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Heide Simonis, die erste deutsche Ministerpräsidentin, wird 75 »Um die Verhältnisse zu ändern, braucht man Macht«

Es waren noch zwei Tage bis zu meinem 19. Geburtstag als die 50-jährige Heide Simonis am 19. Mai 1993 in Schleswig-Holstein zur ersten Ministerpräsidentin eines deutschen Bundeslandes gewählt wurde, nachdem sie dort bereits fünf Jahre Finanzministerin gewesen war. Ich begann in dieser Zeit gerade mein Studium zur Finanzwirtin in Brandenburg.

Es war die Zeit des noch jungen wiedervereinigten Deutschlands. 1993 herrschte Aufbruchsstimmung, aber auch Verunsicherung. Im Osten Deutschlands waren die Regierungsbezirke aufgelöst und die Länder wieder eingeführt worden, wie es sie vor dem Bestehen der DDR gab. Für die Staaten der Europäischen Gemeinschaft trat der Europäische Binnenmarkt in Kraft. Im ehemaligen Jugoslawien tobte immer noch der Krieg und aus allen Ecken Deutschlands erreichten uns verstörende Bilder von rassistisch motivierten Gewalttaten, so z. B. von dem Brandanschlag auf ein Zweifamilienhaus in Solingen, dem fünf Menschen zum Opfer fielen, und der die Serie aus pogromartigen Übergriffen der Vorjahre in Hoyerswerda (1991), Rostock und Mölln (beide 1992) fortsetzte.

Heide Simonis sagte stets, dass auch Schleswig-Holstein von der Öffnung des »Eisernen Vorhangs« profitieren konnte. So näherte sich das Land den baltischen Staaten und auch Osteuropa an.

Ein Skandal brachte sie an die Macht: Ihr Vorgänger Björn Engholm musste als eine der Spätfolgen der Barschel/Pfeiffer-Affäre zurücktreten. Und so sagte Heide Simonis selbst, dass in der Politik eine Frau immer erst dann ins Amt gehoben würde, wenn es zuvor einen Mann kräftig aus der Kurve getragen habe. Eine These, die sich später auch bei anderen Politikerinnen bestätigen sollte. Anfangs musste sie gegen viel Argwohn und Skepsis ankämpfen – als erste Ministerpräsidentin. Da kannten viele noch nicht einmal die weibliche Endung der Amtsbezeichnung »Präsident«. Weiblichkeit wirke immer noch wie ein Defekt, der durch besondere Leistungsfähigkeit überkompensiert werden müsse, sagte sie. Aus ihrer Weiblichkeit hat sie allerdings nie einen Hehl gemacht – im Gegenteil: So waren etwa ihre Hüte legendär und sehr weiblich.

Mit ihrer erfrischend schnoddrigen Art und den preußischen Tugenden, die sie wohl von ihrem Vater geerbt hatte – wie sie selbst beschrieb – wurde sie schnell zu einer der beliebtesten Politikerinnen der Republik. Was Regine Hildebrandt für viele Menschen und vor allem für viele Frauen in Brandenburg war, war Heide Simonis in ihrer aktiven politischen Zeit in Schleswig-Holstein. Eine Frau, die das sagte, was ihr in den Kopf kam, auch wenn es nicht jedem gefiel. Sie ist authentisch und nicht biegsam. Heide Simonis hat den Leuten nicht nach dem Mund geredet, wohl aber immer mit ihnen geredet.

Ihre Sorge ging stets über die Landespolitik hinaus: Die Schere zwischen Arm und Reich, Nord und Süd thematisierte sie ebenso häufig und engagiert wie die Umweltprobleme, das Wachsen der Weltbevölkerung oder den Hunger in der Welt.

Sie war stets die Erste

Für uns Frauen hat Heide Simonis mutig eine Schneise geschlagen, sie hat das Bild der Frau in der Politik geprägt und Geschichte geschrieben. 1943 die erste von drei Töchtern, 1976 die jüngste Abgeordnete im Bundestag und die erste Frau im Haushaltsausschuss. 1988 holte Björn Engholm sie als erste SPD-Landesfinanzministerin in sein Kabinett. Sie war die erste Regierungschefin eines Landes und zuletzt die erste Ehrenbürgerin Schleswig-Holsteins. Von 1988 bis 1991 sowie von 1993 bis 2005 gehörte sie dem SPD-Bundesvorstand an.

