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© picture alliance / Geisler-Fotopress | Christoph Hardt/Geisler-Fotopres

Der erzwungene Abschied von deutschen LebenslügenÜberholtes Geschäftsmodell

Wenn wir heute von »Zeitenwende« sprechen, betrachten wir vor allem die sicherheitspolitische und militärische Dimension des Problems. Drei Jahrzehnte lang hatten die CDU- und SPD-Bundeskanzler Kohl, Schröder und Merkel in unterschiedlichen Koalitionen unter Einbeziehung von FDP und Grünen aus dem Fall der Mauer und der Auflösung des Ostblocks einen eindeutigen, aber nie offen kommunizierten Schluss gezogen: Nach dem Ende des Kalten Krieges sollte für Deutschland die Friedensdividende fällig werden. Das bedeutete: Reduzierung der Wehretats, statt der Wehrpflicht eine immer schlechter ausgestattete Berufsarmee. Bis 2020 widerstand die Bundesrepublik, geführt von Kanzlerin Merkel und Finanzminister Scholz, dem Drängen der USA und anderer NATO-Partner, einen der zentralen Lage und der wirtschaftlichen Leistung Deutschlands angemessenen Verteidigungsbeitrag zu leisten.

Die Regierungserklärung von Kanzler Olaf Scholz vom 27. Februar 2022 mit dem Leitmotiv der »Zeitenwende« hat deshalb den zutreffenden Begriff gewählt. 100 Milliarden als »Sondervermögen« für die Bundeswehr, um die Strukturdefizite in der Ausstattung auszugleichen, die deutliche Erhöhung des Bundeswehretats, um den Zwei-Prozent-Erwartungen der Bündnispartner gerecht zu werden, und zuletzt, nachdem der Ukrainekrieg schon länger als ein halbes Jahr dauerte, die Einladung an andere, sich an einem Sicherheitsschirm für Europa zu beteiligen – das ist wirklich eine radikale Kehrtwende in der deutschen Politik.

Die Ankündigung konnte auch als Eingeständnis verstanden werden, dass Deutschland seinen Wohlstand drei Jahrzehnte lang drei Faktoren verdankte, deren Kombination man im Nachhinein als leichtfertig bezeichnen muss, um nicht von Lebenslüge zu sprechen: billiger Energie aus Russland, einer kaum zu verantwortenden und zu Abhängigkeiten führenden wirtschaftlichen Verschränkung mit China und der Übereignung der eigenen Sicherheit an die USA. Diese drei, in Politik, Medien und Gesellschaft kaum kontrovers diskutierten Grundbedingungen, waren die Grundlage für das neue deutsche Wirtschaftswunder zum Beginn des 21. Jahrhunderts.

Dieses Geschäftsmodell hat sich jetzt überholt. Deutschland muss der militärischen Dimension als staatlicher Aufgabe einen viel höheren Stellenwert einräumen. Die »Zeitenwende« ist nicht nur ein politischer, vor allem sicherheits- und außenpolitischer Paradigmenwechsel, sondern eine Entscheidung mit weitreichenden finanziellen und deshalb gesellschaftlichen Folgen. Die Frage ist, ob für das jahrzehntelang sozusagen pazifistisch sozialisierte Deutschland die Bilder vom ukrainischen Kriegsschauplatz ausreichen, die Folgen einer neuen Sicherheitspolitik zu akzeptieren. Das betrifft sowohl sein politisches Selbstbild, aber auch daraus folgenden Kürzungen in anderen Bereichen beziehungsweise die Erschließung neuer Geldquellen für staatliche Aufgaben. Die Regierenden müssen bereit sein, ihren Bürgerinnen und Bürgern den Preis für die »Zeitenwende« zu erklären – und das in einer Situation sich überlagernder Krisen.

Die »Zeitenwende« muss breit gedacht werden. Sie entfaltet sich vor einer politischen Gemengelage, in der Deutschland nach der Finanzkrise 2008, der Flüchtlingskrise 2015/16 und angesichts der COVID-Pandemie mit dem Aufstieg populistischer Kräfte und Parteien politisch kaum mehr zur Ruhe gekommen ist. Das politische Fazit der späten Merkel-Jahre lautet: Die Form der liberalen, pluralistischen Demokratie überzeugt nicht mehr automatisch.

