millionen in den Reichtumsregionen leben und es Milliarden von Menschen wirklich elend geht. Es ist ein Skandal, dass die Weltgesellschaft, die nur 0,5 % des Sozialproduktes aufwenden müsste, um alle Menschen über zwei US-Dollar Kaufkraft am Tag zu heben, das noch nicht zustande gebracht hat.

 

»Die Vorstellung, dass wir mit der Öffnung der Grenzen einen wesentlichen Beitrag zur Milderung des Weltelends leisten könnten, ist eine Illusion.«

 

NG|FH: Sie haben verschiedene Postulate zur Migrationspolitik formuliert. Eines davon lautet, migrationspolitische Entscheidungen müssen mit dem kollektiven Selbstbestimmungsrecht der jeweiligen Bürgerschaft verträglich und möglichst inklusiv sein. Welche Art von Mitwirkung der Bürgerschaft wäre nach Ihrer Vorstellung im Umfeld der großen Zuwanderung 2015 erforderlich gewesen?

 

Nida-Rümelin: In diesem Fall sind mehrere politische Pflichten nicht erfüllt worden. Ich sage das nicht gerne, weil die Motive nachvollziehbar sind, denn es ging ja um Hilfe gegenüber Tausenden von Menschen, die in Ungarn gestrandet waren und schlecht behandelt wurden. Da gab es dringenden Handlungsbedarf. Aber in einem größeren demokratischen Zusammenhang gesehen, ist diese Entscheidung aus zwei Gründen nicht legitim zustande gekommen. Erstens kann man eine solche Entscheidung, die Grenzen zu öffnen, vielleicht für ein paar Tage oder auch für zwei Wochen treffen. Wenn aber gesagt wird, dass sich im 21. Jahrhundert Grenzen nicht mehr sichern lassen und nichts dagegen unternommen werden kann, dann kann dies nicht ohne Befassung des Parlamentes, ohne eine öffentliche Debatte erfolgen. In diesem Fall war schon Monate zuvor absehbar, was auf uns zukommt, weil die finanziellen Mittel in den Flüchtlingslagern nicht ausreichten, um dort für anständige Lebensverhältnisse zu sorgen. Die Regierung wurde gewarnt, man hätte Monate für eine öffentliche Debatte und die Befassung des Parlamentes Zeit gehabt. Zweitens sind wir in einen europäischen Rahmen eingebunden, in dem einzelne Länder nicht solche weitreichenden Entscheidungen für ganz Europa treffen können. Der Öffnungsentscheidung hätte eine europäische Meinungsbildung vorausgehen müssen und sei es nur in Form einer Ad-hoc-Telefonkonferenz der Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer. Beides ist nicht erfolgt und der Unmut, der dann in der Bevölkerung entstanden ist, hängt auch mit diesem undemokratischen Vorgehen zusammen.

 

NG|FH: Muss jetzt also eine gründliche Diskussion nachgeholt werden, im Parlament und in der Gesellschaft hierzulande, aber auch in Europa?

 

Nida-Rümelin: In der Tat hätte man nach Auslaufen der sogenannten Gastarbeiteranwerbung in Deutschland, abgestimmt in der Europäischen Union, eine politisch gesteuerte Zuwanderungspolitik entwickeln müssen. Nach Auffassung der Konservativen war es der Bevölkerung nicht zumutbar, Deutschland zu einem Einwanderungsland zu erklären, obwohl es das de facto schon längst ist. Denn durch politische Entscheidungen hatten wir viele Jahre lang über den Artikel 16 des Grundgesetzes sozusagen eine dysfunktionale Einwanderung mit entsprechend merkwürdigen Folgen: eine niedrige Anerkennungsquote, trotzdem so gut wie keine Abschiebungen, massiv sinkende Beschäftigungsquoten bei den Einwanderern ab Ende der 70er Jahre. Eine Regelung wäre jetzt dringend erforderlich, nach Kriterien, die nicht nur die Interessen des aufnehmenden Landes und der Migranten berücksichtigt, sondern vor allem auch die der Herkunftsregionen. Es kann ja nicht sein, dass wir hier eine schlechte Qualifizierungspolitik betreiben, weswegen z. B. Krankenschwestern und Altenpfleger fehlen, während manche afrikanische Staaten große Anstrengungen unternehmen, um auszubilden und dann zusehen müssen, wie die Besten ihr Land in Richtung Europa verlassen. Wir müssen also auch die Herkunftsregionen im Blick haben, Kompensationszahlungen leisten. Gillian Brock von der Auckland University hat dazu konkrete Modelle vorgelegt. In Zukunft müssen wir Einwanderung politisch vernünftig steuern und nicht abwarten, wer aus welchen Regionen mit welchen Qualifikationen und unter welchen – meist schrecklichen – Bedingungen nach Europa kommt.