»Um die Verhältnisse zu ändern, braucht man Macht«, sagte sie. Zwölf Jahre war Heide Simonis die einzige Frau Unter Männern, eine Erfahrung, die auch zum Titel eines Buches über ihr Leben geworden ist. Bis heute haben diese Gestaltungsmacht nur wenige Frauen in der Politik.

Derzeit regieren in zwei von 16 Bundesländern Frauen. Beide gehören der SPD an. Eine nur unwesentliche Erhöhung des Frauenanteils in den letzten 25 Jahren. Ernüchternd ist der Blick auf die Gesamtzahl: Von 168 Personen, die seit 1945 in Deutschland an der Regierungsspitze eines Bundeslandes standen (inkl. der kommissarischen) waren bis heute lediglich sechs Frauen; in Thüringen: Christine Lieberknecht, in Nordrhein-Westfalen: Hannelore Kraft, im Saarland: Annegret Kramp-Karrenbauer, in Rheinland-Pfalz: Malu Dreyer – und ich seit 2017 in Mecklenburg-Vorpommern. Und eben Heide Simonis in Schleswig-Holstein.

Heide Simonis bezeichnete sich selbst als frauenpolitische Blindgängerin und war in meinen Augen das Gegenteil. Im Jahr 2000 gehörten ihrer Regierung in Kiel erstmals in Deutschland mehr Frauen als Männer an. Sie wollte beweisen, dass man mit vielen Frauen gute Politik machen kann. Streitlust und Entschlossenheit gehörten dazu.

Sie war dafür, das Ehegattensplitting auf eine direkte Familienförderung umzulenken, also für Familien mit Kindern. Sie stand für die Ganztagsbetreuung von der Kita bis zur Ganztagsschule. Skandinavien nahm sie sich als Beispiel.

In ihrem Buch Unter Männern. Mein Leben in der Politik von 2003 appelliert sie, nicht lustlos und zaghaft zu sein. Bereits damals warnte sie vor negativen Entwicklungen und präsentierte entsprechende Rezepte: »Mehr Ehrlichkeit in der Politik ist auch eine Chance der verbreiteten Politikverdrossenheit entgegenzuwirken, die auf Dauer für die Demokratie gefährlich werden kann.« Und: »In diesem Beruf darf man vielleicht nicht zu früh weise werden.«

Vieles hat sich bis heute geändert, aber vieles von der von Heide Simonis erfahrenen und beschriebenen Lebensrealität eben auch nicht. Noch immer wird Politik in Hinterzimmern gemacht, dominiert von Männern, in nicht offiziellen Runden. Heide Simonis hat sich dafür entschieden mitzumachen und vielen Frauen vorgeworfen »ihre Krallen einzufahren« und zu früh nach Hause zu gehen. Heute thematisieren Frauen in der Politik selbstbewusster das Thema Vereinbarkeit, auch wenn wir damit noch ganz am Anfang stehen.

Mit zunehmender Erfahrung sah sie auch die Quote als notwendiges Instrument für mehr Beteiligung von Frauen. Dies hielt sie auch der Frauenbewegung zugute.

Sie selbst sah sich nie als Teil davon. Das ist ein Aspekt, den ich sehr schade finde. Denn erfolgreiche Frauen brauchen die Frauenbewegung und die Frauenbewegung braucht erfolgreiche Frauen. Das heißt nicht, dass alle immer einer Meinung sein müssen, aber zusammen erreichen wir immer mehr.

1969 ging sie wegen Willy Brandt in die SPD, der damals die Partei für die 68er öffnete und die Förderung von jungen Frauen in der SPD zum Ziel hatte. Und so kam Heide ziemlich schnell auf die Listen für Kommunal-, Landtags- und Bundestagswahlen.

Die Fragen nach der Gerechtigkeit in der »Einen Welt« bildeten das ausschlaggebende Thema, warum sie in die SPD eintrat, nachdem sie mit ihrem Ehemann u. a. in der Entwicklungszusammenarbeit in Afrika gearbeitet hatte. Sie hat stets ihre Betroffenheit in Politik und Engagement umgesetzt und sich immer für Minderheiten stark gemacht. »Und wenn Sie da nicht anfangen nachzudenken über die Welt als solche, dann haben Sie ein Herz aus Stein.« Und zur Lage der Geflüchteten sagte sie: Wenn so etwas passiere, »was das Leben der Menschen so umwirbelt, und so viel Ungerechtigkeit hat und auch so viel Gemeinheit, dann – denke ich – tritt man von allein in eine Partei ein«.