Im Kern geht es um die Frage, ob Deutschland widerstandsfähig genug ist, seine politische Grundorientierung zu verteidigen oder populistischem Druck nachgibt. Ältere und gefestigtere Demokratien wie die USA, Großbritannien, Frankreich oder Österreich haben ihre Zugeständnisse an den antiglobalistischen und neonationalistischen Zeitgeist schon gemacht, teils mit dramatischen Folgen für das demokratische System, teils geschmeidig, aber nicht minder folgenreich. Überall wirken die gleichen Kräfte: Das westliche Modell, die Mischung von demokratischer Teilhabe, kritischem Diskurs, gesellschaftlicher Vielfalt, wirtschaftlichem Wettbewerb und globalem Handel produziert zu viele Verlierer, macht zu viele heimatlos.

Radikalisierung westlicher Gesellschaften

Zwei Ereignisse waren Alarmzeichen für die Gefahren, die aufgeklärten Gesellschaften drohen. Beide sind im Nachhinein als eine Art gegenaufklärerische Impulse zu interpretieren: die Brexit-Abstimmung im Vereinigten Königreich sowie kurz darauf der Sieg von Donald Trump in den USA nach acht Jahren Barack Obama machten 2016 für die internationale Politik zu einem »annus horribilis«. In beiden Fällen war es ein gewaltiger swing back.

In den USA folgte auf den ersten schwarzen Präsidenten mit seiner intellektuellen Brillanz und demonstrativen Eleganz ein tiefer Absturz in Isolationismus, weitere Reduzierung staatlicher Aufgaben und – am weitreichendsten – die Vergiftung des öffentlichen Klimas durch Verschwörungstheorien. Im Vereinigten Königreich wurde die konservative Partei mit der Brexit-Kampagne zum Instrument gegen die wirtschaftlichen Interessen des eigenen Landes. Mittlerweile ist klar, wie sehr in Großbritannien die EU-Mitgliedschaft als Stabilitätsanker fehlt. Dennoch machte die Brexit-Entscheidung etwas deutlich: Die Mehrheit der Abstimmenden hatte offenbar mehr Angst vor Europa, vor Konkurrenz, vor kultureller Überfremdung, vor dem Ende der britischen Einzigartigkeit als die Vorteile der EU-Mitgliedschaft zu sehen.

Auch wenn dem Populismus in den USA mit den Midterms und in Großbritannien mit den Rücktritten von Boris Johnson und Liz Truss die Spitze gebrochen zu sein scheint, bleibt ein Grundschema der Radikalisierung westlicher Gesellschaften. Immer geht es um die Frage, wem Globalisierungserfolge zugutekommen, in welchem Verhältnis Stadt und Land zueinanderstehen, wie die Fragen von Zuwanderung und Sicherheit verhandelt werden. Irgendein Sündenbock findet sich immer, irgendein Opfernarrativ fällt auf fruchtbaren Boden.

Trotz Milliardensubventionen für die Landwirtschaft und regionale Strukturhilfen scheint es auch der EU immer schlechter zu gelingen, die Kluft zwischen den großen ländlichen Räumen und den Metropolen auszugleichen. Die Wahlerfolge der Rechtsextremen in Schweden und Italien im Herbst 2022 bestätigen den Mechanismus. So zeichnet sich eine neue, starke Achse von nationalistischen Kräften in der EU ab. Diese wollen so viel Geld wie möglich aus der EU herausholen, aber den politischen Einigungsprozess begrenzen. Anti-Germanismus als Spielart des eigenen Nationalismus funktioniert dort als Klammer überall.

Die liberale Demokratie als die Form der aufgeklärten Weltbürger, die Gesellschaft zu organisieren, ist für viele nicht mehr überzeugend. Sie wird im Gegenteil als ausgrenzend und als Bedrohung wahrgenommen – als die Verteidigung fremder und nicht der eigenen Interessen. Nationalismus und Antimoderne sind eine starke Versuchung, ein starkes Gift – wie auch die neuesten Umfragezahlen und Wahlergebnisse in Deutschland zeigen.