 

NG|FH: Sie sprechen in dem Zusammenhang davon, dass bei der Armutsmigration ein Dilemma, ein Konflikt zwischen zwei verschiedenen Gleichheitsprinzipien entsteht. Welche sind das genau und worin besteht der Konflikt?

 

Nida-Rümelin: Alle Menschen, die sich auf einem Staatsgebiet aufhalten, haben ein Recht auf Gleichbehandlung. Verfassungsgerichtsurteile haben dafür gesorgt, dass z. B. die Sozialleistungen nicht beliebig differenzierbar sind. Auf der anderen Seite haben wir auch Gleichbehandlungsverpflichtungen, ethischer, politischer und völkerrechtlicher Art. Hier gehen die Meinungen auseinander. Ich bin der Auffassung, dass wir sie angesichts der gewachsenen Kooperation auch weltweit haben. Und natürlich haben diejenigen in erster Linie unsere Hilfe nötig, denen es am schlechtesten geht. Diejenigen aber, die zu uns kommen, gehören in den Herkunftsregionen nicht zu den Elendsten, sondern meist zur dortigen Mittelschicht. Ich rede nicht von Bürgerkriegs- und Kriegsflüchtlingen, sondern von denjenigen, die in Erwartung eines besseren Lebens nach Europa kommen. Anstatt die Ressourcen auf die Hilfe vor Ort zu konzentrieren, verwenden wir ein Übermaß an Solidaritätsressourcen mit sehr hohen Kosten – die EU rechnet mit 250.000 Euro Integrationskosten pro Einwanderer –, während wir denjenigen, die von weniger als 1,25 US-Dollar Kaufkraft am Tag leben müssen, und das ist immerhin mehr als eine Milliarde Menschen, die kalte Schulter zeigen.

 

NG|FH: Sie sprechen davon – im Anschluss an John Rawls – dass sich die Gerechtigkeitsbegriffe, mit denen wir hantieren, primär auf Systeme der Kooperation beziehen, zwischen Menschen oder Gesellschaften. Könnten Sie diesen Begriff der Kooperation einmal erläutern? Sind angesichts der weltweit gewachsenen, globalen Kooperation Grenzziehungen überhaupt noch gerechtfertigt?

 

Nida-Rümelin: Der Kooperationsbegriff ist für meine praktische Philosophie insgesamt von ganz zentraler Bedeutung. Das hängt zunächst einmal gar nicht mit Rawls zusammen, sondern auch mit rationalitätstheoretischen Überlegungen, an denen ich lange gearbeitet habe. Das ganze Buch ist gewissermaßen nur in diesem größeren Zusammenhang zu sehen, nämlich Kooperation als etwas zu betrachten, was auf der einen Seite die Interessen der beteiligten Individuen respektiert und auf der anderen Seite aber auch bereit ist, die eigenen Interessen hintanzustellen, um eine kooperative Praxis zu etablieren. Mir scheint, Demokratie sollte man als ein Kooperationsgefüge verstehen. Nicht so sehr die Mehrheitsregel steht im Vordergrund, sondern die Bereitschaft, sich gemeinsam ein Institutionengefüge zu geben, innerhalb dessen man kooperieren kann und die Interessen aller gewahrt sind. Mit Kooperation setzen wir uns sowohl von denen ab, die sagen, das Beste sei der globale Markt, die Leute optimierten ihre Interessen und alles würde gut, als auch gegenüber denjenigen, die die Kollektive als das Entscheidende betrachten. Nein, es sind die Individuen, aber Individuen, die miteinander kooperieren.

 

NG|FH: Umfasst der Kooperationsbegriff auch das System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung?