In sechs Anläufen, mit »solider Sturheit« (Andrea Nahles) hat Heide versucht, die Sinti und Roma als Minderheit in die Landesverfassung aufzunehmen. 2012 ist dies realisiert worden. Ein Status, der besonderen Schutz und besondere Förderung bedeutet. Zu diesem Zeitpunkt war Heide Simonis schon sieben Jahre keine Ministerpräsidentin mehr. Am 17. März 2005 konnte sie im Kieler Landtag nicht die erforderliche Stimmenmehrheit auf sich vereinen. In vier geheimen Wahlgängen scheiterte sie knapp. Bis heute weiß niemand, wer ihr die Stimme verweigerte und aus welchem Grund. Es war ein Moment, der die volle Brutalität öffentlich sichtbar machte, die es zuweilen in der Politik gibt. Es war ein Moment, der ihrer politischen Lebensleistung nicht gerecht wurde. Danach zog sich Heide Simonis aus der Politik zurück.

Noch längst nicht am Ziel

Ich würde an dieser Stelle gern schreiben, dass sich bis heute alles zum Guten geändert hat, Frauen gleichberechtigt teilhaben, sowohl in der Politik als auch in der Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft und den Medien. Dem ist aber nicht so. Im Gegenteil: Seit dem Einzug der AfD in den deutschen Bundestag werden Frauenrechte wieder infrage gestellt. Im Bundestag ist der Frauenanteil geschrumpft und so niedrig wie seit knapp 20 Jahren nicht mehr.

Leider müssen wir auch in der SPD feststellen, dass uns immer weniger Wählerinnen vertrauen und sich viele Frauen von der SPD und in der SPD nicht angesprochen fühlen. Bei der Bundestagswahl 1998 haben noch 41 % der Frauen ihr Kreuz bei der SPD gemacht, am 24. September 2017 waren es nur noch 21 %. Besonders verheerend: Von den 18- bis 44-jährigen Frauen haben nur noch 18 % für die SPD gestimmt. Und die größten Verluste fuhr die SPD bei den Frauen im Alter zwischen 45 und 59 Jahren ein – in dieser Gruppe erhielt sie sechs Prozentpunkte weniger, als noch bei der letzten Bundestagswahl. Auf unseren Regionalkonferenzen im Herbst 2017 – ob in Berlin, Baden-Württemberg, im Saarland oder in Rheinland-Pfalz – waren wesentlich weniger Frauen präsent als Männer. Daher wird die Mitnahme und Ansprache von Frauen ein wesentlicher Teil des Erneuerungsprozesses der SPD sein müssen.

Wir müssen wieder mehr die Lebensrealitäten von Frauen in den Blick nehmen. Besondere Aufmerksamkeit müssen wir der Tatsache widmen, dass Berufe, in denen mehrheitlich Frauen tätig sind, wie den Büro- und Sekretariatsberufen oder im Verkauf, auch von der Digitalisierung betroffen sind und zunehmend betroffen sein werden. Gleichzeitig sind Frauen in den sogenannten MINT-Berufen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) weiterhin unterrepräsentiert, also gerade in den Bereichen, die an wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Bedeutung gewinnen werden. Wir müssen uns stärker damit auseinandersetzen, warum Frauen und auch junge Menschen aus der aktiven Parteiarbeit aussteigen und warum so wenige Frauen in Ämter und Mandate aufsteigen. Um gewährleisten zu können, dass Frauen auf allen Ebenen der Partei repräsentiert sind, richten wir in einem ersten Schritt eine Stabstelle Gleichstellung beim Generalsekretär ein. Anfang des Jahres wurde bereits die Doppelspitze im Ortsverein ermöglicht.

Auf allen Ebenen unserer Partei gibt es Frauen, die sich eine aktivere Rolle in der SPD vorstellen können oder sogar wünschen. Oft werden sie durch verkrustete und männliche Strukturen in der Partei in ihrem Engagement gebremst oder sogar abgeschreckt. Um diesen Strukturen zu begegnen, müssen Frauen stärker zusammenhalten. Sie stoßen bis heute an Grenzen des Verständnisses, wenn es um Teilhabe und mehr Beteiligung geht. Aber nur mit Frauen in all ihrer Vielfalt und Lebenserfahrung werden wir als Volkspartei bestehen können. Heide Simonis hat es uns vorgemacht.

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