In Niedersachsen ging eine lange anhaltende Serie von Wahlverlusten für die AfD zu Ende – trotz offenkundiger parteiinterner Schwierigkeiten konnte die rechtsextreme Partei ihr Ergebnis dort fast verdoppeln. Sie wird immer mehr zur Protestpartei gegen die jeweils aktuellste Zumutung – jetzt die Angst, sich wegen steigender Energiepreise und Inflation das Leben nicht mehr leisten zu können. Den Hilfsversprechen des Staates trauten ihre Wählerinnen und Wähler nicht. Russlandfreundliche Bots tun ein Übriges, um das politische Klima zu beeinflussen. Auch in Sachsen oder Thüringen ist die Gefahr nicht gebannt – im Gegenteil. Die AfD könnte dort bei den anstehenden Landtagswahlen zur stärksten Partei werden und Koalitionen um den Preis der Selbstmissachtung erzwingen.

Gesellschaften werden von innen heraus geschwächt und von außen angegriffen: Die sogenannten sozialen Medien sind das Schlachtfeld in einem virtuellen hybriden Krieg gegen die Demokratie. Auch das Umfeld für öffentlich-rechtlichen Journalismus ist schwieriger geworden. Die Verachtung demokratischer Institutionen als Kern des Populismus trifft auch sie. Unbestreitbare Programmerfolge wie während der Coronakrise mit kaum mehr für möglich gehaltenen Einschaltquoten und Zustimmungsraten werden dem System nicht gutgeschrieben, sondern erscheinen irgendwie selbstverständlich.

Auch Parteien in der Mitte haben keine Schwierigkeiten, sich den Kritikern anzuschließen und die Qualität der Programme als selbstverständlich vorauszusetzen, aber Teile der so eingängigen Polemik gegen die Öffentlich-Rechtlichen zu übernehmen und gleichzeitig mit den für die Weiterentwicklung notwendigen Mitteln zu geizen. Man kann nicht gleichzeitig eine kompetente Berichterstattung auf vielen Plattformen erwarten und sich dann über die Zahl von Korrespondentinnen und Korrespondenten auf einem Parteitag beschweren, wie das Friedrich Merz in einer nicht sehr geschickten Anwandlung beim letzten CDU-Parteitag getan hat.

Die Angriffe auf die Demokratie werden von vielen Seiten geführt und die Gegenwehr ist zu schwach. Auf diesem Schlachtfeld braucht es starke Analysekräfte, die die Angriffe erkennen und aufdecken, starke Abwehr, wenn es um Cyberangriffe auf unsere Infrastruktur, Unternehmen oder Medien geht, und aufklärerischen Inhalt. ARD und ZDF brauchen – ganz unabhängig von notwendigen inneren Reformen, einer besseren Sortierung ihrer Kanäle und mehr Professionalität in ihren Aufsichtsorganen – mehr Mittel, um journalistisch-aufklärerische Inhalte dort anbieten zu können, wo der Angriff auf die Demokratie erfolgt – auf den sogenannten Drittplattformen. Umschichtungen aus dem bisherigen linearen Programm allein werden dafür nicht reichen, um ein Gegengewicht zu den demokratiefeindlichen skeptischen Kräften zu bilden. ARD und ZDF müssen besser für diese Aufgabe gerüstet werden.

Der Traum ist ausgeträumt

Mit dem Krieg in der Ukraine, mit der Ankündigung der »Zeitenwende« befinden sich Europa und Deutschland an einem politischen Wendepunkt, vergleichbar nur mit den großen Wegmarken der Nachkriegsgeschichte. Der Traum vom »gemeinsamen Haus Europa«, der gerade in Deutschland von so vielen mitgeträumt wurde, ist mit der Aggression Russlands auf dem Kontinent, mit dem Verstoß gegen Grundwerte wie die Achtung der territorialen Integrität souveräner Staaten, realistisch betrachtet für Jahrzehnte ausgeträumt.

Unter dem Druck des Aufstiegs der neuen Autokratien wird sich ein größer gewordenes Europa, einschließlich der Ukraine, stärker mit den USA verbünden und sich dabei gleichzeitig für den Fall wappnen müssen, dass diese USA noch einmal in die Hände neonationalistischer, an Westeuropa wenig interessierter Kräfte fallen. Dass am Ende des Kriegs eine neue, nach Westen verschobene Ostgrenze der Ukraine das Land de facto teilen wird, wird Europa auf Jahrzehnte hin nicht sicherer machen.