 

Nida-Rümelin: Ja. Und man legt die Axt an dieses normative Fundament, wenn man diese Form der Kooperation über Erwerbsarbeit oder jedenfalls die Bereitschaft zur Erwerbsarbeit, nicht entsprechend gewichtet. Ich nenne hier nur das Stichwort bedingungsloses Grundeinkommen. Erwerbsarbeit bestimmt die soziale Identität von Individuen, die produktive Rolle, die sie in der Gemeinschaft spielen, auch unabhängig von Gehaltsfragen. Dass wir gut leben können und dann jeweils individuell darüber entscheiden, unter welchen politischen Rahmenbedingungen die Verteilung der Früchte der Kooperation tatsächlich erfolgt – das ist doch die Idee der Demokratie. Und diese Idee – das ist der bereits angesprochene Streitpunkt –, ist graduell auszuweiten, über den Nationalstaat hinaus.

Die Europäische Union ist ein weit gediehenes Projekt einer solchen Zusammenarbeit jenseits der Nationalstaaten und ich bin der Auffassung, dass es dringend erforderlich ist, dass wir auch globale Institutionen haben, demokratisch legitimiert und kontrolliert, die ergänzend zu dem, was die Nationalstaaten oder Staatenverbünde leisten, Solidarität im Weltmaßstab organisieren.

 

NG|FH: Aber das kann – wenn ich Sie richtig verstehe – eine abgestufte Solidarität sein?

 

Nida-Rümelin: Genau. Ganz konkret: Die Krise der EU kann man nicht dadurch beheben, dass man ein umfassendes soziales Sicherungssystem einführt, welches alle Unterschiede der kulturellen Traditionen, der Formen, in der Solidarität organisiert ist, auch des erreichten Produktivitätsniveaus einebnet. Das würden die Menschen nicht akzeptieren. Aber ergänzend muss es eine soziale Komponente der europäischen Integration und der Globalisierung geben.

 

NG|FH: In Ihrem Buch schreiben Sie: »ohne Grenzen gibt es keine individuelle, kollektive, staatliche Selbstbestimmung und keine individuelle, kollektive oder staatliche Verantwortung, dann lösen sich die Strukturen der Verantwortungszuschreibungen und der Akteure auf«. Das schließt ein, dass Grenzen unter Umständen auch verteidigt werden müssten.

 

Nida-Rümelin: Auf eine Sache möchte ich hinweisen, die oft unter den Tisch zu fallen scheint: Wenn Menschen zu uns kommen, dann kommen sie, entgegen der Propaganda von rechts, in der Regel nicht, um sich in die sozialen Sicherungssysteme zu begeben. Das tun sie oft de facto mangels Arbeitsmöglichkeit. Ihr Ziel aber ist, den Betrag an Geld, den sie aufgebracht haben, um hierher zu kommen, zurückzuzahlen und zu ihren Familien in relativem Wohlstand zurückzukehren. Aus Scham kehren viele gegenwärtig aber nicht zurück, weil sie merken, dass sie das nicht leisten können. Sie kommen also hierher, um zu arbeiten. Sie können aber hier nur arbeiten, wenn sie eine Aufenthaltsgenehmigung, eine Adresse und Papiere haben. Wenn ein Staat funktioniert, geht es nicht ohne all das. In den USA wird gerätselt, ob elf oder vielleicht 24 Millionen Menschen ohne Papiere im Land sind. Diesen Zustand kann, darf und wird man in Europa nicht zulassen.

Funktionierende Staatlichkeit bedeutet auch, dass Menschen, die hier leben, registriert und gemeldet sind. Wenn das der Fall ist, dann kann auch geklärt werden, ob es einen Asylanspruch gibt, ob ihr Aufenthalt durch die Genfer Flüchtlingskonvention oder durch andere Kriterien gerechtfertigt ist. Wenn das nicht der Fall ist, dann müssen zügig, und nicht erst nach Jahren, wenn die Kinder schon in der Schule sind und fließend Deutsch können und es eine familiäre Katastrophe wäre, auch Abschiebungen als letztes Mittel möglich sein.

 

NG|FH: Und im Zweifelsfall werden dann doch sehr strikte Grenzkontrollen durchgeführt?

 

Nida-Rümelin: Grenzkontrollen halte ich nicht für das Entscheidende. Eine funktionierende Staatlichkeit, das heißt u. a. eine kohärente und zügige Verwaltungs- und Rechtspraxis, legale Arbeitsverhältnisse und Bekämpfung der Schwarzarbeit, all das ist weit wichtiger.

Julian Nida-Rümelin: Über Grenzen denken: Eine Ethik der Migration. Edition Körber-STIFTUNG, Hamburg 2017, 248 S., 20 €.

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