Das alles setzt auch die Pro-Europäer bei uns unter Druck. Europa muss stärker werden. Doch wie kann man eine vom Diskurs der Wehrhaftigkeit völlig entwöhnte Generation mitnehmen? Die Nach-Babyboomer, die keine eigene Erinnerung an zugespitzte sicherheitspolitische Eskalationen wie die Kubakrise, den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan, den Kampf um die NATO-Nachrüstung haben, werden nicht einfach bereit sein, ihre politischen Anliegen auf übermorgen zu verschieben, nur weil der Kanzler plötzlich eine Ansage von oben macht. Um die Gesellschaft zusammenzuhalten, muss die »Zeitenwende« deshalb mehr umfassen als einen gestiegenen Wehretat und die Bereitschaft, Europa auch mit deutschen Waffen in der Ukraine zu verteidigen und zu mehr sicherheitspolitischer Zusammenarbeit mit Frankreich zu kommen.

»Zeitenwende« muss, um mehrheitsfähig zu bleiben, vielschichtig sein – Europa und den Fortschritt Europas immer mitdenken. Sie muss Europa und seine Grundwerte proaktiv verteidigen, gemeinsame demokratische Stärke gegen die Vorstellung einer gigantischen, aber unpolitischen Umverteilungs- und Selbstbedienungsmaschine setzen. Für die EU kann es nur eine Konsequenz geben: näher an die Interessen der Menschen heranzurücken und zu erklären, dass es im Sinne von Emmanuel Macron um ein »Europa, das schützt« geht. Das bedeutet eben nicht nur viele Milliarden für einen neuen Sicherheitsbegriff, einschließlich der Abwehr von Cyberangriffen aufzubringen, sondern auch den effektiven Kampf gegen den Klimawandel, bessere Bildung und Digitalisierung, die Generalüberholung der Infrastruktur, um den Stadt-Land-Konflikt zu überwinden, zu ermöglichen.

Wir stehen also keineswegs am »Ende der Geschichte«, sondern am Beginn eines neuen Kapitels, das von globalen Spannungen, Rivalitäten, neuen Blöcken, neuen Autonomiebestrebungen und anhaltender Ungewissheit gekennzeichnet sein wird. Für das Brückenland Deutschland endet damit seine Sonderrolle als wirtschaftliche Supermacht über politische und gesellschaftliche Systeme hinweg. Wer den Schutz der Amerikaner braucht, der wird sich künftig weder in Bezug auf Russland noch auf China Sonderwege leisten können. Es geht um die Revision eines Wirtschaftsmodells, das Globalisierung nicht nur handelspolitisch, sondern auch im Blick auf kostenreduzierende Standortverlagerungen auf die Spitze getrieben hat. Wie unter dem Vorzeichen von größerer Abgrenzung, kleiner Märkte und notwendiger Eigenständigkeit Europas der deutsche Wohlstand und damit der Zusammenhalt der deutschen Gesellschaft gerettet werden kann, ist die große Frage.

Das kann nur unter zwei Voraussetzungen gelingen: Erstens: Deutschland muss Europa mehr als in der Vergangenheit und mehr als im ersten Jahr der Kanzlerschaft von Olaf Scholz als sein Projekt und seinen Handlungsrahmen ansehen. Mehr Mitgliedsländer, ein noch größerer Binnenmarkt – das wird der Exportnation nutzen. Deshalb ist es richtig, die Integration der südosteuropäischen Länder des Balkans voranzutreiben. Deutschland muss seine Kraft für mehr Integration, mehr Solidarität, mehr grundsätzliche Klarheit in Sachen unverhandelbarer Werte nutzen. Die EU darf keine Gemeinschaft von vor allem an Geld aus den Gemeinschaftstöpfen interessierten Egoisten werden – und das gilt auch für das größte Mitgliedsland.

Zweitens: Trotz allen Drucks, die Verteidigungsausgaben zu steigern, darf gesellschaftlicher Ausgleich als staatliche Aufgabe nicht aus den Augen verloren werden. Es geht dabei nicht nur um eine im materiellen Sinne gerechte Verteilung. Es geht vor allem darum, auf ineinandergeschobene Krisen komplexe Antworten zu geben. Der Klimawandel und eine von ihm mehr als von allem anderen getriebene Generation dulden keinen Aufschub. Eine gereizte, immer noch von Ost-West-, materiellen oder kulturellen Gegensätzen geprägte Gesellschaft braucht vor allem Sicherheit. Dafür darf dem Staat kein Einsatz zu hoch, kein Tabu unverletzbar sein.

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